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Full text of "Historische Zeitschrift"

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3262# 


Hiforifhe Zeitſchrift. 


Heinrich v. Sybel und Sriedrih Meinche. 


Der ganzen Reihe 75. Band. 
Neue Folge 39. Band. 


Münden und TFeipgig 1895. 
Drud und Verlag von R. Oldenbourg. 





Inhalt 


Auffäse. . 


Aus dem hellenifchen Mittelalter. Bon Robert Böhlmanı . . 
Die ftädtiiche Verwaltung bed Mittelalterd als Vorbitd der ſputeren 
Territorialverwaltung. Von Georg v. Bel 
Römiſche Nuntiaturberichte als Quellen der da. des Köfnifchen 
Kriege. Bon Mar Loſſen 
griebri Wilhelm I. und Leopold" von Anhalt. Von Otio Krauske 
önig a milbem II DO. und bie Geneſis des Friedens von Bafel. 
on Baul Bai . 
Bur Beihichte er Begrlndung der. ſczweriſchemorwegiſchen Union. Von 
ch .. 
Neue Mittheilungen und Erläuterungen zur Begründun, des Deutſchen 
Reiches durch Wilhelm J. Von Heinrich v. Sybel . . 
Heinrich v. Sybel ̃. Bon R. Oldenbourg sen.. 


Heinrich v. Sybel FT. Bon Friedrich Meinecke 
Miscellen. 
Bur Borgeiiicte der Schlacht von Albe (Tagliacozzo). Bon Ernſt 
adur 


Das vermeintliche Schreiben Wiclifs an Urban VI. und einige vers 
Fa een Wielif's aus feinen legten Lebenstagen. 
oſert 
Radıtron zu ber Abhandlung , „Unterfuchungen über die plätze 
it .. 


olitit zc.” Bon M ter 
Literaturberidt. 
Seite 
Geſchichtsphiloſophie... 277 Altchriſtliches .. 
Bolitit. -. . 2 2 121386 Kumifh-germanifche Belt. 
Alte Geſchichte: ' Mittelalter: 
Allgemeined . „ . .„ 282. 481 Rechtsgeſchichte 106. 
Serad . » 2 2 2 20. 278 Eluniacenfer; Inveftturfteit 
Sicien - - - 2 2 0. 284 Väpite . . 109. 


IV 


Interregnum . 

Rudolf von Habsburg. 

15. Jahrhundert . 

gumaniamud 

etten . 

Reformationdzeit .. 
Dreißigjähriger Krieg 110. 
Beitalter der abfoluten Monarchie: 

Großer Kurfürft 

Rifola . 

Leibniz und Muratori 

Deutiche Literatur . 

VHyfiofraten . 
19. Jahrhundert: 

Montgelas 

Hannover . 

Thielmayn 

Gervinus . . 

Beit Friedrich Wilhelm's IV. 
Deutiche Sandichaften: 

Reichenau . . 

Worms 


118. 


Anhalt 
Eeite | Seite 
108| Köln 130 
500 | Werden 181 
503 | Magdeburg 133 
5051 Medlenburg . 135 
109| Bannover . 126 
296 | Baiern 619 
507 | Öfterreidh . 137 

Frankreich 
510 Univerfiiät Paris 318 
3501| Revolution . . 623 
514 | England Allgemeines u. 2 Miitel⸗ 
121 alter . 
124 | Stalien: 

Mittelalter . 324 

5619| 19. Zaprdundert . 388 
126 | Spanien (18. u. 19. Yadıh.) . 340 
129 | Berfien (16. Sahrbunbert) 297 
306 | Sübamerila . . 344 
808 ' Funftgeichichte 846. 526 

| Univerfitäten . 136. 318 
292 | Schulweien . . . 303 
293 | Rationalöfonomit . 100 


Alpbabetildes Be der beſprochenen Schriften.) 


Albert, Les Grecs & Rome 
Alexandri Lycopol. contra 
Manichaei opin. disputatio 
ed. Brinkmann . 
Undreae, Geld. d. Jagd im 
Taunus . . 
Armstro ng, Elisab. Farnese 
Ashley,Introductionto Engl. 
economic hist. and theory. 
l,2.ed,D. . . 
Auson, Law and Custom of 
the Constitution. 1.2. ed, U. 
Baar, Studien über den get. 
Unterridt an d. höh. Lehr⸗ 
anftalten d. Auslandes . . 
Bahmann, Deutihe Reichs⸗ 
geihichte im Zeitalter Sie 
rich's III. u. Mar I. 
Baumgartner, Die Sefnitene 
republik in Baraguay 
v. Bezold u. Riehl, D. Kunfte 
denfmale d. Königr. Baiern. I. 


Seite 
164 Biermann, ei d. derzogth. 
Teſchen. 2. Aufl. 
Binterim u. Mooren, Die 
Erzdiöcefe Köln. I. I. . 
. Böhmische Landtagsverhandl. u. 
187 ⸗Beſchlüſſe. VII. . 138 
341 Böhtlingt, Der Raftatter Ger 
jandtenmord vor dem Karla» 
1 46 ruher Schöffengericht 378 
Boissier, L'’Afrique Romaine 360 
152:8008, Monum. Wormatiensia 
| (Duellen 3. Geſch. der Stadt 
Worms. ID 
ya | Bulfert, Das Interim 
rttemberg . . 
Bourgeois, Alberoni, Lettres 
508 | intimes adressdes au comte 
J. Rocca. . . 340 
344 Brandi, Chronik des Gallus 


bem (Quellen 
346 ðeſch — Heiden I) 


130 





.. 293 
in 
372 


292 


s, Enthält auch die in den Notigen und Nachrichten befprochenen felbftänbigen Schriften. 





VI 


Kawerau f. Möller. 
Kempf, Geichichte d. deutichen 
Reiches während des Inter⸗ 


Der „Neue rengon“ 

in Schlefien. (1556 —1624 

Kleinwädter, Der —* 
Reformationsverſuch von 1842 
bis 1543 . 

Knie, Karl Friedr. 3 v. Baden 
briefl. Verkehr mit Mirabeau 
u. Dupont. I. U. 

Krebs, Franzoſiſche Staats⸗ 
gefangene in ſchleſ. Feſtungen 

Kuenen, Geſammelte Abhand⸗ 
lungen zur Bibl. Wiſſenſch.. 

Lamperti opera rec. Holder- 
Egger 

Land et eh r, 3, Siesenpokititä: Fried. 

Wilh., 

LegesVisigoterü antiquioren, 
ed. Zeumer . . .. 

Lehrs j. Ludmwid) 

Lenel, Studien z. Geſch Paduas 
u. Veronas im 18. Jahrh. 
se onomw, Geheime Dohumente 

d. ruſſ. Drient.: ⸗Politik 1882 
bi3 1890 . 
ei Das deutſche Nanonal- 


efühl . 
gipfins, . Griech. Studien. 
Lobeck, ſ. Ludwich. 
Sorengen, Die ſchwed. Armee 
im 30jähr. Kriege und ihre 
‚ obanfung 
uägersäßlte Briefe 


Ludwich, 
von u. an Chr. A. Lobeck u. 
K. Lehrs. I. I. . 
Maccari, lIstoria del "Re 


Giannino di Francia ,. 
Maeterlinck, Ruysbroeck 
and the Mystics . 
Maitland, Memoranda de 

Parliamento | 
Matomwer, Berfaffung d. Kirche 
von Englan nd 
Manitius, Seid. d. wiiſtich 
latein. Boefie . .. 
Mazzi, Il tesoro dun re . 
Bedienburgifged Urkundenbud). 
VI 


Mehlis, Studien ; älteften 
Seid. d. Rheinlane. XU. 


Inhalt. 


Seite 
Meinardus, Protokolle und 
Relationen d. brandenb. Geh. 
Rathes aus d. Zeit d. Kur⸗ 
108) fürſten Friedr. Wilh. II. III. 


Meyer v. Knonau, Jahrb. 
d. Deutſchen Reichs unter Hein⸗ 
rich IV. u. deinric V. Lu. 

Mittdeilungen aus d. Batilan. 
Ardiv. 

Möller, Lehrbuch der Kirchen» 
geſch. II., bearb. von @uftav 
Kamwerau . . 

Müller, W., Zob. Leop. v. Hay 

Müller, H., Bild. Kaulbach. I. 

Neumwirth, Geſch. d. bildenden 


2735| Kunft in Böhmen vom Tode 
Wenzel's III. bis au den 
498 Hufiientriegen. Il . 
Norrenberg, Die bl. Irm⸗ 
18| gardis v. Südteln. . . 
Oman, Warwick the King- 
106| maker. . 
Ompteda, Irrfahrten u. Aben⸗ 
teuer end mittelftaatlihen 
336) Diplom 
Opel, Der ber bänt 
che Krie eg. III. 
186 Paolucci, L’origine dei co- 


muni di Milano e di Roma 
866 |v. Beter&dorff, General von 
Thielmann 
Piccolomini, in monte dei 
Paschi di Siena. I—-IV. . 
Pollock, Introduction to the 
hist. ofthe science of politics 
Pribram, Liſola . . 
Die bit. Stellung der adziwili 
Rathlef, Bismarck u. Öſterreich 
bis 1866 
Redlich, Eine Wiener Brief⸗ 
ſamml. z. „acid d. deutſchen 
Reichs u. d. öſterr. Ränder in 
d. zweiten Hälfte d. d. 13. Jahrh. 
Reinach, La Franceetl!'Italie 
devant |'histoire . 
Reindell, Doktor Benceslaus 
Lind von Colditz. 
290 Reuſch, Beiträge ir Seid, d. 
325 Jeſuitenordens 
Ricasoli, Lettere e docu- 
135| menti. VID. 
Riehl, utſche u u. ital. Kun 
charaltere.. 


510 





Römiſche Nuntiaturberichte als Quellen der Geſchichte 
des Koluiſchen Kriegs. 
Bon 


Max Loffen. 


— 


Im Vorwort meiner Vorgeſchichte des Kölnischen Krieges, 
Dezember 1881, hatte ich die Erwartung ausgefprochen, daß in 
den nächſten Jahren noch mancherlei neue Duellenmaterial für 
die Gejchichte diejed Krieges zum Druck gelangen werde. Dabei 
dachte ich an allerhand mögliche oder wahrjcheinliche Publikationen 
aus beutichen und fremden Archiven, aber gewiß nicht daran, 
daß jchon in nächſter Zeit faſt überreiche Quellen zur deutjchen 
Geſchichte im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation 
aus den Archiven des Vatikans fich ergießen würden. 

Treilih Hatte Schon im Jahre vorher Papit Leo XIII. den 
„von wiſſenſchaftlicher Begeifterung, wie von ftaat3männifcher 
Einficht zeugenden Entſchluß“!) gefaßt, diefe Archive gejchichtlicher 
Forſchung zu Öffnen; doch verging immerhin einige Zeit, bis die 
Geſchichtsforſcher und ihnen folgend die fremden Regierungen ſo— 
viel Vertrauen in die Stetigfeit dieſes Entichluffes gewannen, 
daß fie ausgiebigen Gebrauch davon machten. Dann aber, Ende 
der achtziger Jahre, fing man an, ſich faft zu drängen und zu 
jtoßen, um einander das Beſte vorwegzunehmen. Zu diejem 


V Worte v. Sybel’8 im Borwort zu dem Gefammtunternehmen ber 
Nuntiaturberichte aus Deutichland* 1,1. Gotha 1892. 
OtReriiche Beitichrift N. 5. Be. XXXIX. 


2 M. Loſſen, 


Beiten rechnete man offenbar die Nuntiaturberichte des. 16 Jahr: 
hundert3, denn um ihre Veröffentlichung ftritten jich alsbald Die 
beiden eigens für die Ausbeutung der vatikaniſchen Archive errichteten 
hiftorischen Institute in Rom, das djterreichifche und das preußifche, 
bis fie Schließlich unter einander und mit einem ihnen beiden 
zuvorgefommenen Privatinftitut, der Görres- Gefellichaft, ſchiedlich 
friedlich fich derart in die Beute theilten, daß dem preußiichen 
Institut die Nuntiaturberichte aus den Jahren 1533 bis 59 und 
dann wieder die von 1572 bis 85 zufielen, die zwiſchenliegende 
und die nachfolgende Zeit aber den beiden Rivalen. 

Die Sahre 1572 bis 85, das iſt die Berichte der Nuntien 
des Pontifikats Gregor's XIII., übernahm zunächſt Dr. Joſeph 
Hanſen, damals Aſſiſtent am preußiſchen Inſtitut, jetzt Stadt⸗ 
archivar zu Köln, und förderte, ein ungewöhnlich raſcher und 
gewandter Arbeiter, das Werk ſo, daß heute, nach etwa fünf 
Jahren, bereits zwei ſtarke Bände gedruckt vorliegen.!) 

Als Hanſen feine Arbeit begann, trat er mit mir in Ver—⸗ 
bindung. Da meine Gejchichte des Kölnischen Krieges jo breit 
angelegt ift, daß nahezu die ganze Geichichte der Gegenreformation 
auf deutichem Boden mit ihr verwebt erjcheint, mußte ich natür: 
li auch die Stellung der römischen Kurie und ihrer Vertreter, 
der Nuntien, fortwährend im Auge haben. Gegenfeitige Hand: 
reihung auf dem ineinander greifenden Arbeitögebiet lag im 
wohlverftandenen beiderjeitigen Intereſſe. Gern erbot ich mid) 
deshalb, Herrn Dr. Hanjen mit jeder nur möglichen Auskunft 
zu unterftügen. Er jeinerjeit3 fam meinem Wunſche entgegen, 
indem er die auf den Kölnischen Krieg unmittelbar fich beziehenden 
Ntuntiaturberichte zuerjt herausgab, andere lofer damit zuſammen⸗ 
hängende aber einem zweiten Bande zutheilte.?) 


ı) Nuntiaturberihte aus Deutfchland. III. Abthlg. 1572 — 16885. 
1. Band: Der Kampf um Köln 1576—1584. 2. Band: Der Reichstag zu 
Regensburg 1576, der Bazififationstag zu Köln 1579, der Reichstag zu 
Augsburg 1582. Im Auftrage des fgl. preuß. biftorifchen Inſtituts in Rom 
bearbeitet von Joſephh Hanfen. Berlin, U. Bath. 1892 und 189. Bd. 1 
LXVI u. 802 ©., Bd. 2 XCIUI u. 679 ©. 

”) Auf diefe Vereinbarung bezieht ſich folgende Bemerkung in dem vor⸗ 
Hin erwähnten Vorwort v. Sybel’8: „Auf eine von Außen gelommene An⸗ 





4 M. Loſſen, 


noch die laufenden Berichte der Nuntien am faijerlichen Hof, 
Sohann Delfino, Bartholomäus Porzia und Horatio Malafpina, 
dann die Schreiben der vorübergehend im Reiche thätigen päpjt- 
lihen Kommiffare und Nuntien, Felician Ninguarda, Kafpar 
Sropper, Nikolaus Elgard, der Veröffentlicdung harren. Selbft 
dem jpezielliten Spezialiften dürfte, fürchte ich, damit des Guten 
zu viel werden. Mir jcheint, man müßte von vorne herein einen 
Hauptunterfchied - machen: nur da, wo die Berichte der Nuntien 
gleichfam der Niederichlag eigener jelbftändiger Thätigkeit find — 
wie dies in der That bei den von Hanfen veröffentlichten großen- 
theild der Fall ift — mag vollitändiger Abdrud am Plage fein; 
wo aber der Nuntius nur Berichterftatter über fremde Ereigniffe, 
mit anderen Worten Heitungsfchreiber ift, wird in der Negel ein 
furze8 Excerpt genügen. 

Ein weiteres Bedenken von allgemeiner Art drängt fich auf, 
welches auch für die von Hanjen publizirten Berichte gilt: Die 
während des Kampfes um Köln von Rom entjendeten Nuntien 
find zwar in der That, wie Hanfen im Vorwort ded 1. Bandes 
bhervorhebt, „nicht mehr oder minder unbetheiligte Zuſchauer“, 
Sondern mithandelnde Perjonen, — aber jie find nicht, und 
das hat Hanfen infolge einfeitiger Archivbenugung verfannt, Die 
Hauptperjonen. Hanſen's Meinung (1, LXIV), „der Erfolg der 
katholiſchen Rejtauration in Köln ſei — darüber geftatteten Die 
vorliegenden Akten feinen Zweifel — in erjter Linie der Initiative 
der päpitlichen Regierung zuzufchreiben“, ift und bleibt, troß 
den von ihm benugten Akten, ein Grundirrtfum. Hätte Hanjen 
die Alten des Kölner Domfapiteld, die des Haufe Baiern 
und des Eaijerlichen Hofes ebenjo genau gefannt, wie die päpft- 
lihen, fo hätte er ein jolches Urtheil nimmermehr fällen können. 
Er hätte ſich dann überzeugt, daß die römijch-fatholiiche Mehr: 
heit des Domkapitels, fowie einzelne mit Gebhard Truchjek per: 
ſönlich verfeindete Domherren, wie der Chorbifchof Herzog Friedrich 
von Sachſen, weiter Graf Salentin von Iſenburg, endlich jelbit 
die faiferlichen Kommifjare mindeſtens ebenfoviel gethan haben, um 
dem Herzog Ernit von Baiern und damit der fatholifchen Res 
jtauration im Erzitift Köln den Weg zu bahnen, als die Send» 





6 M. Lofien, 


Papſt, ſowohl in feinem Privatleben, wie in der Verwaltung der 
römischen Kirche, der geiltigen Leitung des Sejuitenordend. Mit 
den Jeſuiten erfannte er, daß es fein wirffameres Mittel der 
fatholifchen Reftauration gab, als .die Verflechtung der politijchen 
und zamilien» Sntereffen der weltlichen Machthaber mit den 
kirchlichen Zweden der römischen Kurie. Der geeignetite Weg, 
eine jolche Intereſſengemeinſchaft anzufnüpfen und immer feſter 
zu jchürzen, war die Ausjendung von PVertrauendmännern der 
Kurie, die fi) mit jenen Machthabern nah dem Grundſatz der 
do ut des-Politik zu verftändigen Hatten. 

Des Gegenjates feiner Politik gegen die feines Vorgängers, des 
ftarren und fanatischen Mönches Pius’ V., war ſich Gregor XIII. 
wohl bewußt. Kurz nad) feiner Thronbejteigung fchrieb fein 
Staatsjefretär, der Kardinal von Como, an den Nuntius in 
Wien: „Wir wollen hoffen, wenn die Leute fich überzeugen, daß 
Se. Heiligkeit der Papjt der gemeinfame, gegen Alle liebevolle 
Bater fein muß, wie er das in Wirklichkeit fein wird, fie dann 
vielleiht auch einen andern Weg einjchlagen, als unter feinem 
Vorgänger, gegen den ein gewiſſes Mißtrauen beitand.“ !) 

In der Inftruftion für den im Jahre 1576 auf den Reich 
tag nach Regensburg gefandten Kardinal Morone wird diejer 
aufgefordert, bei Gelegenheit auch) mit nichtfatholifchen Fürſten 
und Anderen zu verhandeln, um fie zu gewinnen, und „jie dabei 
mit weicher Hand anzufafjen, da die Diener der früheren Päpite 
vielleicht mit einer, in Anbetracht der Zeiten allzu großen Schärie 
vorgegangen find“. (Hanfen 2, 25.) 

Bergleicht man Gregor XIII. mit feinem Vorgänger Pius V., 
jo wird man manchmal unwillfürlich an den Gegenjag erinnert, 
wie er zwilchen der Art Leo's XIII. und der des neunten Pius 
beſteht. Che venga, non c’& piü Pio nono, fol Leo XIII. 
gejagt haben, als er einen Vertrauten beauftragte, zu Döllinger 
zu gehen, um ihn der römiſchen Kirche wiederzugewinnen. 

Ein vorzügliches Werkzeug jeiner in der Regel vorfichtigen, 
nit den Mächtigen der Welt Fühlung fuchenden Politik hatte 





1) W. E Schwarz, Briefe und Akten zur Geſchichte Marimilian’® II. 
Zweiter Theil. ©. VIf. 





a M. Lofien, 


Kongregation, zu deren Gliedern die angejehenjten, zugleich mit 
den deutfchen Dingen am beiten vertrauten Kardinäle, — neben 
dem Staatsjelretär jelbft ein Morone, Alerander Farneſe, Proſper 
Santa Croce, Madruzzo, Stanislaus Hofius, Commendone und 
einige andere ernannt wurden. Die intereffanten Protofolle diejer 
Kongregation aus den Jahren 1573—78 Hat W. E. Schwarz 
im zweiten Theil feiner Briefe und Akten zur Geſchichte Maris 
milian’s II., Paderborn 1891, veröffentlicht. Leider find Die 
Wrotofolle aus den jpäteren Sahren bisher noch nicht wieder 
aninefunden worden. !) 


Die Reihe der von Hanjen veröffentlichten Nuntiaturberichte 
beginnt, größtentheild im 2. Band, mit den Briefen des Kardinals 
Aohann Morone, nad) Ranfe „des geichicteften kirchlichen Diplo- 
maten, der je gelebt hat,” vom Regensburger Reichstag des 
Jahres 1576. 

Morone hatte hauptfächlich die Aufgabe, zu verhüten, daß 
Kuifer Maximilian auf diejem Reichstag den Proteftanten weitere 
Augeftändniffe mache und namentlich die Freiftellung, ſpeziell die 
Sulaffung von proteftantijchen Fürſten und Herren zu den Hoch- 
itiftern, nicht bewillige.*) Über die Art, wie mit Morone's Hilfe, 
aumeiſt freilich durch die Entjchiedenheit zuerjt des Kurfürften 
Sulentin von Köln, dann des Herzoge Albrecht von Baiern, 
dieſes Biel erreicht wurde, bringen Morone’3 Berichte im Großen 
und Ganzen zwar faum weſentlich Neues, im Einzelnen aber 
manchen unjern Einblid in die Vorgänge vertiefenden oder 
die Anfchauung belebenden Zug. So, wenn Morone empfiehlt, 





) Dieje PBublifation von Schwarz enthält außerdem eine ebenfalls 
manches Belehrende bietende Sammlung von Gutachten aus den Jahren 
1673 bis 76 — die meijten aus Deutichland jelbft ſtammend — Über die Lage 
der katholiſchen Kirche in Deutichland, ſowie über die geeigneten Mittel zur 
Seritellung der verfallenen Kirchenzucht und der vielfach faft verſchwundenen 
Autorität des römiihen Stuhles. Zur Erläuterung diefer Gutachten, ſowie der 
oben erwähnten Prototolle Hätte Schwarz, mitunter etwas mehr thun dürfen. 

N Hanjen bezeichnet einigemale mißverjtändlic) die „Brafen und Herren“ 
ald den „Heinen“ oder „niedern“ Adel (1, XLVI und 2, LXXIV); nur 
den landſäſſigen Adel und allenjall® die Reichöritter darf man fo nennen. 





10 M. Loſſen, 


ſehen. Das Verſprechen, Fein Lehenzindult — auch nicht für 
furze Zeit — zu verleihen, hätte der Kaiſer gar nicht geben, 
jedenfalls nicht halten fünnen, ohne die Regierung in den geiltlichen 
Fürſtenthümern in Zerrüttung zu bringen. Daß aber Morone’s 
Berichte aus Negensburg über die von mir angenommene Zus 
fage Rudolf's nichts enthalten, beweift nichts, da Morone, bei Er⸗ 
wähnung feines Gejpräch® mit dem jungen König vom 10. Oftober 
(O. 2, 171) ausdrüdlich bemerkt, er wolle darüber dem Staatd- 
fefvetär fpäter mündlich berichten. *) 

Die Gründe, welche ich früher dafür angeführt habe, daß 
König Rudolf die erwähnte Zujage in der That gegeben hat, be» 
balten aljo bis zu wirklicher Widerlegung ihr volles Gewicht. 





Won den Berichten des Grafen Bartholomäus Porzia, der 
vom Sommer 1573 bis zu feinem im Augujt 1578 zu Prag er- 
folgten Tode ald Nuntius im deutjchen Reiche verweilte, jind von 
Saufen im 1. Band nur die auf die Kölner Biſchofswahl des 
Jahres 1577 bezüglichen abgedrudt. Die Berichte über feine 
von 1573 bi8 Ende 1576 reichende jtändige Nuntiatur in Ober- 
deutfchland find einer weiteren, durch Dr. Schellhaß zu bes 
arbeitenden Publikation des preußifchen Hiltorischen Inſtituts vor⸗ 
behalten. Ich warte dieje Publikation, fowie die von Schwarz ver 
Iprochene der Nuntiaturberichte des Kajpar Gropper ab, um auf 
rund von ihnen meine, nicht nur von Unfel und Schwarz, fondern 
auch von Hanſen jcharf angegriffene Behauptung, Gropper jei 
„der erſte ftändige Nuntius in Köln“ gewefen, entweder auf 
vecht zu halten oder als irrig zurüdzunehmen. Daß der von 
Unkel aufgeftellte Unterſchied zwiſchen einem ordentlichen und 
einem augerordentlichen Nuntius — daß nämlich jener die juris- 
dietio ordinaria, Ddiejer nur eine jurisdictio delegata befige — 
falich ift, Hat Hanien dargethan und jeinerjeitS behauptet, der 


1) Jo trattai col re de Romani tutte le cose sustanziali deila 
religione, della lega e di Polonia..., et li diedi molti amorevoli et 
cattolici ricordi, i quali con grandissima humanitä et religione furno 
accettati dalla Mtü. S. et con prudenti discorsi in risposta, come dird 
poi a bocca. 











14 M. Lojien, 


Ludwig Madruzzo, defjen Berichte wieder größtentheils im zweiten 
Bande, ſtückweiſe jedoch — ſoweit fie nämlich Auf den Abfall des 
Gebhard Truchjeß von ber römiichen Kirche fich beziehen — ſchon 
in Band 1 abgedrudt find. Madruzzo, von Geburt ein halber 
Deuticher, nämlich Welfchtiroler, ſodann als Biſchof von Trient 
jelbft deuticher Reichsfürſt, fennt die deutichen Verhältniffe genau; 
er ift auch der einzige von diefen Vertretern der Kurie, welcher 
deutfch nicht nur verftand, fondern auch ſprach und fchrieb, 
wenn auch ungern und wohl mangelhaft (vgl.. H. 2, 3781). 

Hanfen hatte jämmtlicye Briefe Madruzzo's vor dem Drud 
mir freundjchaftlichit zur Verwendung überlafjfen, jo daß ich für 
meine afademifche Abhandlung über den „Magdeburger Seſſions⸗ 
ſtreit“ (München 1893) ausgiebigen Gebrauch von ihnen machen 
fonnte. Es ergab fich daraus, was auch von Hanjen wiederholt 
hervorgehoben wird, daß die fatholifche Reſtaurationsidee im Laufe 
weniger Jahre große Fortichritte auf deutichem Boden gemacht 
hatte. Während Kardinal Morone im Jahre 1576 noch zufrieden 
war, wenn er in den Reichdangelegenheiten den Status quo ante 
aufrecht erhalten fonnte, ergriff Madruzzo ungejcheut die Offenfive, 
um außer Gebrauch gefommene Rechte der römischen Kirche wieder: 
herzustellen. Nicht nur, indem er, wie von mir dargethan, den 
protitantifchen Inhabern geistlicher Fürftenthümer die Reichsftand- 
Ichaft abjtritt, jondern auch, indem er den Kaifer drängte, ohne 
Rückſicht auf die proteftantiichen Stände, zur Publikation des 
gregorianischen Stalenders zu fchreiten, weiter, indem er Rudolf LI. 
zu überreden juchte, ſich vom Papſt zum römijchen Kaiſer frönen 
zu laflen. Biel böjes Blut bei den Augsburger Stonfellions« 
verwandten machte auch, daß Madruzzo jelbit während des Neiche- 
tags zu Augsburg den Trierer Kurfürſten zum Bifchof weihte, 
und mehr noch, daB er dort auf Betreiben der Sejuiten, den 
Proteftanten gleihjam zum Trotz, einen päpftlichen Ablaß ver 
fündete (9. 2, 504 f.). 


Am gewictigiten, jowohl durch den Umfang wie durch die 
Neuheit des Dlitgetheilten, find in den beiden Hanjen’schen Bänden 
die den zweiten Kampf um das Erzitift Köln, in den Sahren 
1582 und 1583, betreffenden Briefe und fonftigen Akten. 





16 M. Loſſen, 


dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die deutſchen Verhält- 
niſſe wohl am beiten kannte und uns die ſchätzenswertheſten Aufs 
zeichnungen über diejelben hHinterlaffen hat“; jedoch tritt ein 
gerwichtiger Umftand bei Hanfen nicht genug hervor, der nämlich, 
daß Minucct ſich mehr als Vertreter des Hauſes Baiern, denn 
des römischen Stuhles fühlt. Wie er von Anfang an vor allem 
darauf bedacht erjcheint, die Wahl des Herzogs Ernſt zu jichern 
und deffen Intereſſen zu wahren, jo läßt er fich ſeinerſeits meiſtens 
von den baierifchen Räthen, namentlid) von Hans Jakob von 
Dandorf und dem mit diefem enge ‚verbundenen jungen Nieder- 
länder Barvitius, berathen. WBielfach erfcheinen deshalb die bei 
Hanfen gedrudten Berichte des Minucci an den Kardinal von 
Como fast wie italienische Überfegungen der von mir aus den 
Münchener Archiven ercerpirten Briefe, welche Barvitius, Dan- 
dorf, Paul Stor an Herzog Wilhelm von Baiern oder deſſen 
Näthe gerichtet haben. 

War Minucci zunächft Vertreter der baieriichen Interefjen, 
jo Kardinal Andreas der feiner eigenen. Nur auf das Drängen 
des Erzherzogd Ferdinand Hatte ihn der Papit als Kardinal- 
legaten nad) Köln abgeordnet. Der Erzherzog hoffte, jein Sohn 
werde damit fich jelbit den Weg zum Erzitift Köln bahnen, oder 
wenigſtens von Herzog Ernſt die Abtretung des Hochſtifts Lüttich 
erlangen. Indem Pfalzgraf Johann Cafimir die Weiterreife des 
Kardinal über Speier hinaus vereitelte, förderte er mittelbar 
‘mehr die Nachfolge jeines feindlichen Vetters, des Herzogs Ernit, 
al3 er den römiichen Plänen Schaden zufügte. 

Der Auditor der Rota Orano, ein geborener Lütticher, hat 
nur in den erjten Stadien des Kampfes um Köln eine gewifle 
jelbftändige Bedeutung, da es ihm gelang, den widerftrebenden 
Herzog Ernſt zu bewegen, feine Reife nach Köln zu beichleunigen. 

Sehr eifrig in Betreibung der Wahl des Herzogs Emit 
erwied fich der zuerjt dem Kardinallegaten Andreas beigegebene, 
dann von dieſem nad) Köln vorausgefandte Nuntius am Hofe des 
Erzherzog Karl von Steiermark, Germanico Malajpina; doc) fand 
feine Geſchäftigkeit nicht jederzeit den Beifall feines eiferfüchtigen 
Kollegen Bonomi. Auch Minucci rügt mit Recht die ungeſchickte 





18 M. Lofien, Römiſche Nuntiaturberichte zc. 


eine® Gegners der fölnifchen Nuntiatur im vorigen Jahrhundert, 
Bonomi jei post festum nad) Köln gefommen, nicht ganz un⸗ 
rihtig. Jedenfalls aber hat Bonomi dad Seine dazu beigetragen, 
daß fich der Kampf um die Treiftellung vom Erzitift Köln in 
das Stift Straßburg fortpflanzte. 

Sol ih zum Schluß noch ein Wort jagen über die Art, 
wie Hanfen feine Editoraufgabe gelöjt hat, jo fann ich dieſe im 
allgemeinen nur loben. Die Texte find, auf jchönem Papier und 
in fchöner Schrift, durchweg fehlerfrei gedrudt, nur die Inter: 
punftion dürfte etwas gleichmäßiger jein. Auf den im 1. Band 
gemachten, aber mißlungenen Berluch, die urjprünglichen Accente 
der italienischen Vorlage beizubehalten, hat Hanjen im 2. Band 
zu gunſten einer gleichartigen, annähernd modernen Accentuirung 
verjtändigertweife verzichtet. Das Perjonen- und Ortsregiſter zu 
jedem der beiden Bände jcheint forgfältig gearbeitet. Einleitung, 
Vorbemerkungen und Noten unter dem Tert erläutern Perjonen 
und Verhältnijje joweit als erforderlich und unter vielfachem 
Hinweis auf neuere und ältere Literatur. Einzelne Heine Irr⸗ 
thümer hier zu berichtigen, hätte faum Werth; Gelegenheit dazu 
wird der, hoffentlich in längſtens zwei Jahren zu erwartende 
Schlußband meiner Geichichte des Kölnischen Krieges darbieten. 





20 ©. Kraußte, 


Individualität meift mit peinlicher Sorgfalt zurüdgehalten oder 
vielmehr nach dem großen franzöfischen Schema gemodelt. Die 
Ideen und die Sprache Frankreich herrichten in faft allen 
deutfchen Kreifen, die auf Bildung Anſpruch machten, fo jouverän, 
daß ein Nefugie naiv fragen fonnte, ob die preußifche Königin 
Sophie Charlotte überhaupt deutich verftünde. 

Der Sohn diejer Fürſtin und des prunfliebenden, ceremonidjen 
Friedrich war Friedrich Wilhelm I. Vom Königöglanze und gar 
von irdifcher Gottähnlichkeit mochte Der nichts wiſſen. Müßte 
er durchaus ein Gott fein, fchrieb er feiner Großmutter, fo könnte 
er ficherli” nur ein ganz Heiner Grasgott fein. Mit gelindem 
Schauer berichtete ein Bfterreichifcher Gejandter, der furz nad 
Friedrich Wilhelm’8 Thronbefteigung Berlin bejuchte, von der 
ſpartaniſchen Einfachheit des jungen Königs; wie er in den 
Häufern der Handwerfer ein- und ausginge und überhaupt jo 
ganz eigen wäre und Dinge thäte, die man von anderen Potentaten 
nicht hören würde. Im UÜberichwange jeiner Urfraft und feines 
grobförnigen Humors verlegte Friedrid Wilhelm häufig ge 
fliffentlich die Formen und ergoß ungerechten Spott über das 
„Petit-Maitre-®ejen“ der Gebildeten. Seine Kernworte, das 
einzige, was er verſchwenderiſch an Hoch und Niedrig austheilte, 
wurden mit gelittetem Eifer alg Pröbchen des bildungsfeindlichen 
Potsdamer Wachtſtubentones verbreitet und jeine übergroße Bor 
liebe für das Heer in grellen Farben geſchildert. 

Das Verſtändnis für die Entwidlung Diejes eigenartigen 
Charakters ift erjt fpät aufgegangen. Lange galt die Meinung, 
Friedrich Wilhelm hätte jich ganz unter dem übermächtigen Ein- 
fluffe Leopold’3 von Anhalt- Dejfau gebildet, der jchon bei Leb— 
zeiten zu einer mythiſchen Perjon mit den Zügen des alten 
Bauerngotted® Donar geworden war, und hätte fi) wohl gar 
gegen befjere Einficht dem herriichen Willen des Fürſten gebeugt. 
Heute weiß Jedermann, wie frei feine Natur aus fich ſelbſt heraus« 
gewachien ift. Nur über den Grad des Einfluffes, den Leopold 
auf die Negententhätigfeit Friedrich Wilhelm's gehabt hat, fann 
noch geitritten werden. Während die einen in Leopold das Bor 
bild des König auf militäriichem und adminiftrativem Gebiete 





22 i O. Krauske, 


Es darf vielleicht bemerkt werden, daß der erſte ganz eigen⸗ 
händige Brief des Kronprinzen an den Fürſten aus dem Jahre 1710 
ſtammt. Damit begann recht eigentlich die hier als Hauptquelle 
benutzte Korreſpondenz ), merkwürdig, trotz aller Hunde-, Jagd⸗ 
und Soldatengeſchichten, durch ihren Ton und ihre Gedanken⸗ 
fülle in einer ungefügen, aber belebten Sprache; merkwürdig auch 
durch die entſetzliche Handſchrift: beide Herren vermochten ſelbſt 
ihre vertrauteſten Mittheilungen nur in den Kopieen ihrer Sekretäre 
zu leſen. 

Leider ſind nur wenige intime Briefe Leopold's erhalten. 
Dem Range und wohl auch dem Charakter des Schreibers ge 
mäß, find fie weniger urjprünglich und frei von fonventionellen 
Gedanken und Redewendungen, ald die unbefangenen Herzens 
ergüfje jeines königlichen Freundes. Hier verbarg Friedrich 
Wilhelm nicht feine Gefühle unter der rauhen Außenfeite, wie 
er Anderen gegenüber pflegte; fogar eine gewifje Sentimentalität 
bricht öfters durch. 

Das militärische Intereſſe hatte ihre Freundſchaft vermittelt; 
bald wurden auch die häuslichen und politifchen Berhältniffe in 
ihre vertraulichen Erörterungen bineingezogen. Als der Sron- 
prinz damit umging, das landverderbende Dreigrafenminiiterium 
zu jtürzen, forderte er im tiefiten Geheimnis die Meinung des 
Fürſten. Diejer warnte ihn vor dem Schritte, und jein Rath 
hatte Berechtigung, obwohl er nicht ganz uneigennüßig war; 
denn der Kluge hatte verftanden, neben feinen Beziehungen zu 
dem Kronprinzen auch mit defjen Antipoden Wartenberg einen 
näheren Verkehr zu unterhalten. Friedrich Wilhelm durfte fich 
nicht lange feined® Siege über Wartenberg und Wittgenitein 
freuen, dann ſtand er fait noch ijolirter als vorher da: bald 
würde er gar nichts mehr zu jagen haben, Elagte er dem Fürften, 
der eigene Vater beargwohne ihn als Verräther. Was er aber 
noch an Einfluß befaß, bot er auf, um dem Freunde zum ers 
jehnten Feldmarſchallſtabe zu verhelfen. Er verſprach fich zwar 


ı) Die Korrefpondenz Friedrich Wilhelm’s mit Leopold wird im Laufe 
diejed Jahres als Beiband der Acta Borussica ericheinen. 








Hriedri Wilhelm I. und Leopold von Anhalt-Deffau. 25 


Natur geworden. Doch joweit er Freundſchaft empfinden konnte, 
bat er fie dem Könige dargebradht. Er ift ihm volle Wahrheit, 
wenn er feine Bereitwilligfeit betheuert, jeden Blutstropfen für 
ihn zu vergießen. 

Unleugbar gab aber Friedrich Wilhelm mehr Freundſchaft, 
als er empfing. Sein Lebenlang hat er für den Fürſten gebetet 
und feine Familie beihügt und gefördert. Um Leopold's willen 
trogte er auch dem Zorne des Kaiſers. Sogar das feinem 
Herzen ſchwerſte Opfer brachte er mehrmals dem ‘Freunde, indem 
er ihm beträchtliche Summen vorſchoß. „Sie willen, daß ich 
nicht gerne Geld leihe,“ jchrieb er dann wohl, „aber zu bes 
weilen die Lieb und Eftime, die ich vor Em. Xiebden babe, 
it genug, daß ich Alles bergebe, einen folchen treuen Freund in 
der Noth zu afliltiren, Procente will ich nit, und wegen der 
Sicherheit ift Ihre Parol genug.“ 

Mit Bewunderung ſah er zu Leopold als dem erfahrenjten 
General und dem vollendeten Weidmann empor. Dem ruhms> 
gefrönten Marſchall gegenüber fühlte er fich jtetS etwas ala 
Obriſt des Leibregiments: alljährlich führte er ihm feine langen 
Leute vor, wenn fie ausexerzirt waren, und nach dem alten 
Herfommen, das dem General das Beithaupt von den Pferden 
eines geftorbenen Obriften zumies, ſchenkte er an feinem Todes 
tage dem Fürſten ein aufgezäumtes Rob. Wie jehr entſchuldigt 
er ji, als er, „leider ein Ignorant, der das Ding nicht ver 
jtehet“, Leopold Rathſchläge zur Überrumplung von Mörs er 
theilt. So wie der ;zürjt Alles anordnete, fand der König es 
am beiten; dejien Regiment nennt er ehrend „mit die Norm der 
Infanterie“. Über feine militäriiche Angelegenheit, war es die 
Berbeilerung der Patronenhüljen, war es ein Kriegsplan, ent 
ſchied er endgültig, bevor er das Urtheil des Feldherrn ein⸗ 
geholt hatte, „der wohl lehren, aber nichts mehr lernen konnte”. 
Das friide Selbjtvertrauen, mit dem Friedrich auf jeinem eriten 
Teldzuge den alten Deſſauer abjihtlih vom Schauplatze fern⸗ 
hielt, um der Welt zu zeigen, daB er aud ohne Hofmetiter zu 
jiegen wũßte, jehlte dem Königa Triedrich Wilhelm ganz und gar: 
niemals wäre er, # “en Kampf 


26 D. Kraußfe, 


gezogen, denn nirgends in der Welt fönnte er einen befferen 
General finden. 

Mit einem Eugen oder Marlborough dürfte man dennoch 
den Fürſten kaum vergleihen. Aber ein Theil der erſten Lor- 
beeren Friedrich's gebührt „dem alten Schnurrbart“. Durch das 
Schnellfeuer, die weniger maſſige Truppenaufſtellung, durch den 
Gleichſchritt — alles Veränderungen, die auf Leopold zurück⸗ 
gehen — und durch die eiferne Disziplin wurde die preußifche 
Infanterie das Mufter für alle europäifchen Heere und zu einer 
Macht, von der der Fürft ſelbſt rühmte, „daß fie Freund und 
Feind, und die letzteren mit Zittern, admiriren müſſen und vor 
ein Wunderwerk der Welt mit anſehen“. Welcher Triumph, als 
auch der Altmeiſter Eugen, der jo oft die Potsdamer Soldaten- 
ſpielerei verjpottet batte, den Fföniglichen Truppen feine Ans 
erfennung zollte, und als der preußifche Ererzierteufel noch ärger 
in die Raiferlichen fuhr. 

War es überhaupt mit der preußiichen Exerzierfünftelei jo 
Ihlimm, wie fie verfchrieen ift? Ein Senner rühmt gerade 
die verhältnismäßige Einfachheit der Reglement und die faft 
modernen Anschauungen im Vergleich zu den fchwerjälligen Bes 
megungen der anderen Armeen. Das Außerliche wurde allerdings 
in Preußen mit der zopfigiten Pedanterie behandelt. Niemals 
hätte fich wohl der König und Leopold wenigftens nicht in feinem 
Alter ähnlich vernehmen laſſen, wie Friedrich vor Zorndorf, als 
er Dohna's fchmude Soldaten mit feinen eigenen verglich, die 
wie Grasteufel ausjähen, aber bifjen. 

Auch der Vorwurf, daß der Deſſauer die Kavallerie voll- 
ſtändig vernadjläffigt hätte, schießt über das Biel hinaus. 
Neigung, Talent und die eigenen Erfahrungen verwiefen ihn zwar 
auf die Infanterie; doch er iſt ed gewejen, der trog Friedrich 
Wilhelm’3 wiederholten Bedenken die Verdoppelung der preußifchen 
Schwadronen durchgeiegt hat. 

Welcher Zweig des Kriegsweſens wäre ihm überhaupt ganz 
fremd geweſen? Selbſt denjenigen Waffengattungen, für die es 
ibm an der wijjenjchaftlichen Vorbildung gebrach, hat er mit 
großartiger Empirie Direktiven gegeben. Seine Abhandlung über 





28 D. Krausle, 


plägen von Potsdam und Deffau find ihnen Standbilder errichtet 
worden. Hätten fie ſich wirklich nur militärisch bethätigt, fo 
dürften fie vielleicht nicht zum Gegenstand ciner allgemein 
geichichtlichen Betrachtung gewählt werden. Aber wer gedenft 
nicht der unfterblicden Verdienste Friedrich Wilhelm's um den 
Ausbau unſeres Staates, feiner entjagungspollen Arbeit für jein 
Land? Die einjeitige Bezeichnung „Soldatenkönig” ift durch den 
zwar wenig jchönen, aber den Kern treffenden Chrennamen 
„Preußens größter innerer König“ verdrängt worden. 

Unter den Gcehülfen Friedrich Wilhelm's bei den inneren 
Reformen nimmt Leopold cine chrenvolle Stellung ein. Er war 
feine jo ausfchlichlich foldatische Natur, wie etwa Blücher, dem 
die Künfte der Diplomatie cbenjo freind waren, wie das Geheim— 
nis geordneter Wirthichaftsführung. Nächſt den Truppen waren 
die Thaler jeine beiten Freunde. Im Getümmel des Feldzuges ver: 
gaß er feiner Güter nicht; auf feinen Kriegsfahrten ftudirte er die 
Kulturen der Länder, aus den Niederlanden brachte er die Kennt— 
nis des Deichbaues, aus dem Süden die Obftzudt und Die 
Sartenbaufunft nah Defjau mit. Seine Haushaltung gedieh faft 
wunderbar: 1701 Hatte er bei 300000 Thaler Schulden nur 
24000 Thaler Sahreseintommen ; zwei Sahrzehnte Später betrugen 
feine Einkünfte, Dank dem göttlichen Beiftande, jo drückt er ſich 
aus, feiner eigenen Induſtrie, faſt täglichen Applikation und Ans» 
ordnung, über 200000 Thaler. 

Das eigene Heine Land genügte jeiner Thatenluft nicht. ALS 
Gouverneur von Magdeburg und Chef des Regiments in Halle 
rühlte er fid) berufen, aud) an der Regierung des Herzogthums 
Theil zu nehmen. Friedrich Wilhelm ließ ihm gerne dabei freie 
Hand; Tiebte er es doch, Offiziere als Kontrollbeamte jeinen 
Bivilbehdrden zur Seite zu ftellen und von ihnen über die Thätig- 
feit der Kammern unterrichtet zu werden. Die Magdeburger 
Kollegien hatten manches von der barjchen und, wo ein perſön⸗ 
liches oder militärisches Intereſſe in’3 Spiel fam, parteiifchen Art 
des Fürſten auszujtchen; im ganzen war aber feine Wirkſamkeit 
durchaus nützlich. Auf feinen Betrieb wurden Sümpfe und Seen 
in Ackerland verwandelt, Gräben gezogen, die Induftrie gefördert, 





30 O. Krauske, 


Pfennig mehr in jenes unergründliche Meer des Retabliſſements 
zu werfen, das ihn zum Schimpf und Gelächter der ganzen Welt 
gemacht hätte. Der Erfolg krönte endlich die Arbeit. In ſeiner 
ſchlichten Art, die merkwürdig von den ſchwungvollen Worten 
Friedrich's über die Verdienſte ſeines Vaters um Preußen abſticht, 
äußerte ſich Friedrich Wilhelm 1737 über das Erreichte: „Ich 
muß Ew. Liebden ſagen, daß in Litthauen alles recht gut gehet. 
Ich kann verſichern, daß keine Bredouille wieder wird kommen 
und alles im Stande kommen, ſo wie die anderen Kammern.“ 

Die Wirkſamkeit Leopold's iſt damit noch nicht abgeſchloſſen: 
auch auf die Behördenorganiſation hat er Einfluß gehabt. Der 
bedeutende Plan, die zwieſpältige Finanzverwaltung Preußens 
durch die Gründung des Generaldirektoriums und der Kriegs 
und Domänenfammern zu vereinigen, ſoll jogar urſprünglich jein 
Eigentum gewejen und vom Könige nur übernommen worden 
jein. Dieje Bermuthung geht aber doch wohl zu weit. Friedrich 
Wilhelm Hat öfters ausdrücklich und feierlich verjicdert, daß 
er, ohne Rath) dazu von irgend jemand empfangen zu haben, 
allein mit dem Beiftande des Höchiten diefen Neformgedanfen 
gefaßt hätte. Überdem hatte er ſchon vor 1722 mehrmals aus 
eigener Initiative eine gewiſſe Kombination der beiden feindlichen 
Behörden in einigen Provinzen bergejtellt, indem er ihnen einen 
gemeinschaftlicden Präfidenten jegte oder gemeinjame dauernde 
Kommilfionen aus hohen Sammers und Kommifjariatsbeamten 
errichtete. Mit Beitimmtheit kann nur gejagt werden, daß der 
König allein Qeopold von feinem Vorhaben unterrichtet und deffen 
„Raiſonnements“ über die Geftaltung der neuen Centralbehörden 
überdacht bat. 

Die Nachricht aber, die damals in Berlin verbreitet war, 
der Fürſt wäre zum Chef jämmtlicher Oberfollegien auserjehen 
gewejen, darf jo gut wie ficher als leeres Gerücht zurückgewieſen 
werden. Sollte Friedrich Wilhelm, der die Erfahrungen feines 
Vaters mit einem Premierminiſter in jo bitterer Erinnerung hatte, 
der auch jeinen Bertrauteiten gegenüber „Herr und König“ fein 
wollte, daran gedacht haben, eine Inſtanz zwilchen ſich und 
feinen Oberbehörden einzujchieben? Dann hätte er auf das Amt 





83 D. Krauske, 


Anſchluß an Frankreich empfohlen; als aber daS Gegentheil bes 
ichloffen wurde, jehnte er inbrünftig einen großen Krieg mit den 
Franzoſen herbei, - um im Kampfe gegen fie neue Lorbeeren zu 
jammeln. Er bat wohl, wie auch andere Generale, bei wichtigen 
Gelegenheiten ein politifches Gutachten abgeben müſſen, die Ent- 
iheidung behielt jich aber der König allein bevor. 

Freilich, wer kann ermefjen, welchen Einfluß der bejtändige 
vertraute Umgang auf den feimenden Gedanken ausübt, ob nicht 
die Bahn, die der Fuß jcheinbar freiwillig betritt, uns unbewußt 
ihon von anderen vorgezeichnet worden ift? Aber auch Diele 
geheimnisvolle Wechjelwirfung bat bei feiten Geiſtern ihre 
Scranfen: jie fann jich in voller Kraft nur bethätigen, wo das 
gemeinfame Streben zu demjelben Ziele aus der gleichen fittlichen 
Wurzel hervorwächſt. War died bei dem ?Freundespaare der 
Tal? In der Auffafjung ihres Verhältniffes zu Gott gingen 
jie doch weit auseinander. 

Friedrich Wilhelm ſah, wie der erjte Hohenzollerjche Kurfürft, 
in der Herrichaft ein von Gott verliehene® Amt. Für alle feine 
Thaten, ja für alles, was in feinen Landen geſchah, fühlte er 
ih) vor des Höchſten Richterftuhl verantwortlid. Er trug über- 
ſchwer an diefer Laſt. Ihm erichien der Weltenlenfer in dem 
alttejtamentarischen, puritanijchen Xichte; auch jein Gott war ber 
rädhende Sehovah, der die Sünden der Väter an den Slindern 
und Kindeskindern heimſucht. Immer wieder befahl er den 
Predigern, ihre Zuhörer in der Furcht des Herrn zu unterweijen. 
Bon früh an Hatte er fi) in die Betrachtung der göttlichen 
Dinge verjenft und fie nach feinem auf die That gerichteten 
Sinne ausgelegt. ALS bei Tafel einmal der Begriff der Sünde 
wider den heiligen Geiſt erörtert wurde, brach der Zwanzig⸗ 
jährige in die Worte aus: „Huren, das it die jchlimmite 
Sünde!” Auch in den gewöhnlichen VBergnügungen der Vor—⸗ 
nehmen witterte er des Teufels Fangſtricke. Die Schaufpiele 
und Deagferaden verdammte er ald „Xempel des Satanas“; 
jelbjt feine lichiten ‘Freuden, im reife frober Zecher zu figen 
und dem Weidwerf obzulicgen, waren ihm nicht unverdächtig. 
Er hätte wohl Luft zum „jaufen“, äußerte er zu dem jüngeren 





84 O. Kraußtfe, 


daß die Liebe und nicht die Furcht Gottes der Inhalt unferes 
Glaubens fein müßte; eine Prüfung ergab aber, daß dieſes 
Scriftjtüd von der Fürftin Anna Luiſe verfaßt und von ihrem 
Gemahl nur abgejchrieben worden ift, um einen Prediger zurecht 
zuweiſen, der mit deutlichen Seitenbliden nach dem fürftlichen 
Kirchenjtuhle den Mangel an Gottesfurdht beflagt Hatte. Der 
Begriff der Ehre, nicht die Verantwortlichfeit vor Gott leitete 
die Handlungen des Fürften. So hoch Tsriedrih Wilhelm die 
Ehre ftellte, er fchäßte fie doch nicht, wie Leopold, „der Selig. 
feit gleich”. Dem Könige war das Chriſtenthum ein Herzens 
bedürfnis, Leopold ehrte es, damit ihm gleichſam Gott wohl- 
gefinnt bliebe, und wegen der Einwirkung auf die Unterthanen. 
Sich jelbit behielt er mit den meilten Fürſten feiner Zeit eine 
bejondere Moral vor, für welche die Gebote, vorzüglich das 
jechste, nicht geichrieben waren. 

Mußte nicht dieſe geiftige Verfchiedenheit der beiden Fürſten 
durd) ihre weltliche Stellung noch vergrößert werden? Der eine 
der König eines waffengewaltigen, vorftrebenden Staates, der 
andere ein Kleiner Zerritorialherr. _ 

Das Defjauifche Land war nicht einmal fo groß wie dad 
heutige Fürſtenthum Schwarzburg-Sondershaufen und hatte nur 
ein Drittel von deſſen Bevölkerung. Auch die bedeutendften 
adminiftrativen Reformen in dieſem winzigen Gebiete hätten 
Leopold's Namen faum unſterblich gemacht; nur der Wirkſamkeit 
für Preußen verdankt er feinen Ruf. Oft und nicht unberechtigt 
iſt dem Fürſten vorgeworfen worden, daß er fich mit allen, 
jogar unlauteren Mitteln zum Alleinbeſitzer in feinem Territorium 
gemacht Hat; aber man darf darüber nicht vergeſſen, daB damals, 
bei jo engen 2erhältnifjen, ein Fürſt, der mehr fein wollte als 
der vornehmite Großgrundbefiger feines Ländchens, nur in jolcher 
Form zur wahren Herrichaft gelangen konnte. Für die Idee des 
Staates war in diejen fleinen mittelalterlichen Gebilden fein Raum. 

Auch Preußen gehörte noch nicht zu den Großmächten, aber 
jeine hiltoriiche Entwidlung, die weiten Territorien zwijchen der 
Memel und Maas, die jehr abweichenden jtaatlichen und wirth— 
Ichaftlichen Bedingungen der einzelnen Sande und die Ausfichten 





36 O. Kraußte, 


Diener an; den Obriſten eines fchlecht befundenen Regiments 
Ichalt er, gottlo8 im Dienfte gehandelt zu haben. 

Aus diefem Gefühle der gemeinfamen Berantwortlichfeit ent- 
jprang aber auch die Pflicht, treue Beamte zu belohnen und 
vorzüglih ihnen Schuß gegen Jedermann, ohne Anjehen der 
Perſon, zu gewähren. Niemand — das war des Königd Grund 
fat vom erjten Tage feiner Regierung an — follte, wie unter 
feinem Vater, ungehört verurtheilt werden. Wie oft bielt cr 
dem Fürften vor, der mit den Magdeburger Behörden beinahe 
immer auf Kriegsfuß jtand, daß die föniglichen Beamten pflicht- 
und injtruftionsmäßig gehandelt hätten oder wenigſtens nicht 
ohne Unterjuchung zuredhtgewiejen werden fünnten. An jeine 
Staatsraifon durfte ihm auch Leopold nicht taften. Als der 
Fürſt in einem erbitterten Streite mit Grumbkow den König in 
das Dilemma drängen wollte, entiweder den Minijter zu ents 
lajien oder mit dem Freunde zu brechen, erklärte ihm Friedrich 
Wilhelm, er werde Grumbkow niemal3 wegjagen, darauf liche 
er Alles anfommen. „Denn“, fügte er hinzu, „wenn Das follte 
angehen, jo würde eins nach dem andern jo fortgejcht werden 
und dann endlich die Reihe an mir kommen. Alſo ich meine 
Officier und Diener jouteniren muß, woferne ich mir felber 
Souteniren will“. 

Am meilten gab er dem Fürſten in militäriichen Dingen 
nad. Die Dejlauiihen Prinzen wurden jchneller befördert als 
die eigenen Söhne des Königs. Dennoch war jelbit auf diejem 
Gebiete Leopold's Fürwort nicht ſtark genug, die als gerecht er- 
fannte Ordnung zu durchbrechen. Schon ald Kronprinz hatte 
ihm Friedrich abgejchlagen, das Avancement eines Generalmajor 
zu empfehlen, weil ſonſt jieben ältere zurücdgejett würden. Auch 
für. die Prinzen jollte e8 feine anderen Gejege und Rechte geben, 
als für die gewöhnlichen Offiziere. Wie merkwürdig tritt übers 
haupt bier der Gegenjag zwiſchen TFriedrih Wilhelm und dem 
Deijauer in Theorie und Praxis hervor. Während Leopold auf 
milde Behandlung der Soldaten drang und dadurch auch im 
gemeinen Manne das Ehrgefühl weden wollte, fonnte ſich der 
König nicht genug verwundern, daB die hannoveriichen Soldaten 





Neue Mittheilungen und Erläuterungen 
ya Band 6 und 7 der Geſchichte der Begründung ded Deutſchen Reiches 
duch Wilhelm L 
Bon 


Seinriß v. Spbel. 


1. Die Verantmwortlichfeit des Bundeskanzlers. 
(Bol. 6, 90.) 


Aus der Neichdtagsverhandlung Hatte ſich ſchließlich das 
Ergebnis herausgejtellt, daß der Bundezfanzler durch die Gegen» 
zeichnung einer Präfidialverordnung nicht eine gerichtlich verfolg- 
bare, jondern nur eine moraliiche oder hiſtoriſche Verantwortlich- 
keit übernahm. Aber dieje nur moralijche Verantwortlichkeit hatte 
jofort ſehr praftiiche Folgen. Der PBerfafjungsentwurf hatte fich 
den Bundesfanzler gedacht ald preußiichen Präfidialgejandten zum 
Qundesrath, der vom preußiichen Miniſter der auswärtigen An⸗ 
gelegenheiten jeine Initruftionen zu erhalten hatte, wie vormals 
der djterreichiiche Präjidialgejandte zum YBundestage von dem 
Staatskanzler in Rien. Seine Öegenzeichnung war gedacht als 
Beglaubigung der formellen Berfafjungsmäßigfeit der Anordnungen 
des Präſidiums. Mit der auch nur moraliichen Nerantwortlic- 
fett des Aundesfanzler® war diefe Auffaſſung unvereinbar, denn 
ein nach Injtruftionen handelnder Beamter konnte für den Inhalt 
dieſer Injtruftionen nicht verantwortlid; gemacht werden. So 
war denn das preußiiche Staatsminiſterium eimtmmig der Ans 
Yicht, dab nach dem Beſchluß des Reichstags nur der Mintjter 
der auswärtigen Angelegenheiten Bundesfanzler jein fünne. Cine 





40 H. v. Sybel, 


Bericht ein. Als der Kriegsminifter Generallieutenant v. Hardegg 
bievon Kenntnis erhielt, jtellte er Suckow zur Rede, wie er es 
wagen fünne, ohne jein Vorwiſſen eine derartige Eingabe dem 
König direft vorzulegen, und fragte ihn, wer ihn biezu veranlaßt 
babe. Sudomw antwortete ausweichend und nannte erjt, als ihm 
der Kriegsminifter mit der Einleitung eines kriegsrechtlichen Ver: 
fahrens drohte, die Perſon des Königs. 

General v. Hardegg begab ich jofort zum König, wurde 
hierüber vorjtellig und bat Se. Majeität, wenn er, wie es den 
Anjchein Habe, nicht mehr das Allerhöchjte Vertrauen bejite, um 
jeine Enthebuing vom Miniſterpoſten. Der König verjicherte 
Hardegg, daß dies in feiner Weiſe zutreffe, und bewog ihn, in 
jeiner Stellung zu verbleiben. 

ALS Später Hardegg dem König das von ihm bearbeitete 
neue Wehrgeſetz vorlegte, ließ legterer hinter dem Rüden des 
Ministers diefen Entwurf dur) Sudow begutachten. 


Dies veranlaßte Hardegg, nunmehr jeine fchon einmal ge= 
jtellte Bitte um Entlaffung beim König zu wiederholen, und 
wurde ihm Diejelbe auch gewährt. Die Ordre hatte etwa folgenden 
Wortlaut: 


„Se. Majeftät der König haben vermöge Allerhöchiter 
Entihließung vom ... April 1867 den Striegäminifter und 
Senerallieutenant v. Hardegg feiner Bitte gemäß von der 
Berwaltung des Kriegsminifteriums gnädigft zu entheben geruht 
und in den Ruheſtand verjeßt.“ 

Sch bemerfe biebei, daß an dv. Hardegg, während er Minijter 
war, von dem Damaligen Generaladjutanten Frhrn. v. Spigemberg 
das Anfinnen gejtellt wurde, er möchte doch Ießterem von den 
dem König zu unterbreitenden Vorjchlägen vorher Kenntnis geben, 
damit er Majeftät darüber informiren fünne. Hardegg wies dieſe 
Zumuthung auf das Entſchiedenſte jchroff zurüd, da er als 
Minijter nur direft mit St. Majejtät zu verfehren gefonnen jet. - 

Schließlich möchte ic) noch anfügen, daß, wenn Sudom in 
jeinen Memoiren — die ich übrigens nicht kenne — den General 
v. Hardegg für die militäriichen Mißerfolge der Württemberger 





42 9. v. Sybel, 


gewählt und ber Losbruch bei ſterreichs militäriſcher Unfertig- 
feit in thörichtem Eifer übereilt worden fei. Bei Elügerem Ber 
fahren Frankreich wäre Beuſt ſchon mitgegangen. 

Gegen meine, bievon gründlich abweichende, jedoch überall 
urkundlich erhärtete Darjtellung, daß Beuſt zur Erhaltung der 
Selbftändigfeit Oſterreichs die Fortdauer des Gleichgewichts 
zwiichen Preußen und Frankreich gewünſcht und deshalb ſtets 
auf Bewahrung des Friedens gearbeitet habe — hiegegen wendet 
Herr Rößler zunächſt ein, daß ich die entjprechenden Außerungen 
des Grafen Vitzthum von Eckſtädt, eines vertrauten Agenten 
Beuft’s, für die zuverläffigite Quelle gehalten habe. Man braucht 
nicht zu bezweifeln, jagt er, daß Beuft Solche Äußerungen jelbit 
gegen vertraute Agenten gelegentlich hat fallen lafjen. So etwas 
ipriht man wohl, fährt er fort, um jich die möglichen Folgen 
einer Aktion alljeitig flar zu machen, oder man will aud) 
Täuſchungen in die Welt ſetzen, indem man die eignen Ber: 
trauten täufht. Nun wohl, ich bin fein jo fjachverjtändiger 
Fachmann in diplomatijchen Kunftgriffen, wie Herr Rößler: aber 
indem ich ihm bienach die Möglichkeit jolcder Dinge nicht beitreite, 
ſcheint e8 mir doch, daß für ihre Wirflichfett im einzelnen Fall 
der Behauptende Beweiſe beizubringen verpflichtet iſt. Darin 
aber, fürchte ich, ijt e8 bei Herrn Rößler ſchwach bejtellt. Ich 
bejorge, er hat feinen andern Beweis für Vitzthum's Täujchung, 
ald die eigene jchon vorhandene, ebenjall® beweisloje Meinung 
von Beuſt's Kriegsluſt. Ich will dies in Kürze darlegen. 

Zunächſt bemerfe ich, daß in meiner Darftellung nicht auf 
Vitzthum's Redensarten, jondern auf die ihm von Beuft auf 
getragenen amtlichen Handlungen oder Injtruftionen Bezug ges 
nommen wird. Als Napoleon 1869 mit dem Plane der offen- 
jiven Zripleallianz gegen Preußen hervortritt, verwandelt Vitz⸗ 
thum denjelben, feiner Sache gewiß, ohne erſt bei Beuſt anzu⸗ 
fragen, in den Vorſchlag eines Vertheidigungsbundes, unter Vor: 
behalt von ſterreichs Neutralität im Falle eines franzöfiich- 
preußilchen Striegs. Der Botſchafter Fürſt Metternich beftätigt 
Died, Beujt und Kaiſer Franz Iojeph genehmigen es, und fchließ- 
lich lehnt eben deshalb Napoleon die Unterzeichnung des Kriegs— 





44 9. v. Sybel, 


dat SKatjer Napoleon den Antrag in einem offenen Briefe dem 
König Wilhelm vorlegen möchte, erflärte Rouher fich einverftanden, 
hielt aber Napoleon’3 Zuitimmung für ungewiß; und wenn der 
Kaiſer, fragte darauf Rouher, den Brief fchriebe, der König aber 
den Vorſchlag ablehnte, und wenn dann der Katjer dies übel 
nähme, und daraus ein Bruch entftände, würde in diefem Falle 
Ofterreih uns mit den Waffen unterftügen? Vitzthum, darauf 
nicht gefaßt, antwortete: Wir befinden uns mitten in der Um— 
geftaltung unjerer Armee; ehe fie fertig ift, kann ich auf Ihre 
stage nichts Beltimmtes eriwidern; Hoffentlich werden wir aber 
im Dezember das Biel erreichen. Als er dies Geſpräch dem 
Kanzler berichtete, erhielt er umgehend folgende Zeilen: 

„Berehrter Freund. Sie jagten, Sie möchten jo gern mir 
meine Arbeit erleichtern. Deſſen bin ich gewiß und werde gern 
und oft davon Gebrauch machen. Aber jet bedenfen Sie wohl, 
dap Ein unüberlegtes Wort mir die mühjame Arbeit von zwei 
Sahren umwerfen Tann. Der Gedanfe von dem Eintritt in die 
Aktion iſt jegt abjolut falſch.“ 

Als dann im Herbit 1869 der lange verhandelte Dreibund 
von Napoleon nicht vollzogen, jondern auf unbeitimmte Zeit zu 
den Alten gejchrieben worden war, hatte Vitzthum mit den frans 
zöſiſchen Miniſtern noch einige nachträgliche Gejpräche über ein» 
zelne Änderungen des Textes bei etwaiger Wiederaufnahme der 
Verhandlungen. Die Franzoſen regten an, ob nicht der Pariſer 
Vertrag vom 15. April 1856 zu erneuern, und ob nicht eine 
Bezugnahme auf den Prager Frieden von 1866 in dem Allianz⸗ 
vertrag angezeigt ſein jollte. Xetteres hätte, wie auf der Hand 
liegt, dem projeftirten Dreibund die jchärfite Spiße gegen Preußen 
gegeben. 

Beust entichted auf der Stelle: „Wir wünjchen feine Modi 
fifationen an dem urjprünglichen Texte. Was die Aljimilation 
des abzuichließenden Vertrages mit dem von 1856 betrifft, und 
die Idee, ihn in unmittelbare Beziehung mit dem Prager Frieden 
zu ſetzen, jo kann id) dieſem Worjchlag meine Zujtimmung nicht 
geben. Es wäre jchiwierig, eine bündige Analogie zwiſchen dieſen 
beiden Übereinfommen zu finden, umd in politijcher Hinficht wäre 





46 H. v. Sybel, 


zu einem Kampfe mit der deutſchen Übermacht aufmerkſam zu 
machen. Es war dies nicht eben eine leichte Aufgabe für einen 
Ausländer, einen großen Souverän auf die ſchweren Mängel 
ſeines Heerweſens anzuſprechen: für die Wirkung hing zunächſt 
Alles von der Einführung des Themas ab. Albrecht nahm dann 
von der vorübergehenden Unruhe, welche Lasker's thörichter An⸗ 
trag über Badens Aufnahme in den Nordbund in Paris her⸗ 
vorrief, Veranlaſſung, den Kaiſer Napoleon auf die wachſende 
Spannung und die Möglichkeit eines Kriegs für beide Staaten 
binzuweijen. Napoleon, ohne auf politiiche Erwägungen ein- 
zugeben, fragte zurüd: wenn e3 zum Kriege fäme, wie hätten wir 
nach Ihrer Meinung zu operiren ? worauf dann der Erzherzog 
den befannten Plan ffizzirte, vor Allem mit vereinter Offenfive 
Sübddeutjchland zu überwältigen. Über den weiteren Verlauf des 
Geſprächs berichtet mein Gewährsmann: 

Nach einem kleinen Diner auf der öfterreichiichen Botſchaft 
zu Ehren des Erzherzogs geruhte Se. Kaijerl. Hoheit mir anzu: 
vertrauen, er habe dem Kaiſer nicht verſchwiegen, daß die fran- 
zöfiiche Armee numeriſch viel zu ſchwach jet, um einen Krieg mit 
Deutihland aufzunehmen, jelbjt wenn man Ylgerien ganz von 
Truppen entblöße. ſterreich anlangend, jo habe er Napoleon 
gejagt, daß auf die Mitwirkung der Ef. f. Armee bei Beginn 
eines Kriegs nicht zu rechnen jei, da man mindejtens ſechs Wochen 
bedürfen werde, um die Mobilmachung zu vollenden. Napoleon 
babe ihm darauf geantwortet, er werde einen General nach Wien 
ſchicken, mit allen Etats, die hoffentlich dem öfterreichiichen General: 
itab eine befjere Meinung von dem franzöfiichen Streitkräften 
geben würden.“ 

Indejjen hatte der Erzherzog dem Kaiſer noch mehr gejagt. 
Eine frühere Mittheilung Rothan's, Albrecht Habe am Schlufje 
des Beſuchs dem Kaiſer wiederholt: „Alſo, Site, vergeflen Sie 
nicht, das öfterreichiiche Heer wird jeine neue Urganijation erit 
im nächiten Jahre zum Abſchluß bringen“ — wird mir durch 
einen anderen Gewährsmann von völliger Zuverläffigfeit beftätigt. 
Er jei, bat er mir erzählt, im März 1870 auf der Straße in 
Paris zwei franzöfiichen, ihm befreundeten Xffizieren begegnet, 





48 9. v. Sybel, 


Lebrun fam im Juni nach Paris zurüd mit einer per 
jünlihen Erflärung des Kaiſers Franz Joſeph, daß Napoleon 
im Kriegsfalle auf eine bewafinete Theilnahme Öſterreichs nicht 
rechnen dürfe. 

Mit voller Wahrheit konnte ſpäter Leboeuf der parlamen- 
tarijchen Unterſuchungs-Kommiſſion erklären, daß der Erzherzog 
feine PBropofitionen gemacht; ich) habe mit ihm, jagte er, nur 
Beziehungen der Höflichkeit gehabt, und glaube nicht, dab wäh. 
rend jeines Aufenthaltes in Paris Unterhandlungen ftattgefunden 
haben. 

Noch muß ich aus dem weitern Verlaufe der öfterreichiichen 
Bolitif jener Zeit einen in der neuen Auflage verbeflerten Irrs 
thum meiner Darftellung erwähnen. leid) nachdem am 15. Juli 
in Paris der Beichlug zum preußifchen Kriege gefaßt worden, 
hatte am 18. die öjterreichtiche Regierung ihr Verbleiben in der 
Neutralität den Mächten angezeigt. Dem Grafen Beuft erjchien 
dies jehr bedenklich; er bejorgte deshalb eine bittere Entrüjtung 
Napoleon's. Er jchidte aljo am 20. Juli einen vertraulichen 
Brief an den Fürften Metternich, mit Anweiſung, wie er den 
kaiſerlichen Unwillen beſtens bejchwichtigen ſollte. Am Schlufje 
des Schreibens kam er auf Italien und bemerkte, die Italiener 
würden nur dann mit Herz und Seele für die Sache Frankreichs 
gewonnen werden, wenn man ihnen den römiſchen Dorn heraus- 
zöge, aljo ihren Truppen, jobald die franzöfiiche Bejagung den 
Ktirchenjtaat räume, den jofortigen Einmarſch geitatte.e Nun war 
es jeit 1861 weltbefannt, worin „der römiche Dorn“ beitand, 
nämlich in dem franzöjiichen Verbot der Roma capitale, in dem 
Berbote, Nom zur Hauptjtadt des Königreichs Italien zu machen. 
Sch verstand aljo Beuſt's Meinung dahin, nach dem Abzug der 
franzöjiichen Brigade den Italienern die Beſitznahme der Haupt— 
jtadt zu erlauben. 

Aber von der berufeniten Seite bin ich jeßt belehrt worden, 
daß Dies ein Irrthum war — den übrigens alle franzöfijchen 
Staatsmänmer nach der Lektüre des Briefes vom 20. Juli getheilt 
haben —, dal Beujt den Stalienern zwar die Belegung des 
Patrimoniums Petri gejtattet, die Stadt Nom aber der Herrichaft 





50 9. v. Subel, 


Öffentliche Meinung ſeines Landes bäumte fich letdenichaftlich gegen 
dieje Selbjtbejchränfung auf, fo daß er zur Sicherung feines 
Throns und jeiner Dynaftie e3 für nöthig hielt, nach Rompen- 
fationen zu jtreben, fich wenn möglich mit dem gewaltig heran- 
gewachjenen Preußen darüber zu verjtändigen, und big dies geluns 
gen, gegen die Vollendung der deutjchen Einheit, auf Grund 
einer jaljchen Auslegung des Prager Friedens, ſein Veto einzu« 
legen. Da jedod) feine Kompenjation erlangt wurde, blieb das 
Verhältnis der beiden Regierungen ein gejpanntes, und bet dem 
franzöjiichen Volke, deſſen große Mehrheit jonft bei fortichreitendem 
Gedeihn der materiellen Intereſſen eifrig Die Fortdauer des 
Friedens wünjchte, jegte jich eine tiefe Mißſtimmung, um nicht 
zu jagen, ein offener Haß gegen das „herrichjüchtige* Preußen 
und das „undankbare“ Italien fe. In einem Augenblide 
bejonderer Aufregung über belgijche und badiſche Vorgänge jchlug 
dann Napoleon im Frühling 1869 den Höfen von Wien und 
Florenz einen offenfiven Dreibund gegen Preußen vor. 

Indeſſen wollten die beiden ‚sreunde nur von einem Ber: 
theidigungsbunde unter jtarfen Vorbehalten wiſſen. Auch zeigte 
ih, daß Bismard jich durchaus nicht eilig um die Annerion der 
deutichen Südſtaaten bemühte, und jo jchob Napoleon die Ratis 
jifation des Dreibundes auf unbejtimmte Zeit zurüd und ſagte: 
wenn Bismarck nichts überjtürzt und die Zeit für feine Pläne 
wirfen läßt, jo wird jich allmählich auch das franzöfifche Vol 
an die deutjche Einheit wie an ein Naturereignid gewöhnen. 

Er war damals ſoeben von einem lebensgeführlichen Anfall 
jeines chroniichen Nieren= und Blajenleidens erftanden und fühlte 
jeine Kraft gebrochen und die Hoffnung auf ein höheres Alter 
verſchwunden. Unter dieien Umſtänden fam er zu dem Entſchluſſe, 
die Feſtigkeit ſeines Throns durch populäre Mittel zu ftärfen, 
durdy Erweiterung der Rechte der Wolfsvertretimg und durch 
Übertragumg der Negierungsgewalt an ein verantwortliches Mini— 
jterium. Zum Leiter desſelben erwählte er den Abgeordneten 
Emil Ollivier, der allem jeit 1866 unaufhörlich zum Frieden 
und zur Anerkennung Deutſchlands gemahnt hatte So wollte 
Cäſar zum fonjtitutionellen Möonarchen werden, um zu erlangen, 





62 H. v. Sybel, 


weiſe gegen niemand eine Mittheilung über den Inhalt. Die 
Ärzte hatten gewiſſe Operationen beantragt, Napoleon jedoch war 
der Überzeugung, die Operation fönnte gelingen, er aber würde 
fie nicht aushalten, was 1873 ſein Tod auch bejtätigt hat. Nun 
jtelle man fi) feine Lage vor. Elende Schmerzen bei jedem 
Schritte des Neitpferdes und bei jedem Rütteln de Wagens, und 
dazu auch beim Gehen jchmerzhafte Unbehülflichkett. Ein Augen» 
zeuge, der feinen kurzen Spaziergang auf der Terraſſe des Tutilerien- 
gartens zwijchen zwei Sigungen beobachten konnte, hat mir Das 
Bild geichildert, wie der Kaijer, mit dem einen Arm geitügt auf 
den ihm vertrauten General Beville, mit dem andern auf den 
eine3 jungen Adjutanten, langjam mit jchleifendem Schritte ſich 
fortbewegte. Bei einer ähnlichen Promenade bejuchte ihn ſeine 
Koujine, die Brinzeß Mathilde; als fie ihn in der Nähe jah, 
rief jie aus: Um Gott, auf diejen Süßen wollen Sie in den Krieg 
marjchiren? Gewiß, er wollte es nicht, aber die Krankheit jelbit 
nahm jeinem Geiſte die zum Widerſtand erforderlichen Sträfte. 
Dazu Hatte er jeit dem 2. Januar ſich zum fonititutionellen 
Monarchen gemacht und fühlte fich nicht mehr in der Yage, mit 
durchgreifendem Ernſte dem jich ihm aufdringenden Striegslärmen 
Ruhe zu gebieten. Und welch ein Dajein itand ihm dann bevor! 
Nenn glänzende Siege jeine Dyynajtie bejejtigen ſollten, jo mußte 
er, der durd) und durch Eranfe, feinen Augenblid ſchmerzensfreie 
Mann, den Lberbefehl über die Armee führen. Denn ein 
triumphirender Bazaine, warum jollte er mit den Bonaparte's 
anders verfahren, als einſt der erite Bonaparte mit der damaligen 
Regierung, dem Direktorium, verfahren war? 

Immer that Napoleon, was cr vermochte, den Krieg zu 
vermeiden. Am Vormittag des 6. Juli trat der Kronrath zur 
Prüfung des Gramont'ſchen Entwurf der der Stammer zu 
gebenden Erklärung über die Kandidatur Hohenzollern zujammen. 
Ic habe den Verlauf nad) den Ausſagen des damals Ollivier 
nahe ſtehenden Thiers und Des Kriegsminiſters Leboeuf vor 
der parlamentarichen Untertuchungsfommijjion Bd. 7, 276 bes 
richtet. Wie erquiclich wäre es Ende 1871 für den unglüdlichen 
Leboenf und jene Hörer geweſen, wenn der General die Schuld 





| 54 9. v. Sybel, 


die Spezialdebatte über die einzelnen Säte des Entwurfd und 
drudt die kriegeriſchen Amendements de3 Kaiſers wörtlich ab. 
Trotz des Widerjpruchd mehrerer Miniſter habe der Kaiſer fie 
energijch durchgeſetzt, insbeſondere den drohenden Schlukjat, der 
die Thüre zu einer friedlichen Löſung verjchloß, jagt der Artikel. 

Dieje Mittheilung, wenige Monate nach dem Tode des 
Kaiſers veröffentlicht, machte großes Aufjehen und rief Heftige 
Widerſprüche und Erfundigungen über ihren Verfaſſer hervor. 
Ein ehemaliger Abgeordneter, Darimon!), fragte einen früheren 
Beamten des auswärtigen Amtes, den Baron ©. U. (ich zweifle 
nit St. Andre), der in nahen Beziefungen zu Gramont ftand. 
Er jagte, der Artikel jet unter der Inſpiration Gramont's 
redigirt worden, der ermüdet und beläftigt Dadurch geweſen, DaB 
man fortfahre, ihm die Verantwortung für den Strieg zuzufchieben. 
Darimon bemerft nod), der Umstand, daß Gramont den Artikel 
nie dementirt hat, wie das freilich ſchwierig gewejen, fünne jchon 
für ein Geſtändnis gelten, und jo erjcheine der Artifel als ein 
geichichtliche8 Dokument eriten Ranges. Uffenbar hat Darimon 
die früheren Ausjagen Thiers’ und Leboeuf's nicht gefannt oder 
wieder vergeijen, jonjt würde auch ihm Gramont's verläums 
derijche Erfindung im Gegenjage zu Leboeuf's ehrenhafter Offen⸗ 
beit jofort im richtigen Xichte erſchienen jein. Wie vieler ſolcher 
Erdichtungen ſich Gramont ſchuldig gemacht, darüber verweiſe ich 
auf die Abhandlung am Schlujfe meines fiebenten Bandes. 

Übrigens hat Gramont bei den hejtigen Angriffen, die der 
Artitel erfuhr, doch einige Scham empfunden, allerdings nicht den 
Inhalt dementirt, aber doch, um feinen Verdacht über jeine 
Autorichaft auffommen zu laſſen, Herrn Ullivier und einem 
anderen Herrn, von dem Darimon den Vorgang erfahren hat, 
eine nene Erfindung mitgetheilt, ein untreuer Sekretär babe ihm 
jeine Aufzeichnungen über den Kronrath des 6. Juli geftohlen 
und ſie dann in Brüjjel veröffentlicht. Die Gehäfjigfeit feines 
Verfahrens wird dadurch freilid) nicht abgejchwächt. Nach mehrs 
jachen anderen Proben halte ich es übrigen? für ganz möglich, 

1) Bgl. defien Notes p. 8. à l’histoire de la guerre de 1870. Paris 
1888. 5.52 ff. 





66 H. dv. Sybel, 


ungenannten 5reunde?!), daß er mit Bistum und Metternich nebit 
den SItalienern Nigra und Vimercati am 15. Juli den Entwurf 
eines in Wien und in Florenz bereits gebilligten Vertrags zwiſchen 
Dfterreih und Italien in drei Artikeln bejprochen hätte, worin 
die beiden Mächte ic) zur Kriegserflärung gegen Preußen in 
beftimmter Friſt verpflichteten. Hier it die Phantaſie des Herzogs 
noch unglüdlicher al8 im vorigen Fall gewejen. Denn der Plan 
eines Sonderbunds der beiden Mächte ijt zwar von Öſterreich 
den Italtenern vorgejchlagen worden, aber nicht am 15., jondern 
erft am 25. Juli, nachdem beide Mächte jeit mehreren Tagen 
ihre Neutralität erklärt, und Beuft den franzöfiichen Antrag auf 
Kricgshülfe Fategoriich abgelehnt Hatte. Der Entwurf für den 
Sonderbund (in acht, nicht in drei Artifeln) wurde erſt im Auguſt 
der franzöfiichen Regierung, und nur deshalb vorgelegt, weil ſein 
jiebenter Artifel eine Klauſel über die römijche Trage enthielt. 


Sramont ließ ſich dies Alles nicht anfechten, ſondern juchte 
feine Dichtung von einem völlig verabredeten und nur noch nicht 
mit der lebten Bejtätigung verjchenen Kriegsbunde bei der nädhiten 
Gelegenheit durch neue Variationen in der Datirung und ein: 
zelnen Umständen zu errettcr. Im emer Streitjchrift gegen den 
Prinzen Napoleon wiederholte er 1878 die Mär von jeiner Unter: 
handlung mit den obengenannten vier Herrn, dieſes Mal auf 
Abſchluß der großen Zripleallianz gegen Preußen, über welche 
man am 18. Juli 1870 (aljo nicht am 24., nicht am 18., wie 
früher behauptet) zum Einverſtändnis gefommen fei. Alles war 
ebenfo grundlo3 wie die früheren Fabeln. ALS die jcharfjinnige 
Abhandlung veröffentlicht war, erinnerte Graf Vitzthum den 
Herzog brieflicd) an die Ihatjache, daß er am 15. Juli mit ihn 
nur ein furzes Gejpräd) von zehn Minuten in Gegenwart 
Metternich's gehabt, wo Gramont ſich mit wahrer Wut gegen 
den Kongreßplan des Kaiſers geäußert: gleich nachher jet er 
(Vitzthum) nad) Wien abgereiit, jene Konferenz am 18. babe 
aljo nicht in der angegebenen Weiſe jtattfinden fünnen. Ich jeße 


Y, Der Brief ift von dieſem joeben im Figaro, 17. avril 1895 vers 
öffentlicht worden. 





68 9. v. Sybel, 


Berjendung von Bismard’3 Zeitungstelegramm für eine Bes 
ichimpfung Frankreichs erflärten.!) 


Hier haben wir den ganzen Gramont. Er bfies die Kriegs— 
trompete, jo lange die Striegserflärung in Frankreich populär war. 
Als jich dieſes Blatt wandte, eignete er jich hinterher Napoleon’3 
Friedensvorſchläge an und citirte zum Beweiſe dafür eine Schrift, 
in der das Gegentheil jeiner Angaben fteht. Ob er fie jelbft 
nicht gelefen, oder ob er geglaubt, Vitzthum würde eine alte 
Brojchüre nicht nachichlagen, laſſe ich dahingeitellt. 

Auch diefe Betrachtungen zeigen uns aljo, wie in den ver: 
hängnisvollen Tagen vom 5. bis zum 15. Suli Napoleon fort 
und fort zu einer PBolitif des Friedens gedrängt hat. Am 5. und 6. 
fordert er eme milde Erklärung an die Kammer, am 10. jchreibt 
er geheim an den Prinzen Leopold, ſein Nüdtritt jet dag einzige 
Mittel, den Frieden zu erhalten; am 12. beruft er den italienischen 
Gejandten Nigra zu einer bejondern Audienz, um ihn mit einer 
telegraphiichen Botſchaft an Victor Emanuel zu beauftragen, 
durch den Rücktritt des Prinzen jei jeder Grund zum Kriege be- 
jeitigt; endlid) am 14. klammert er ſich im letzten Momente an 
jenen alten Lieblingsgedanfen, einen europätichen Kongreß, um 
den Bruch zu verhüten. Als trogdem der Krieg entjchieden war, 
iendet er am 15. durch Vitzthum die Bitte an Franz Joſeph, 
Diterreid) möge den Kongreß veranlafjen; zwei engliſchen Bejuchern 
jagt er damals, die Macht jet ihm aus den Händen geglitten, 
und jchreibt an die Königin von Holland, nicht er habe Ddiefen 
Krieg veranlaßt, jondern die aufgeregte öffentliche Meinung. Alle 





» Diefe Angaben bejtätigen in allen Punkten meine Darſtellung ber 
Eigungen am 14. Juli 7, 336 ff. Übrigens bemerfe ich, daf Herr v. Lano 
eine Erzählung des Miniſters Louvet anführt, nad) der am Nachmittag des 
14. Gramont die erjte Erwähnung von einem Kongreſſe gemacht hätte. 
Lano ijt, wie wir weiter jehen werden, ein jehr unzuverläjliger Gewährs⸗ 
mann; wenn überhaupt etwas an der Notiz iſt, jo hat Gramont vielleicht 
auf das Trängen des Staijers nah einem friedliden Ausweg auf einen 
Kongreß Hingewiejen, was dann der Saijer lebhaft aufgriff und zähe feſt— 
hielt. Gramont's eigne Taritellung (France et Prusse p. 212: läßt deutlich 
jeinen W®iderwillen gegen den Gedanken erkennen. 





60 H. v. Sybel, 


Ehe ſchwamm ſie in Glück und Lebensluſt. Sehr ſchnell hatte ſie 
mit weiblichem Takte ſich in die würdige Repräſentation ihrer hohen 
Stellung gefunden; von geiſtigen oder politiſchen Dingen war 
damals bei ihr keine Rede; als der Kaiſer bei ſeinem Aufbruch 
zum italieniſchen Kriege ſie zur Regentin während ſeiner Abweſen⸗ 
heit ernannte, hatte ſie kein anderes Gefühl als Schmerz über 
die Trennung und Sorge über die Gefahren des Kriegs. Oft 
mußte jie auf den Balfon hinaustreten, um ausmarjchirende 
Negimenter unter Jubelrufen vorüber defiliren zu jehn: dann 
grüßte und winfte fie freundlich, aber unter Thränen und Schluchzen: 
unfere arme Kaijerin, jchrieb ihr alter Freund Merimee, hat ver: 
weinte Augen, did wie Eier. Die Kürze der Trennung erjparte 
ihr die Regierungsforgen; der einzige Wunſch, den fie als Regentin 
geäußert hat, war der möglichit raſche Friedensſchluß. Er wurde 
ihr erfüllt, jchon damals nahm der Zorn der revolutionären 
Parteien ſie zur Zielfcheibe; fie jei es gewejen, welche ihren 
Gemahl zum vorzeitigen Abbruch eines großen Befreiungskriegs 
bejtimmt hätte. Es war aus der Luft gegriffen und die wahren 
Urſachen des Friedens von VBillafranca lagen offen vor aller Welt 
Augen. Eugenie fonnte jid) wieder ihrer bisherigen Sauptarbeit 
widmen, der Herrſchaft über die jährlichen Schöpfungen der Barijer 
und damit der europäischen Moden. Dieje Sorge für die äußere 
Erjcheinung war hier begreiflich; es verlohnte jich bet ihr, ſich zu 
ſchmücken. Denn fie war von Hinreigender Schönheit und zugleich 
von jeltner natürlicher Anmuth. Als Bismard von einem Bejuche in 
Paris 1857 zurüdfam, erflärte er, vielerlei Schönes habe er dort 
gejehn, von Allem das Schönjte aber ſei Eugenie. Bet ihren Zu— 
ſammenkünften mit der Königiu Victoria gewann jie deren Herz, wie 
die Anerkennung der ältejten Tochter, jpäter unjerer Slatjerin Fried⸗ 
ri. Auch unjer Kronprinz hatte bei einen Beſuche in Paris ferne 
‚sreude an ihr. SZivar fand er fie nach ihrer Flöfterlichen Erziehung 
feuntnisarm und ſchwach gebildet. Sie fragte ihn einmal, ob er 
etiwas von der weißen Dame wiſſe, die im Berliner Schlofje umgehe. 
Gr antwortete jcherzend: Natürlic), das iſt ja cine meiner Tanten. 
Vie erjchredt jah fie ihn darauf aus großen Augen an und bezeigte 
ihm jeitdem eine Art von cigenthümlichem Reſpekt. Daneben aber 





62 9. dv. Sybel, 


Vermittler aller Art ſich um die Heilung des Bruchs bemühten. 
Es gelang denn auch, Eugenie, deren Mutterherz fie zu dem 
boffnungsvollen Sohne zog, zur Rückkehr zu beitimmen. Adh, 
jagte fie damald zu Merimee, wie bin ich unglüdlih; es gibt 
feine Eugenie mehr; es gibt nur noch eine Kaiferin. Es bezeichnet 
ihre Stimmung, daß eine fchon früher angeregte Sympathie für 
eine unglüdliche Borgängerin auf dem glänzenden franzöjiichen 
Throne, die Königin Marie Antoinette, damals zu voller Ents 
wicklung gelangte ; unermüdlich ftudirte ſie deren Gejchichte, ſammelte 
ihre Bilder und Handichriften, erneuerte Trianon, deren Lieblingsſitz, 
und richtete dort ein Mujeum für die Reliquien Dderjelben ein. 
Indeſſen begann doc ein letdliches Verhältnis zu dem Gemahl 
ſich wieder herzustellen, vollends als 1865 die Nemeſis über den 
Sünder hereinbrach, der erfte ftärfere Anfall der quälenden 
Krankheit, die ſeitdem den Weit jeine® Lebens vergiftete. Aus 
Meitleid und Dankbarkeit erwuchs, joviel man weiß, zwijchen ihnen 
eine von der Erinnerung an bejjere Tage durchwärmte, zwar 
nicht mehr zärtliche aber herzliche Sreundichaft. Um ihn in feinen 
Negierungsjorgen bei jeiner gejchwächten Kraft zu unterftügen, 
begann ſie fich für Politik zu interefjiren, jeßte fich mit den 
Minitern in Berbindung und gewann mit ihrem Klaren Verjtande 
bei ihnen wie bei dem Gemahl einen gewiljen, in ipätern Dar- 
Itellungen jehr übertriebenen Einflup. Ihr leitender Rathgeber war 
Rouher, damals ohne Zweifel der begabteite unter den franzöftichen 
Staatsmännern, im Innern ein Gegner der liberalen Tendenzen 
Ollivier's und der fonjtitutionellen Neigungen Napoleon's, m der 
auswärtigen Bolitif aber ein Mann des ‚sriedens und folglich ent» 
Ichiedener Widerjacher der Arkadier (vgl. 7, 80) die nur in kriegeriſchen 
Zriumphen die Rettung der Dynajtie und der Thronfolge des 
kaiſerlichen Prinzen erblidten. Nachdem ihn die liberale Strömung 
aus dem Miniſterium verdrängt hatte, jchlug er dem Statjerpaare, 
vor, die Etärfe der Krone ımd die Sicherung der Thronfolge 
auf friedlichen Wege durch em großes Plebiszit zu erreichen. Der 
Kaiſer hatte anfangs Bedenten, die Kaiſerin aber jtimmte freudig 
zu, und die Volksabſtimmung batte ein glänzendes Ergebnis. Die 
Arkadier aber gaben tbre Partie deshalb nod) nicht verloren. In 





64 9. v. Sybel, 


Nbitriche der Kammer die Armee jchwer reduzirt hätten umd ohne 
Bündniſſe em Krieg nicht zu wagen jei, und auf ihre frage Hatte 
Niel jelbit geantwortet: die Armee ift fertig, aber Ihre Allianzen 
find es noch nit. Die Allianzen waren auch 1870 nod 
nicht fertig. 

So wurde jie unaufhörlich durch zwei gleich ſtarke, aber 
einander entgegengejeßte Bejorgniffe aufgeregt, um den Sohn und 
um den Gemahl, um die möglichen Vortheile und die fichern 
Gefahren des Kriegs. Dft it jeitdem gejagt worden, ihr lirch— 
licher Eifer habe jie endlich unter Elerifalem Einfluß für den Krieg 
entichteden. Solche Einflüſſe hatten am Hofe zahlreiche Vertreter: 
eine Zeitlang erfreute jich ein Abbe Bauer von jüdischer Herkunft, 
der nad) Konvertitenweiſe zuerft mit asfetiichen, düftern Mienen 
einhertrat, großer Gunft vieler vornehmer Damen; eben Diele 
Beziehungen aber wurden für ihn jelbft mihlich und entzogen 
ihn die Gnade der Staijerin volljtändig. Gewiß, die Kaiſerin 
hatte eine glühende Verehrung für das Oberhaupt ihrer Kirche 
und wünfchte dringend, die rebelliichen Italiener von Rom fern 
zu halten. Diejelbe Abficht beieelte auch den Herzog von Gramont, 
der jonjt perjönlich bei der Kaiſerin ſchlechterdings feinen Einfluß 
bejaß ; ſie theilte Damals und jpäter das wegwerfende Urtheil 
ihres Gemahls über den eitlen Hohlkopf, und während diefer in 
blindem Dünkel die franzöfiiche Armee für fich allein jedem Gegner 
überlegen erachtete, Elang ihr ſtets Niel's Wort in das Chr: 
meine Armee iſt fertig, aber Ihre Allianzen find es noch nidht. 
Cie wünjchte aljo dringend einen Ausgleich mit Italien, der im 
Kriegsfall der Franzdfiichen Armee mehr ala 100000 Dann Ber: 
jtärfung geliefert Hätte. Aber jet 1861 hatte Italien dafür jtets 
die Überlaſſung Noms, die ihr unmöglich jchien, zur Bedingung 
gemacht. Alto wie jich enticheiden? Der nad) jemer Etellung 
als Präfident des Staatsraths durchaus zur Erkenntnis befähigte 
arten, jelbjt cin überzeugter Natholif, erklärt es völlig bejtimmt 
für eine Fabel, duß die Kaiſerin aus fatholiichem Eifer zum 
Ntriege getrieben babe. 

Überblickt man alle dieie Taten und erinnert jich dann der 
uriprünglichen Natur ımd des ganzen Lebensganges der Kaiſerin, 





66 9. v. Sybel, 


bätte. Mag nun vor dem Kriege die „Partei der Kaiſerin“ fie 
zu ihrem Ruhme erfunden, mögen nad) Sedan die Republikaner 
jie al8 grimmigfte Schmähung verbreitet haben: die Worte find 
in alle Bücher und alle Zeitungen übergegangen, Emer hat fie 
dem Andern nachgefagt, und jeßt heißt es: fie find weltbefannt 
und damit gewiß und wahrhaftig bewiejen. 

Weiterhin erfuhr dieſe Legende über den Urjprung des Kriegs 
ipeziellere Ausbildung in Bezug auf die enticheidenden Momente 
in der Vorbereitung des Kriegsbejchluffes, den 6., den 12., den 
14. Juli, für die Forſchung erwünjcht, da Hier die Mittel zur 
Prüfung vorliegen. 

Wir jahen, wie Gramont, furze Zeit nach Napoleon’3 Tod, 
in der Independance Belge die Entitehung feiner kriegeriſchen 
Parlamentsrede vom 6. Juli gejchildert hat: der Kaiſer habe ſich 
bei den erjten Berathungen am Abend des 5. höchſt friebfertig 
geäußert, dann aber in der Schlußſitzung am Morgen des 6. 
mit völlig veränderter Haltung mehrere unverhüllte Kriegs— 
Drohungen in den milden Entwurf des Miniſters hineingebracht. 


Darimon?), der Gramont’3 Autorjchaft entdedt und demnach 
die Erzählung für authentiiche Wahrheit gehalten Hat, fragt jich 
darauf, wie jei ein jolcher Sinneswecjjel des Kaiſers während 
einer furzen Nacht möglich gewejen? Er antwortet: man hat 
dies dem Einfluß -der Kaiſerin zugejchrieben, die jeit dem 3. 
höchit aufgeregt gewefen; man behauptet, nach den Sikungen 
am 5. habe fie mit dem Kaijer ein Geſpräch gehabt, das jich 
bis 1 Uhr Morgens fortgejegt Hätte, und defjen Folge jet 
die Umjtimmung des Kaiſers gewejen. 

Wir wiſſen nun aus Thiers’ und Leboeuf's Ausjagen, daß 
dDieje anonyme Behauptung falſch in ihrer Örundlage ift. Der 
Kaiſer Hat feine AUmjtimmung erfahren; er hat am 6. wie am 
5. feine friegerijche, jondern friedfertige AÄnderungen in Gramont's 
Entwurf durchgeſetzt. 

Sm Figaro (24. und 31. janvier 1894) hat Graf Steratry, 
der 1870 als cifriger Chauvinijt für den Strieg gearbeitet hat, 





Notes p. 72. 





68 9. dv. Sybel, 


gejeßted Verfahren, und nad) Mitternacht erobert Eugenie Die 
kaiſerliche Zuftimmung zu Gramont's eigenmächtiger Depeſche. 
In der Wirklichkeit fam Gramont um 4 Uhr Nachmittags zum 
Kaiſer nad) St. Cloud und Hatte mit ihm eine mehrftündige 
Verhandlung, bei welcher von einer Theilnahme der Kaiſerin 
nichts gejagt wird und welche troß des anfänglichen Widerſtrebens 
des Kaiſers damit endigte, Daß Diefer dem Minifter die Erhebung 
der neuen Forderung an König Wilhelm geſtattete. Damit fehrte 
Sramont nad) Paris zurüd und jandte das betreffende Tele- 
gramm um 7 Uhr Abends an Benedetti. Um 10 Uhr erhielt er 
aus St. Cloud einen Brief des Kaiſers, worin derjelbe emen 
Theil des Inhalts ihres Geſprächs wiederholte. Um 11 Uhr 45 
ſchickte der Minijter ein zweites Telegramm mit dem entiprechen- 
den Befehl an Benedetti. Schon die Daten diejer Pariſer Tele: 
gramme, die von Benedetti richtig empfangen und jpäter gedrudt 
worden find, reichen aus, die ganze nächtliche Szene m St. Cloud 
al3 ein Hirngefpinnſt darzuthun. 

Indeſſen noch abenteuerlicher und gehäjliger als dieje Er- 
findung iſt eine Schöpfung der Phantaſie ded Herrn v. Lano, 
von der ich Bier faum Notiz nehmen würde, wenn nicht Herr 
Geffcken (in den Münchener Neneften Nachrichten, 10., 12., 
13. April 1895) fie nach Deutjchland verpflanzt und fie zugleich 
in jeiner befannten magiftralen Sicherheit mit einer langen Reihe 
ungenauer und irriger Angaben verziert hätte. Da wird 3. 2. 
der belgische Eijenbahnftreit von 1869 ganz unbefangen unter 
den Fehlſchlägen des Minijteriums Illivier von 1870 aufgezählt; 
da wird berichtet, daß der jpaniche Antrag der Kandidatur 
Hohenzollern Ende März in Berlin gejcheitert jei, während der 
König die Ablehnung erſt am 24. Mpril und dann am 5. Mat 
nach) Madrid telegraphirte. Es iſt nicht weniger falſch, wenn 
von dem ſpaniſchen Botjchafter Tlozaga behauptet wird, er Habe 
alle Fäden in der Hand gehabt; in Wahrheit erfuhr er die Kan— 
didatur Dohenzollern wie die gewöhnlichen Menſchen erft am 
3. Juli: nicht er hat den rumäntichen Agenten Stratt nad) Sig- 
maringen gejchiekt, Jondern dieſer iſt aus eignem Entſchluſſe abs 
gereiit. Weiter: aus der Korreſpondenz PBismard’3 mit dem 





70 9. vd. Sybel, 


Darauf antwortete ein wohl unterrichteter Gegner im Figaro, 
11. November, Radziwill's Bericht hätte am 13. Juli noch gar 
nicht eriftirt, aljo hätte Benedetti eime Abjchrift nicht einjenden, 
und die Kaiſerin und Gramont eine ſolche nicht verbergen Fünnen. 
Auch ſtehe es jegt feit, daß Bismard die Fälſchung nicht an 
Radziwill's Bericht, ſondern an einer am 13. Abends erhaltenen 
Depeche Abeken’3 begangen habe. 


Dur) jo unbedeutende Thatjachen ließ ſich Herr v. Lano 
nicht erjchüttern. Er antwortete: Nadziwill oder Abefen, gleich- 
viel. Dann hat Benedetti eine Abjchrift der Depeiche Abefen 
eingejandt, und dieſe it auf Befehl der Kaiſerin jefretirt worden. 
Dieſe meine Darftellung Hat mir der Miniſterpräſident Olivier 
geliefert. 

Es iſt nun aus Benedetti's Buch gewiß, daß diejer feine 
Ahnung von der Exiſtenz der Depeche Abeken gehabt hat. Alſo 
heißt e8 hier wie oben: er konnte feine Abjchrift derjelben ein- 
jenden, Gramont fonnte dieje Abjchrift nicht der Kaiſerin vor- 
legen, die Kailerin Fonnte deren Sefretirung nicht befehlen. 
Herr v. Lano aber bleibt dabei, jo jei es gejchehn, ſo babe es 
ihm Ollivier verfichert. Nur jo weit hat cr einen Eindrud 
erfahren, daß er in der weitern Erörterung nicht mehr ausdrüd- 
ih von einem preußiichen Aftenjtüd, jondern nur unbejtimmt 
von einer Meittdeilung Benedetti's redet, deren Unterichlagung 
dag Streben der Sriegspartei zum Siege geführt habe. 

Was Olivier betrifft, jo hat dieſer ich auch gegen andere 
Perſonen bejchwert, daß Gramont die am 12. und 13. Juli mit 
Benedetti geführte Unterhandlung nur mit VBorwiljen des Kaiſers, 
ohne Mitwirkung des Miniſteriums, aljo jehr verfafjungswidrig 
geführt Habe.?) Auch Benedetti hat jich jpäter beklagt, dab das 
Miniſterium nicht auf Grund feiner Berichte der Legende von 
jener Bejchimpfung durch den König entgegengetreten jei. Als 
hienach aber Lano 1893 die beiden Herrn aufforderte, feine 
Erzählung öffentlich zu beitätigen, haben beide wohlweislich 


1) Darimon, Notes p. 79 ff. Diejelbe Beſchwerde hat der Mintiter 
Mege geführt. Ebenda p. 123 fi. 





12 9. dv. Sybel, 


folglich befahl fie, daß die beiden Herrn von der Sigung ferne 
gehalten würden, und veranlaßte die Unterjchlagung der beiden 
Zelegramme. So unterlag, verjichert Herr v. Zano, die Friedens⸗ 
partei, ihrer Führer beraubt, in der Nachtſitzung emem neuen 
Berbrechen der Kaiferin. 

Bon emem Beweiſe ift auch bier feine Rede. Louvet's 
vorher mitgetheilte Ausſage enthält nicht die leiſeſte Andeutung 
Darüber, jo menig wie über die angebliche Sefretirung eines 
Benedetti'ſchen Berichte. 

Übrigens bin ich in der Lage, der von dem abwejenden 
Louvet gegebenen Schilderung der Vorgänge in Samt Cloud 
zwilchen den beiden Sitzungen den Bericht eines Anmwejenden, 
eines franzöfiichen Tffizier, entgegenzujtellen, der mir von emem 
vertrauten Freunde desjelben mitgetheilt worden ift.?) 

„An jenem Tage, dem 14. Juli, war eine Anzahl vom 
Kaiſer geichägter Offiziere zum Diner nad) Saint Cloud befohlen. 
Als der Kaifer gleich nach 6 Uhr aus der Sitzung zurüdfehrte, 
trat er freudeftrahlend in den Saal ein, ging auf die Offiziere 
zu und fragte: nun, meine Herren, find Ihre Effekten für den 
Feldzug bereit? Ein braujendes Ia war die Antwort. Wohl, 
jagte der Kaiſer mit fröhlichem Ausdrude, dann paden Sie 
wieder aus; denn, Gott jei Dank, der Friede ift gefichert. Bei 
den Offizieren fand dieſe Nachricht nicht gerade einſtimmigen 
Beifall, natürlich aber konnte fein Widerſpruch laut werden. 
Während der ganzen Dauer der Tafel blieb der Kaiſer in Heiterfter 
Etimmung, jcherzte, erzählte kleine Geichichten, plauderte mit den 
Damen. Bald nad) Tiich zog er fi in ſein Kabinet zurüd. 
Nac einer Weile Hieß es, der Herzog von Öramont und Baron 
Serome David jeien angefommen und jogleich zum Kaiſer geführt 
worden. Später ließ der Kaiſer feine Gemahlin bitten, herauf- 
zufommen. Als darauf nah dem Schluß der Berathung der 
Katjer wieder im Saale erichien, war jein Ausjehn in erjchredender 
Weiſe verwandelt, dag Gelicht bleich wie der Tod, die Züge 


1) Leider darf ih die beiden Namen nicht nennen, um fo ficherer 
aber ihre abiolute Zuverläſſigkeit verfichern. 





74 H. v. Sybel, 


auf und nieder; zu ihren Füßen lag die zum Theil feitlich 
beleuchtete Riejenftadt und ließ den Kriegslärm wie ein dumpfes 
Braufen herauf jchallen. Die Kaifern war im Kontrafte zu 
diefem Bilde jo ſchweigſam und tieftraurig, daß endlich Der 
Begleiter nach der Urſache fragte. Da brach fie aus: Wie follte 
ich nicht erjchüttert jein? ein Land wie unfer Frankreich, in vollem 
Frieden gedeihend, wird in einen Kampf verwidelt, bei dem im 
beiten Falle jo viel Zeritörung, fo viel Sammer ficher iſt. Wohl 
handelt es ſich um die Ehre Frankreichs; aber welches Unheil, wenn 
das Glüd uns zuwider wäre? Wir haben Alles auf Eine Karte 
gefeßt; wenn wir nicht fiegen, jo ftürzen wir in den Abgrund 
der entjeßlichiten Revolution, die man je geſehn Hat.?) 

Der Gebrauch endlich, den Herr Geffden von Lano's Ent- 
hüllungen über den 14. Juli madt, ift jo unglaublich, daß jede 
Urſache außer einer abjoluten Gedanfenlofigfeit unfindbar bleibt. 
Ganz gelafjen erzählt er, Gramont, der am Morgen des 14. 
Benedetti's Bericht erhalten, jei damit, nach) einer furzen Begeg- 
nung mit Zord Lyons, in die Quilerien gegangen, aber nicht 
jeiner Pflicht gemäß zum Kaiſer, fondern zur Kaiſerin; er zeigte 
ihr den Bericht, der jede Infultirung Benedetti's ausjchloß und 
empfing von ihr die dringende Bitte, das Aftenjtüd geheim zu 
halten. Gramont that es, ging in die Kammern, acceptirte dort 
die Mär von der Beleidigung Benedetti’3, die er noch) Morgens 
Lyons gegenüber in Abrede geftellt hatte (die Kammerfigung und 
das Gerpräch mit Lyons haben für Geffcken am jelben Tage, dem 
14. Juli, ftattgefunden) und forderte die Mittel für den Krieg. 
Bergeblich erhoben Thier3 und Gambetta Widerjprud); fie wurden 
niedergejchrien. Geffcken fügt noch Hinzu, Sybel erwähne eme 
weitere Fäljchung, deren ſich Gramont in diejer Sitzung ſchuldig 
gemacht u. ſ. w. 

Sch verbitte mir, meine Angaben in die Reihe diejer Thor: 
heiten verflochten zu jehn: die berühmte Sigung, die der Welt 
den Krieg verkündete, fand nicht, wie hier erzählt wird, am 14., 
jondern am 15. Juli ftatt. Der 14. war völlig ausgefüllt durch 
die drei Stronräthe, Deren zweiter den Frieden, der dritte ben 


1) Sarette 2, 101. 








176 9. v. Sybel, 


und Beuft’3 unmiderleglich wäre, jo würde Bismarck in viel höherem 
Maße als bisher für den Vater des Kriegs zu halten jein. Offenbar 
wäre dieſer Schluß nur dann bündig, wenn fein Anderer als dieſe 
Drei den Krieg hätte veranlajjen fünnen; er fällt aber ohne weiters 
zujammen durd) die Thatjache, dat in Paris Gramont und Xeboeuf, 
jowie die Arfadier und die Sllerifalen gegen Napoleon’3 Willen 
bei dem aftiven Theil der Bevölferung den Kampfzorn entflammt 
und Damit den Bruch unvermeidlich gemacht haben. 

Gewichtiger als dieſe Dinge find die Ausführungen der 
Herrn Delbrüäd und Brandenburg (M. Allg. Ztg., Beilage 11. 
u. 12. Febr. 1895) über Bismard’s Thätigfeit bei den Verhand- 
(lungen über die Kandidatur Hohenzollern, weil fie jich auf die 
neuen Mittheilungen in den „Aufzeichnungen aus dem Leben des 
(jegigen Königs, damaligen Fürſten) Karl von Rumänien“ ſtützen, 
welche, von dem Bruder des Kandidaten herrührend, eine Quelle 
eriten Ranges darftellen. „Da durch dieſe“, jagt Delbrüd, „die 
Hauptthatjachen heraus find, kann über Bismarck's Verhalten fem 
Bweifel mehr jein.“ 

Den Werth der Quelle jtelle ich nicht in Abrede. Aber ich 
fonjtatire, daß die Folgerungen der beiden Herrn nicht aus dem 
richtig erkannten Inhalt, jondern aus gänzlichem Mißverſtändnis 
derjelben gezogen find. 

Sch erläutere die durch einige Bemerkungen über die Bes 
ichaffenheit der Aufzeichnungen. 

Auf den eriten Bli iſt es deutlich, daß der hohe Verfaffer 
nicht an eine volljtändige, zujammenhängende Gejchichte der ſpaniſchen 
Kandidatur ſeines Bruders gedacht, jondern einfach aufgezeichnet 
hat, ‘was ihm von jeinem Berwandten oder jonjt gemeldet wurde. 
Kein Schluß wäre verfehrter, ald daß cin anderweitig bezeugtes 
Ereignis deshalb als nicht geichehen zu betrachten wäre, weil es 
in den Aufzeichnungen nicht erwähnt wird. Diejen Fehler macht 
Herr Brandenburg mehrfach, indem er aus diefem Grunde bie 
völlig jichere Thatjache des erſten ſpaniſchen Anklopfens bei den 
Hohenzollern im April 1869 und den nicht weniger beglaubigten 
Beicheid des Fürſten Anton an den ſpaniſchen Agenten im Seps 
tember 1869 aus der Geichichte jtreichen will. 





18 9. vd. Sybel, 


diejem Sinne an König Wilhelm gejchrieben, und dieſer ihm jo- 
gleich) geantwortet, daß er mit dem Vorhaben einveritanden jei. 
In Wahrheit Hatte der Erbprinz den jehr verjtändigen Vorſatz, 
dem Könige jenen Entſchluß erſt dann mitzutheilen, wenn trog 
der bisherigen Ablehnungen ein neues ſpaniſches Angebot an ihn 
gelangte. So liegt hier im Tagebuche wieder ein nachträglich 
gemachter Zujag über dag allerdings längſt befannte Creignis 
des 21. Juni vor; Herr Brandenburg aber hat fich durch die 
Faſſung des Saßes verleiten laſſen, den ganzen Inhalt desjelben 
zum Datum de d. zu rechnen, und jo zu der allerdings ganz 
neuen Entdedung zu gelangen, daß der König ſchon am 4. oder 
5. Juni Kenntni® von der Sinnesänderung des Erbprinzen er: 
halten habe, worauf der Kritifer dann jofort weitere politiiche 
Schlüffe aufbaut, die natürlicd) jedes Grundes entbehren. 

Welche Abweichungen von meiner Darjtellung der Gejinnung 
Bismarck's folgern nun meine Gegner aus den Angaben des 
Tagebuchs? 

Unter dem 6. Juli berichtet Fürſt Karl von einem Briefe 
des Königs Wilhelm an den Fürſten Anton, offenbar von dem- 
jelben Datum, worin u. U. der König bedauere, daß man der 
früher geäußerten Meinung des Fürjten von Hohenzollern, man 
müſſe jich der Zujtimmung Frankreichs verfichern, keine Folge 
gegeben habe, weil General Prim die Geheimhaltung gewünsdt, 
und Graf Bismard geltend gemacht habe, daß jede Nation ji 
ihren König wählen dürfe, ohne andere zu befragen. Den Wort⸗ 
laut des Briefs rüdt Fürſt Karl nicht em. 

Aus diejer Notiz zieht num Herr Brandenburg wieder weit- 
tragende Schlüjfe. Der Antrag des Fürſten Anton Hätte den 
Frieden gefichert; der Umjtand, daß Bismard ihn befämpft und 
die Verwerfung enticheidet, beweilt, daß der Kanzler nicht jo 
unerhebliche Vortheile aus der Thronbejteigung Leopold's zu 
ziehen gehofft, wie meine Darftellung e8 im Gegenſatze zu ben 
Angaben des Tagebuchs jchildert!); er habe ein preußiich-jpaniiches 
on Ich habe allerdings die Vortheile, die Bismarck von ber Thron 
beſteigung Leopold's erwartete, als unerheblich bezeichnet. Aber ich habe 


damit nicht Bismarck's Anſicht wiedergeben wollen; es iſt lediglich mein 
eignes, auf des Königs Auffaſſung geſtütztes Urtheil. 





80 H v. Enbel, 


keit des Geheimniſſes überzeugt. Er ſchrieb am 20. März, das 
Geheimnis müſſe wenigſtens vorläufig gewahrt werden. Ebenſo 
lehnte er am 16. April einen Vorſchlag ſeines Sohnes Karl ab, 
weil durch deſſen Ausführung das bisher muſterhaft gewahrte 
Geheimnis verlegt und der Plan im Steime erfticht werden würde. 
Desgleihen am 22. April: Das Geheimnis von Spanien ift 
wunderbar gewahrt worden, und es ift von höchſter Wichtigfeit, 
dab es auch ferner, wenigftend von unferer Seite, gewahrt werde. 
Er freut fi), daß jogar Olozaga nichts davon erfahren hat. 

Und derjelbe Fürſt, der während der ganzen Dauer dieſer 
Berathung das Geheimnis ftreng zu wahren einjchärft, ſoll in 
einem Moment derjelben den Vorjchlag einer Mittheilung Darüber 
an Napoleon gemacht haben ? 

Ich kann nicht helfen, es ift dag wieder nichts als ein Miß—⸗ 
veritehn des königlichen Brief vom 6. Juli dur) die Herrn 
Recenjenten. 

Der König erwähnt in jenem Briefe nicht einen im März 
oder April gemachten, von Bismarck abgewicjenen Vorſchlag 
des Fürſten, jondern eine früher geäußerte Meinung des 
jelben, der Folge zu geben nad) der Ausbedingung ftrengen Ges 
heimniſſes durch Prim unmöglich geworden jei. Die Frage drängt 
fich auf: wann ijt diefe frühere Äußerung gefchehn ? 

Die Antwort liegt allerdings jehr nahe. 

Im März 1870, wo der Fürſt Anton bei der inneren Be— 
ruhigung Spaniens die Annahme der Kandidatur lebhaft wünſchte, 
bat er auf jtrenges Geheimnis der Verhandlung gedrungen. 
Tagegen im September 1869, wo die revolutionären Wogen in 
Spanien noch hoc) gingen, wollte er jo wenig wie jein Eohn 
von der Kandidatur etwas wiljen. Indeſſen kleideten beide, Water 
und Sohn, die Ablehnung höflicher Weile in bedingte Form ein, 
und zwar entlie Fürſt Anton Herrn Salazar mit dem Bejcheibe, 
che er die gyrage näher erwägen fünne, müſſe Spanien ihm erjt 
die Zuſtimmung Napoleon’s verbürgen, während der Erbprinz 
dem Agenten jonftige jchwere Bedingungen jtellte, Einſtimmigkeit 
der Wahl, Fehlen eines Gegenfandidaten, feine Yeindieligfeiten 
gegen Bortugal. Der Fürſt hat jenen Vorgang und jeinen 





82 9. v. Sybel. 


betrachtet dann im September die für die Annahme der Kandidatur 
geſtellte Bedingung als eine unmöglich zu erfüllende Forderung, 
mithin als eine deutliche Form der Ablehnung. Aber im März 1870 
hat ſich dies Alles bei ihm in das Gegentheil umgeſetzt. Das 
Tagebuch zeigt es, daß er vom erſten Augenblick für die Größe 
und den Werth der Kandidatur begeiſtert iſt, daß er unaufhörlich 
ſich bemüht, durch die Bewahrung des Geheimniſſes das Gelingen 
trotz des ſpaniſchen Parteihaders zu ſichern und nach der Ab⸗ 
lehnung durch den König die Sache auf's Neue in Gang zu 
ſetzen. Wird nun irgend ein Menſch ein ſolches Auftreten des 
Fürſten für möglich Halten bei Fortdauer jener frühern Über: 
zeugung von Napoleon’3 feindfeligem Verbote der Kandidatur? 
Sein fpäteres Verhalten gibt darauf die bündigfte Antwort. Als 
im Juli der Kriegslärm der Pariſer beginnt, iſt er jofort ent- 
ihloffen, daß wegen jener dynaftiichen Interefjen der Friede 
Deutichlands und Europas nicht gejtört werden dürfe; er vollzieht 
den Berzicht ſeines Sohnes, fobald er weiß, daß König Wilhelm 
nicht8 Dagegen einwendet. Hätte er im März noch wie im 
September ein Veto Napoleon’3 vorausgejehn, ganz ſicher würde 
er daraufhin die Annahme der Kandidatur nicht in das Werf 
gejegt haben. Dazu fommt auch das beitimmte Zeugnis Bismard’3t), 
daß damals ſowohl er felbjt als auch Fürſt Anton nicht den 
geringiten Zweifel gehabt hätten, der befreundete und nahe ver- 
wandte Hohenzoller würde dem Statjer ein erwünſchterer Beherricher 
Spaniens fein al3 der feindliche Orleaniſt Montpenfier oder gar 
ein republifanischer Präfident. 

Alſo Anton's Umjtimmung it evident. Aber auch die Urſache 
derjelben it uns bezeugt. Der ald höchſt zuverläjfig befannte 
Times-Korreſpondent William Ruffel erzählt (my diary of the 
last war p. 97): „Ich ritt dann mit dem Brinzen Leopold. Er 
iprach von der Stellung, in die er Hinfichtlich des Kriegs gefommen 
war, wit einem Tone des Kummers, und was den Kaiſer anging, 
mit Entrüftung. Es war, jagte er, dem Kaijer vollfommen wohl« 
befannt, dat man mir im Herbſte 1869 den ſpaniſchen Thron 


1) Mittheilung an Lord Loftus. 





84 9. v. Sybel, 


zollern eingetreten fei, mit allen, auch den befannteften, That- 
jachen im Widerſpruch. Er hat jie nachdrüdlich unterjtügt, weil 
er jie vortheilhaft für Preußen erachtete und Napoleon eher für 
einen Freund als für einen Gegner derjelben hielt und jedenfalls 
auf defjen oft bewährte Kriegsicheu rechnete. Im übrigen waren 
gerade Damals, im Mai und Juni 1870, alle Gedanken Bismarck's 
auf eine längere Friedenspolitik gerichtet. Wohl fah er, mie 
immer jeit 1865, in der Vollendung der deutichen Einheit, in 
der Wiederaufrichtung des deutichen Reichs, das Schlußwort feiner 
Aufgabe. Aber cbento Hatte er jtet3 erklärt, Die gedeihliche Löſung 
dieſer Aufgabe jege das Berjchwinden der alten, im Süden noch 
fortbeftehenden NRafje-Antipathien und partifularen Eigenmwilligfeit 
voraus, und dafür jet das einzige Mittel eine langjährige gemein- 
jame riedensarbeit im Zollverein, die zu gründlicher gegenjeitiger 
Belanntichaft und dadurch zum Aufgeben des gegenjeitigen 
Argwohns und Mißtrauens führe. Es fei etwas Großes, hatte 
er zu Sudom gejagt, wenn dies bis zum Ende des Jahrhunderts, 
es jei ein Wunder Gottes, wenn es früher gelinge. Durd) einen 
franzöjischen Krieg konnte der äußere Anjchluß des Südens 
beſchleunigt, die innere Klärung und Bertiefung aber des Einheit» 
gedanfend nur geſtört werden. Schon nad) dieſer Auffafjung 
war Bismard 1870 von jedem friegeriichen Wunjche entfernt. 
Dean mag es loben oder tadeln, aber jo war es. 

E3 enthielt dann aud) die Thronrede zum Schluß des NReichs- 
tags am 26. Mat 1870 nicht die leijejte Dindeutung auf eine 
baldige Neiterführung des deutjchen Einheitöwerfd. Im Gegen: 
theil, jie jprac) die volle Zufriedenheit mit den bejtchenden Ver: 
hältnijjen, dem innern Ausbau des Nordbundes, der Entwicklung 
des Zollvereins und der vertragsmäßigen Verbindung mit Süd— 
deutjchland aus; demmach werde auch das Ausland anerkennen, 
dag der Nordbund die deutiche Volkskraft nicht zur Gefährdung, 
jondern zur Stütze des allgemeinen Friedens ausbilde. 

Tem entjprechend eilte nad) dem Schluß der Sejjion in 
Deutſchland Alles zum Genufje der ‘Ferien, der König, die Bundes- 
räthe, Die maßgebenden Miniſter, zu Badefuren, Yandleben, weiteren 
Reiſen. Da hinein fiel dann am 6. Juli, wie ein Donnerjchlag 





86 9. v. Sybel, 


des Prinzen vor. Wie alle Welt jagte er fich, damit jet der 
Handel beendet, und zwar ohne Genugthuung für Preußens Ehre, 
auf die man nad Erledigung der Hauptjache nicht wohl mehr 
zurüdfommen fünne. Er bejchloß, nicht weiter nad) Ems, jondern 
morgen nach Varzin zurüdzuretien, jedoch nicht mehr als Mintfter. 

Aber es follte anders fommen. Am Morgen des 13. Juli 
empfing er die erjte Nachricht, daß Gramont, mit dem Nüdtritt 
des Prinzen nicht zufrieden, weitere Forderungen erhebe, daß der 
preußiiche Botjichafter, Baron Werther, ſich von ihm die Beſtellung 
eines ungebührlichen Auftragg an den König hätte aufdringen 
laſſen. Da wurde Bismard das Herz wieder leicht. Jetzt war 
die Bahn auf's Neue eröffnet zu der Tilgung der von Gramont 
bisher gewagten Ehrverlegungen Preußens, ſei e8 durch Ver: 
handlung, jet e8 durch Blut. Indeſſen auch in diefem Augenblide 
höchſter Spannung verließ ihn feine jtolze und fichere Bejonnenheit 
nicht. Er befahl dem Baron Werther, den er nach jenem 
Ungejchiet nicht einen Tag länger in Paris lafjen wollte, er. jolle 
dem franzöfiichen Miniſter anzeigen, daß er zu emer Badekur 
Urlaub genommen habe und fein erjter Sefretär die Geſchäfte 
ernjtweilen führen werde. Bismarck wollte noch den Schein eines 
diplomatischen Bruchs vermeiden, welcher den Weg zu weitern 
Verhandlungen vielleicht verjperrt hätte. Bald nachher empfing 
er den Bejuch des englischen Botjchafters, Lord Augustus Loftus. 
Durch diejen wünjchte er, das engliiche Kabinet zu empfehlender 
Anmeldung und kräftiger Unterjtügung der preußiichen Forderungen 
in Paris zu beftimmen, wozu es bei der abjoluten Friedensliebe 
der engliichen Mintjter fein wirkfjameres Mittel geben fonnte, ala 
bei der Entrüftung der deutichen Nation über Frankreichs Injolenz 
die Erflärung der Sicherheit des Kriegs, wenn Preußens or: 
derungen nicht erfüllt würden. In diefem Sinne redete er mit 
Lord Auguftus, gleichjam jeden Sat mit Säbelflirren begleitend. 
Der Lord jtimmte Allem zu und berichtete deögleichen an jeinen 
Meinifter, nur zweifelnd an einer friedlichen Entſchließung der 
franzöfiichen Regierung. Freilich Hätte cr das Geſpräch nicht 
brieflich, jondern tefegraphiich nach Yondon, und ebenjo dort ſein 
Miniſter den Inhalt wieder telegraphiich nach) Paris berichten 





88 9. v. Sybel, 


Nun erinnere man fi), daß in der Nachmittagsjigung des 
14. Juli die Majorität des franzöfiichen Kronraths auf Betreiben 
des Kaiſers zu dem Beichluffe fam, die Mobilmachung zu ver- 
Ihieben und dafür am folgenden Tage an die Sammer eine 
Botjchaft zu jenden, des Inhalts, daß 1. durch die rüdhaltsloje 
Bujtimmung des Königs zum Verzicht des Prinzen die Frage in 
befriedigender Weiſe für die Gegenwart gelöft jei, 2. daß für die 
Sicherung der Zukunft die Regierung beſchloſſen habe, fi) an 
einen Kongreß der Großmächte zu wenden und dort die Feſt— 
jtellung eines allgemeinen völferrechtlichen Principg zu beantragen. 

Vergleicht man diefe Sätze mit Bismarck's Forderungen, To 
iſt e8 unleugbar, daß fie, wie miteinander verabredet, zujammen 
paſſen. Denn der erite Saß enthält die Zurüdnahme der neuen 
nad) Leopold’3 Rüdtritt erhobenen Forderungen und das pofitive 
Eingejtändni® der befriedigenden Löſung der Trage durch das 
Berfahren des Königs. E83 bedurfte feiner inhaltlichen Erweite⸗ 
rung, jondern nur einer augführlicheren Faſſung dieſes Satzes und 
dazu etwa eine Wiederholung der bereit? von Benedetti am 
9. Juli dem Könige vorgetragenen Motivirung der Gramont’schen 
Nede vom 6. Juli, jo waren Bismard’3 Forderungen erfüllt, 
und Damit ‚der Friede zwilchen den beiden großen Nationen 
gefichert. Diefe Gewißheit aber würde, wenn Loftus' Depejche 
in der That und nicht bloß nad) Gramont's Phantafie dem 
Kronrath vorgelegen hätte, dem Kaiſer und feinen Mmijtern, 
davon bin ich überzeugt, die Kraft zu fiegreichem Widerſtande 
gegen dag Kriegsgepolter Leboeuf's und jeiner Genoffen gegeben 
haben. Die in der Depeiche hervortretende Entichloffenheit und 
Mäpigung des deutjchen Staatdmannes hätte die nothwendige 
Ehrenerflärung ohne Blutvergießen erlangt. 

Auch hier fann ich nur wiederholen: mag man darüber 
jtreiten, ob dies em Glück oder ein Unglüd für Deutichland 
gewejen wäre, genug, es war jo. 

Aber es jcheint, Daß unſere modernen Germanen ganz jo 
wie ihre Vorfahren vor einem Jahrtaufend doch unter allen 
Ruhmestiteln für den höchſten den friegeriichen Siegeslorbeer 
halten. Sie wollen es nicht hören, daß der nationale Held, ber 





90 H. v. Sybel, 


ſeinen Räthen zu der Zurückweiſung Benedetti's entſchloſſen, hätte 
eine Steigerung des franzöſiſchen Hochmuths bewirken können. 
Ganz richtig hat alſo Felix Dahn in ſeiner ſonſt nicht von Irr⸗ 
thümern freien Feſtſchrift zum 1. April bemerkt, Bismarck's 
Streichungen hätten nur Milderungen des Textes bewirkt. Der 
übrig gebliebene Reſt der Emſer Depeſche iſt der wörtlich genaue 
Inhalt des Telegramms. 

Was nun die Wirkung desſelben betrifft, jo war fie bekannt⸗ 
fi) bet dem deutichen Volke gewaltig. König Wilhelm aber ſah 
in ihm nur die DBefolgung feines Befehls, durchaus feine Ger 
führdung des Friedens, fondern jagte beim Abſchied zu Benedettt: 
jest werden die Miniſterien die Verhandlung fortjegen. In der 
That fand auch auf der franzöfiichen Seite Benedetti in dem 
Telegramme nicht? als die unbedenfliche, vom König veranlaßte, 
Bekanntmachung einer richtigen Thatfache. Ebenjo erklärte in 
Paris der Minijterratd am 14. Juli Morgens die Verjagung 
weiterer Audienzen an Benedetti für die jelbitverjtändliche Folge 
der Ablehnung feines Antrags; es führte dad am Nachmittag zu 
dem vorher analyfirten Friedensbeſchluß. Dann erjt erfand 
Gramont, der ebenjall3 vorher an dem Telegramm feinen Anſtoß 
genommen, die Wendung, daB die Deittheilung des Inhalts durch 
eine offizielle Depefche an die Höfe eine von Bismard prämeditirte, 
ichwere und nur durch Blut zu jühnende Beleidigung der franzö- 
ſiſchen Ehre geweſen fei. 

Es ijt jtetS dasjelbe Ergebnis. 

Bismard war fein durch ftachelnde Kampfbegier in das 
Schlachtgetümmel gedrängter Eroberer. Er war fühn und un 
erichroden im Streite, wie irgend ein Menſch, aber im Siege 
bejonnen und jtet3 der Grenzen des Crreichbaren eingedenf, wie 
wenige Menjchen aller Zeiten. Der Drang feines Herzens ging 
nicht auf Beherrſchung einer unter jeine Füße geworfenen Belt, 
jondern auf das wachjende Gedeihn jeines Vaterlandes und feines 
Boll. Deshalb hat er zur Dedung der Ehre oder der Lebens 
interefjen ſeines Staats auch einen gefährlichen Krieg nie gefcheut. 
Und deshalb hat er auch einen fiegreichen Krieg unter allen Um⸗ 
jtänden für ein jolange wie möglich zu verhütendes Übel erklärt. 





92 9. v. Sybel, Neue Mittheilungen und Erläuterungen zc. 


zwanzig Jahre lang alle feine Kraft der Aufgabe gewidmet, dem 
deutichen Namen die Achtung Europas, und damit dem deutjchen 
Volke die Segnungen eine dauernden Friedens zu fichern. 

Das it der Staatdmann, dem man nach unverjtandenen 
Notizen friegeriiche Gelüjte und heimliche Intriguen zur nt 
zündung gewaltiger Kämpfe nacdjjagen möchte. 

Bor wenigen Wochen haben ihm auf einem aus dem Herzen 
des PVolfes emporgewacjjenen Nationaljefte Millionen Stimmen 
den Dank des Baterlandes entgegengebradjt, ſie Alle vereint m 
dem Wunſche, daß Gott ihn noch lange erhalte und ihn eine 
Wendung der Zeiten erleben lajje, in der er, befreit von den 
jegigen Sorgen, wieder mit vollem Vertrauen auf die Zukunft 
jeiner Schöpfung bliden fünne. 


Berlm, im Mai 1895. 





94 Zur Vorgeſchichte der Schlacht von Albe (Tagliacozzo). 


Barianten Ticleri, Titleri, Titui; in der Darftellung, die Karl an die 
Stadt Padua fandte, lieft man dafür Siculi, Cicli oder Scicli partes. 
Köhler deutete die Tecli u. ſ. w. partes fühn auf Tivoli: Fider 
Dagegen war Mittheilungen 4, 569 geneigt, in Siculi u. ſ. w. eine 
Korruption aus Sculcolae anzunehmen. Aber audy dies iſt un 
richtig, die betreffende Ortsbezeichnung ift noch mit aller wünſchens⸗ 
werthen Sicherheit feitzuftellen. 

Noch heute heißt die Landſchaft am mittleren Salto, von Torano 
etwa bis Tagliata, Licoli oder Cicolano, das alte Aequiculi, wie auf 
der Kiepert'ſchen Karte von Mittelitalien von 1:250000 zu erfehen. 
Auch bei Spruner⸗Menke no. 21 Heißt die Landichaft nördlich vom 
pagus Marsorum Eciculi. In einer mir erjt nad) Vollendung meiner 
Unterfuhung befannt gewordenen NRecenjion von Brandileone über 
einen der Ficker'ſchen Auffäge im Archivio storico per le province 
Napoletane 9 (1884), 362 wird ebenfalls hingewieſen auf jenen tratto 
di paese nelle diocesi di Rieti, che fu detto e si dice Cicoli e 
Cicolano.!) Das Licolanum oder Ceculanum fommt im Mittelalter 
in allen Bejtätigungdurfunden für das benachbarte Klofter Subiaco 
vor.?) Im Regiſtrum von Farfa iſt es ebenfalls nachzumweifen.?) 

Es iſt nun leicht zu demonſtriren, daß die Varianten Tecli etc. 
partes nichts als Korruptelen von Ciculi oder Ceculi find. Die 
richtige Lesart ift Siculi im Beriht an Padua (8 für das franzöfifche 
ce vor i). Da nun ciculi abgekürzt mit durchſtrichenem } cich wurde, 
ergab ich die Variante cicli rejp. scicli. Da ferner im 13. Sahrhundert 
c und t meiſt gar nicht zu unterfcheiden find, wurde von den Abjchreibern 
des Berichtes an den Papſt, wo der Name offenbar undeutlich war, 
überall t gelefen: aus cecli wurde tecli. Auch die Vorianten ticleri 
und titleri find vollauf zu erflären, da } auch in ler (alfo tich, 
titli = ticleri, titleri) aufgelöft werden konnte. Ebenfo leicht ift 
titui aus ciculi herzuleiten. Es unterliegt jomit feinem Zweifel, daß 

iy Brandileone bezieht bereit? die Tecli partes vermuthungsweiſe auf 
die genannte Gegend. Ta bei ihm aber jede nähere Begründung fehlt und 
jeine Vermuthung felbjt in den neuejten Arbeiten von Buſſon über die 
Schlacht von Albe und Hampe Über Konradin von Hohenjtaufen überjehen 
wurde, behalten die vorliegenden Erörterungen ihren vollen Werth. 

2) Vgl. Il Regesto Sublacense no. 1, p. 3; no. 7, p. 14; no. 10, p. 23 
u. a. St. 

2) Reg. Farf. III. no. 325 (877) 5. 27: habitatores de massa cicu- 
lana; 5.28: Actum in eciculis. 





Kiteraturberidt. 


Politik: Gefchichtlihe Naturlehre der Monardie, Ariftofratie und Demos 
fratie. Bon Wilhelm Rofher. Zweite Auflage. Stuttgart, Gotta. 1898. 
VII, 722 ©. 

Eine fefte Überlieferung für die Daritellung der Politik als 
Wiſſenſchaft befiben wir nicht. Weder die naturrechtlichen Theorien 
der Engländer und Franzoſen noch unjere fpekulative Philofophie 
haben einen rund gelegt, auf dent die Gegenwart weiter bauen fönnte; 
und die vielverfprechenden Anfänge einer hiſtoriſchen Staatdlehre, 
al3 deren vornehmſter Vertreter Dahlınann erfcheint, find bisher noch 
nicht zun ſyſtematiſchen Ausbau gediehen. 

Roſcher ift jeit langer Zeit der erfte, der ed wieder gewagt hat, 
Ergebnifje geſchichtlicher Forſchung über Staatenbildung und Ber: 
faflungen in ſyſtematiſchem Zuſammenhange darzuftellen. Auf einc 
vollitändige Theorie vom Staat ift e8 ihm dabei offenbar nicht an⸗ 
gefommen: die herfömmlichen Erörterungen über Begriff und Zweck 
des Staates findet man in dem Buche jo wenig wie eine Aufftellung 
politifcher Poftulate. Hatte Dahlmann 1835 fein Bud in die Welt 
gefandt mit dem Wunjche, daß es allen politiichen Selten mißfallen 
möchte, jo will R. zur Verſöhnung der Parteien beitragen, indem er 
die Einficht in die relative Berechtigung aller Standpunfte zu befördern 
fucht. Er fteht feinem Gegenſtande als ruhiger, leidenfchaft3lofer 
Beobachter gegenüber; er faßt die Wiſſenſchaft von: Staat als eine 
Erfahrungswiſſenſchaft. Das ift der Sinn der Bezeichnung „Natur: 
lehre“ des Staates, die er auf den Titel feines Buches gefept hat, — 
einer Bezeichnung übrigend, die vor ihm jchon Heinrich Leo in einer 
1833 erjchienenen Schrift angewandt hatte. Niemand, der R.’8 wiflen- 





98 Literaturbericht. 


Die Darſtellung iſt ſo angelegt, daß die einzelnen Staatsformen 
in ihren hauptſächlichſten hiſtoriſchen Repräſentanten und ihren all⸗ 
gemeinen Principien nad) einander abgehandelt werden. Aber ſie ftehen 
nicht zuſammenhangslos neben einander, fondern bilden die großen 
Entwidlungstufen im politiſchen Leben der Völker. Die regelmäßige 
Aufeinanderfolge der Staatsformen iſt nad) R. diefe: Aus dem ur 
jprüngliden Geſchlechterſtaate geht zunächſt eine Monarchie hervor, 
das patriardhalijch-volfäfreie Urkönigthum. Diefe Monardie verfällt 
allmählich; eine ritterlichspriefterlihe Ariftofratie nimmt ihre Stelle 
ein. Dann folgt gewöhnlich, geftügt auf den Mitteljtand, der ſich 
zwifchen Herren und Knechten herausbildet, die ſog. abfolute Monardjie. 
Sie pflegt fi beim Wachſen des Mittelitanded mehr und mehr mit 
demofratiihen Elementen zu verfegen und wohl gar einer völligen 
Demokratie Platz zu machen. Die Demokratie artet zulebt aus; der 
Mittelitand ſchmilzt zuſammen; es bildet fi die Plutofratie mit der 
Kebrieite des Profetariat3 heraus. Eine neue Form der Monardie, 
der Cäſarismus, iſt fchließlich da8 Ende der Entwidlung. Ausnahmen 
von dieſem regelmäßigen Entwidlungdgang werden jelbitverftändlid) 
zugegeben, doch wird behauptet, daß fie immer al3 folche nachgewieſen 
und erllärt werden können. 

Offenbar bedeutet dies Entwidlungsfchenn einen erheblichen Fort⸗ 
Ichritt gegenüber den von Ariftoteled, Polybios und Madiavelli aufe 
geitellten. Aber ganz wie dieſe leidet e8 an dem Mangel einer Unter: 
jheidung zwiſchen den fozialen und den eigentlich politiichen Faktoren 
der Entwidlung. Das Regelmäßige, was der von R. dargeftellten 
Aufeinanderfolge der Verfafjungsformen zu Grunde liegt, iſt doch 
eigentli) nur die Umwandlung der gefellichaftlihen Zuſtände, die 
feineöweg3 nothwendig mit beitimmten Veränderuugen der Staatöform 
verfnüpft ift. Derfelbe foziale Entwidlungdgang ift 3. B. in England 
mit der Monardjie verträglich gemwejen, während er in Frankreich zur 
Nepublif geführt hat. Hier jind eben noch andere Faktoren wirkſam: 
der individuelle Wille fpielt auf dem eigentlich politifchen Gebiet eine 
ganz andere Rolle ıwie auf dem fuzialen. Das Aufkommen des Mittel« 
ſtandes, das in den antiken Stadtrepublifen die Demokratie hervor» 
brachte, hat in der modernen Staatenwelt die fonjtitutionelle Monardjie 
erzeugt. Iſt das nicht ein Beweis dafür, daß die durch joziale Ent⸗ 
widlung bedingten Veränderungen der Staatsjorm fi) ebenſowohl 
im Rahmen der Monarchie wie der Republif vollziehen tönnen? Über 
haupt ſcheint diefer Gegenjaß, der für die Unterfcheidung des antifen 





100 iteraturberict. 


pelitiihen Theorien, den er hier bieter, it dus Werk eine? Mannes, 
der offenbar die Luellen fennt, teinen Gegenftand gründlich durch⸗ 
dacht but, Flur und eindringlich darzuitellen veritebt und auch in der 
Auswahl meirt einen glüdlichen Zi befunder Mit einer Huldigung 
an Ariftoteles beginn: das Buch: „zurid zu Artitotele3'“ iſt der 
Schlußgedanke. Tem entierehend wird dus Alterthum ziemlid) eins 
gebend bebendell. Ein zweier Abſichnitt umfaßt das Mittelalter 
und die Kenarftance, ein drirter Dus I>. Jahrhundert und die Lehre 
dom Staatsvertrag. Auf Kinzelmes önnen wir bier nicht eingehen; 
nur mag bemerkt ıwerden. daß die ganztiche Übergebung eines Mannes 
wie Hugo Grotius doch mobl kaum zu rechtfertigen it. Für Die 
Yebre vom Staatävertrige und em Raturrecht überhaupt find die 
Reiultaie von Giterke's Bud über Wichuftus 1880) nicht verwerthet 
werden. Tas Schlußfavitel erörtert neuere Tbeorier über Souperäne: 
tür und Geſeßgebung. über Zweck und Weſen dee Staates, über Die 
Bremsen der Wirkſamkeit des Staates und ähnliches ohne wſtematijche 
Vollſtändiakeit. Neben Benthem un) Auftis, Mill und Spencer 
werden ande dennete Fericher wie Humboldt. Savigny, Bluntſchli 
u Aubeirnkudina; Der Standeuntt des Dr. ot ein ethiſch-hiftoriſcher. 
Er neht in !aetenniht MER eine Veranſtaltung zur Gewährleiſtung 
materietter Sihherre: vendern zuh sur Ereichung idealer Güter. 
In dieſem Sinke dekenn: er "su Ariſteteles gegenüber den 
iaditalen, itaa!dieindlien Teteertien ver Mill und Spencer. Andrer⸗ 
ſeits lebnt er als enhicher Rare: Ind Utilitarier die rechts- und 
ſiantetniierhöonen Yang des derrichen Ipefulativen Idealis— 
mus ab. mitt ehne Meoneehzminee Verzusſetzung, Daß dieſe noch 
gegenwartia unſere Wrienſnait dederrichten. Hätte er Ihering's 
„met im Kent wien: so manleer derin — bei aller ſonſtigen 
Verſchiedenne: — eine Ber cine sde verrendte Auffaſſung gefunden 
baben. t2. 


Berhitite der Nauena.etenen::! bon dugs Eiſenhart, Projeſſor der 


Zange ertzrften sm Nr ammrme Delse DZ. Zweite vermehrte Auf⸗ 
fan rn bauten Netzer sel VTIL TS 


zer Charatter des belaunten Buches. Deren hechbetagter Verfafler 
nicht imo dem Ericheinen dieſer zweiten Auflage verftorben 
nt, nr feine mein Anderungen erichren. Es ſiellt Die Geſchichte 
ver nation:tctencridten Zülteme zwaer want Berüdiichtigung der 
beſtandezen Weiseizwirfung zweichen Theorie und Neben, aber in der 





102 Literaturbericht. 


iiber koptiſche Überſetzungen altchriſtlicher Schriften (S. 886 —917 und 
©. 918 -924) von Prof. N. Bonwetſch und Dr. C. Schmidt bei⸗ 
geiteuert, aber mad auf mehr al3 1000 Seiten übrig bleibt, ift ein 
jo reicher, mannidhfaltiger, aus unzähligen Quellen zu erhebender und 
jo verjchiedenartige Vorarbeiten erfordernder Stoff, daß feine Be- 
wältigung innerhalb eine3 jo kurzen Zeitraums faft unglaublich jcheint 
und eben nur 9. gelingen fonnte. 

Daß eine Gefchichte der altchriftlichen Literatur endlih einmal 
geichrieben werden mußte, wenn zunächſt auch nur bis Eufebius mit 
Ausſchluß Thon der Alten des nicänischen Konzil$ von 325, wird 
niemand bejtreiten, und auch darein wird man fi finden, dab 9. 
die eigentliche Darjtellung dieſer Geſchichte und die kritiihe Beant⸗ 
wortung der Fragen nad) der Abjafjungszeit der Schriften, ihrer 
Echtheit, Unverlegtheit u. dgl. einem zweiten Theile vorbehalten, 
hier aber bloß daß überlieferungsgeichichtlicde Material geſammelt hat: 
wa3 irgend an Nachrichten über altchriftlide Schriftiteller und 
Schriften auf uns gelangt ift, und was wir noch in Handſchriften 
beiten, wird in möglichit bequemer Verarbeitung vorgelegt. Ganz 
genau läßt jich ja die Aufgabe des einen Theild von der des anderen 
nicht trennen; Vieles aus I wird in II wiederholt werden müflen, 
und mande Mittheilungen in I, 3. B. über pfeudocyprianifche Traftate, 
über die Zuellen und den Charakter verlorener Schriften, find Stüde 
der literarfritiichen Behandlung, aber wenn die einfahe Bericht- 
eritattung über die Objekte der Literaturgefchichte jo großen Raum 
erfordert, würde jie allerdingd nicht gut in Anmerkungen und Ers 
furjen innerhalb diefer Gefhichte untergebracht werden können. Und 
jehr viel kürzer, als es hier gefchieht, ließ ſich der Stoff nicht wieder 
geben; einzelne Citate hätten vielleicht abgekürzt, andere fortgelaffen 
werden dürfen, und NRüdverweifungen auf früher jchon Geſagtes 
hätten Erjparnijje ermöglicht, aber vielen Benugern wird gerade das 
bejonderd erfreulich fein, daß, wenn fie ſich in dieſem Werke Rath 
erholen über einen Autor oder ein Buch, jie das überlieferungs«- 
geihichtlihe Material bequem beifammen finden und, ohne erft viel 
Citate nachſchlagen zu müfjen, zu einem Urtheil über den Stand der 
Sade bejähigt werden. 

Dem Zweck der überfichtlichen Bertheilung eines riejigen Stoffes 
dient Alles in der Anlage des Buches, auch die ausführlichen Regifter 
der Autoren und Schriften, der im Texte aufgezählten Manuffripte, 
endlich der Snitien von Schriften und Schrijtfragmenten (S. 935 bi 





104 Riteraturbericht. 


erhaltenen Fragmente fähe man gern fyftematifch herangezogen, und 
in Abſchnitt X und XI wäre wohl ein minder fummarifches Verfahren 
bisweilen erwünſcht; allein bei diefer Literatur fehlt es theilweife 
noch an den grundlegenden Unterfuhungen, auch wird dieſe kaum 
balb der alten Kirche oder überhaupt der Kirche zugehörige Schrift- 
ftellerei in einer „Geſchichte der altchriftlichen Literatur“ immer nur 
einen Nebenplag beanſpruchen können. Alle Fragmente aber, 3. B. 
bed Origenes oder des Euſebius oder des Hippolytus, die in den 
mittelalterlihen Sammelmwerfen, großentheild noch unedirt, zerftreut 
liegen, zu jammeln und unterzubringen, würde eine mehrere Jahre 
ausfüllende Arbeit gemejen fein, die bequemer Hand in Hand mit 
Heraudgabe der einzelnen Terte felber gethan wird. Sollte die 
Überſicht über das Material gegeben werden als Einleitung zu dem 
großen Unternehmen, das hoffentlich nunmehr fichergeitellt fein und 
energiih in Angriff genommen werden wird, fo mußte verzichtet 
werden auf den Grad von VBollitändigfeit, der „ohne neue bibliothes 
farifche Forfchungen“ eben nicht zu erreihen war. In der Auf— 
zählung der vorhandenen Handidriften hätte allenfall8 auch ohne 
jolde nach Vollkommeneres geleijtet werden fönnen, und unter den 
Drudausgaben hätte nicht nur die editio princeps — auch daß ges 
Ihieht nicht ausnahmslos —, fondern auch die bisher befte genannt 
werden jollen. Daß ein Scriftjteller zumeilen nad) verjchiedenen 
Ausgaben — 3. B. das Chronicon Paschale bald nad) Ducange, 
bald nad) Pirndorf — citirt wird, erklärt und entichuldigt die Bor: 
rede; leider hängt damit der Übelftand zufammen, daß manche Beleg- 
ftellen nur jehr ſchwer aufzufinden find: mit der Angabe 3. B. auf 
©. 435: Facundus Hermanniens. bei Sirmond, opera II 740 ift 
Wenigen genupt; jelbjt wenn man das richtige Hermianensis bers 
ftellt; e8 follte heißen: Facund. Herm. pro defens. X 6 init. 
Wegen Kleiner AInkorrektheiten und einzelner Verſehen wird ein 
verftändiger Beurtheiler einem jo verdienitvollen Werke daß Prädikat 
der Buverläfjigfeit nicht abjprechen. Immerhin bleibt in Diefer 
Richtung am meijten nadjzubefjern; Druckfehler jind ſehr zahlreich, 
die Schreibung der Eigennamen jehr ſchwankend — 3. B. begegnet 
Ehrhardt neben Ehrhard, Eimon neben Eimeon de Magiſtris, Vulenger 
neben Boulenger, Philipps und Phillips neben Phillippd —; in dem 
Snitienregifter, deſſen Brauchbarfeit von der Richtigkeit der alpha» 
betifchen Reihenfolge abhängt, jtehen mehrere Lemmata an faljcher 
Stelle — z. B. Eneidı, (nuisuxıs) a anoıxuederg 5 reſp. 9 Beilen zu 





106 Literaturbericht. 


In dem Paragraphen z. B. über Victorinus von Pettau, Der von 
Preuſchen gefertigt it, zähle ih auf 3 Seiten 732—4 mehr al 
50 Korrigenda, keineswegs bloß gleichgiltige; über den „unter dem 
Namen ded Victorinus ftehenden Kommentar zu der Apokalypſe“ 
wird fogar ein ganz irreführender Bericht eritattet. Ich erwähne 
died nicht, um H.'s Mitarbeiter oder H. felber Vorwürfe zu machen, 
fondern nur um der mißgünftigen Kritik, der auch dies fo überaus 
dankenswerthe Werk ausgeſetzt jein wird, nicht parteiifch zu erjcheinen: 
wenn zwei Menſchen, jelbit von ungewöhnlicher Arbeitskraft, in 21/e Jahren 
einen jo immenjen Stoff zu verarbeiten hatten, fann man nur bes 
wundern, daß ihrem Werke nicht mehr Mängel anhaften, als es hier 
der Fall if. Mußte der Band I noch 1893 fertig geftellt fein, fo 
fonnte niemand ihn vollfonımener hberjtellen, und die patriftifche 
Wiffenfchaft wird dankbar für die große Gabe, die fie hier empfangen 
bat, auf die noch größere harren, die ihr in einer boffentlih in aller 
Ruhe und in einen Guß gejchriebenen Geſchichte der altchriftlichen 
Literatur bis 325 der dazu vor jedem Anderen berufene Patrijtiler 
ſchenken wird. Ad. Jülicher. 


Leges Visigotorum antiquiores. Fontes juris Germanici anti- 
qui in usum scholarum ex monumentis Germaniae historicis separatim 
editi. Edidit Karolus Zeumer. Hannoverae et Lipsiae 18%. 
XXI, 395 ©. 


Über drei Jahrzehnte hindurch mußte ich in der Vorlefung über 
Rechtsgeſchichte bei den Wejtgoten erklären: „ed gibt nur (Eine 
brauchbare Ausgabe der Lex Visigotorum, die Madrider von 1815, 
und dieſe iſt unbrauchbar“: vor Allem deshalb, weil fie die Hand 
fchrijten in vielen Fällen nicht wog, nur zählte. In der That, wer 
ih je mit diefer Duelle befaßte, mußte gar oft darüber Elagen, daß 
ihm nur Eines jeit jtand: die Unrichtigfeit der gegebenen Ledart, da⸗ 
gegen die richtige ſich faum errathen ließ. 

Diefe Noth ijt jet für den weitaus größten Theil des Weit 
gotenrechtö gewendet: in der vorliegenden Ausgabe der Monumente 
ift die Antiqua und die Lex Visigotorum Rekiswinths in wahr 
haft mujtergiltiger Weile hergeſtellt. Ward jie doch beſorgt durch 
denjelben Mann, dem wir die ausgezeichnete Ausgabe der Formel⸗ 
jammlungen in den „Monumenten“ verdanken; ich trete feinem zu 
nahe, nenne ich Karl Zeumer den zu diefer Arbeit meift Berufenen; 
er hat jie mit viel bewährter Gründlichkeit und Sauberfeit ausgeführt. 





108 Literaturbericht. 


ſoweit vorgeſchritten war, wie die Antiqua darſtellt. Ferner kann 
ich (trotz 3.8 Widerſpruch S. XII) meinen Gedanken nicht fallen 
laſſen, daß das bloße bonae memoriae, vom Sohne gegenüber dem 
Vater gebraucht, nicht paßt auf den gefeierten Helden Theoderich, 
der in der Hunnenſchlacht fiel, trefflich aber auf den ketzeriſchen Leo⸗ 
vigild, dem der Fatholifche Sohn eine sancta oder beata memoris 
nit nachrühmen durfte. 3. meint freilih, er würde ihm nicht 
einmal bonam memoriam zugebilligt haben! Aber Rekared ball 
doch jeinem Vater regieren: 3. B. Hermenigild’8 Empörung nieder 
werfen; fonnte er nicht „gut“ nennen, was er jelbft mit getbhan? 
Weiter: es ift überliefert, Eurich bat (zuerft) weſtgotiſche Geſetze 
erlafien; gewiß: aber folgt daraus, daß fie ung erhalten fein müflen? 
Der erfte Hobenzoller in Brandenburg hat auch Rechtögebote erlaffen: 
würde daraus folgen, fal8 und nur das preußifche Landrecht erhalter 
wäre, daß dieſes don jenen herrühre? Endlich, daß Rekared Gejehe 
erlafjen, jteht ebenfalls feit: einige benubt ja 8. jelbit. 

Allerdingd iſt aber einzuräumen, daß die Spradhe der Antiqua 
einfacher ijt als die der ſchwülſtigen Geſetze aus dem 7. Jahrhundert, 
und ſchwer fällt in's Gewicht, daß die vorausgefehten Streitigfeiten 
und Ungemwißheiten bezüglich der Landtheilung zwiſchen Goten umd 
Nömern beſſer ald in die Zeit Rekared's in die Eurich's pafien, fo 
dag ich allerdingd durch die neuen Ausführungen 3.8 in meinem 
Widerſpruch ſchwankend geworden bin. 

Gewiß wird auch die zu erwartende Ausgabe der Gejege der 
Nachfolger Rekiſwinth's wie die hier bejprochene eine ausgezeichnete 
Leiſtung jein. Dahn. 


Geicichte des TDeutichen Reiches während des großen 
1245— 1273. Auf Grund einer von der pbilofophiichen Falultät der Julims« 
Maximilians-Univerſität gefrönten Preisichriitt umgearbeitet und ergänzt. 
Son Dr. 3. Kempf. Würzburg, A. Stuber's Berlagsbudhbendlung. 1898. 
VIII 292 2. 

Tie vorliegende Arbeit it eine erireulihe Frucht der Nem- 
bearbeitung der Böhmerſchen Regeſten. Kempf bat aus der Fülle ber 
Ereigniſſe mit reitem Urtheil meiſt daS Weientliche berauszubeben ge: 
mwußt und, was heute leider nicht mehr jelbitveritändlid if, eine leb- 
bare Daritellung gelieiert. Beſonders ſorgiältig ift die Regierung 
Koniq Rilbelm’& bebandelt, deiten Bemühungen. mit feiner ſchwachen 
Hausmacht ein fette: Rönigtbum zu gründen, ichart hervorgehoben 





110 Kiteraturberid)t. 


Geſchichte der im 11. und 12. Zahrhundert zwifchen Papſtthum und 
Kaijerthum geführten Kämpfe, dem wird das Bud eine Enttäufchung 
bringen. Neben einer breiten Scilderung der päpftlihen Bolitit 
gegenüber den meltlihen Mächten macht der Bf. zwar aud die 
wechſelnde Stellung des Papſtthums zur Frage der inneren kirchlichen 
Reform da und dort zum ©egenftand feiner Betrachtung, keineswegs 
aber in der Weife, daß der Lejer ein lebendige und anſchauliches 
Bild von den bedeutenden religiöfen Kräften und Bewegungen jener 
Zeit, von dem vom Mönchthum audgehenden und in die Qaienfreife 
eindringenden firchlichen Aufſchwung, von der Bedeutung der Tehe 
riihen Volksbewegungen erhält, obwohl eine Geſchichte der Entwidlung 
des Esprit de reforme gerade diefe Seiten des religiöfen Lebens in erfter 
Linie zu berüdfichtigen hatte. Eine Vertiefung der Tarftellung bes Bf. 
nad) der bezeichneten Seite bleibt für die weiteren Theile des Wertes 
um fo mehr zu wünfchen, al3 der vorliegende Band durd die um- 
fihtige Benußung der Duellen, durch die Schärfe und Selbitändigfeit 
des Urtheil® und die anziehende und überſichtliche Darftellung fid 
vortheilhaft auszeichnet. Eine erhebliche Beeinträchtigung erfährt freis 
ih der Werth des Buches dadurd, daß aud die herborragendften 
deutichen Arbeiten über die Geſchichte des Papſtthums im Mittelalter 
ſeitens des Vf. unbeacdhtet und ungenußt geblieben find. | 
Herman Haupt. 


Hand Georg dv. Arnim. Lebensbild eined proteitantiichen Yelbherrn 
und Staatsmannes aud der Zeit des Treibigjährigen Krieges. Non 
Dr. Georg Irmer. Mit einem Bildnis Hans Georg's v. Arnim. Leipzig, 
Berlag von ©. Hirzel. 1894. XIV, 398 €. - 

Auf dem Gebiet der Geſchichte des Dreißigjährigen Krieges, auf 
dem wir in Ranke's Wallenjtein ein Mujter Icbensgefchichtliher Dar: 
jtellung bejißen, ijt eine der dringenditen, aber auch fchwierigiten Auf⸗ 
gaben durch das vorliegende Lebensbild gelöft, trefflich gelöft worden. 
Tie Schwierigkeit liegt zum Theil im Gegenſtande felbf. „Grund 
verfchieden in feinem Denfen und Handeln von feiner Umgebung, tritt 
Arnim fait ganz aus den: Rahmen jeiner Zeit heraus“ ; feine tief- 
gegründete Perſönlichkeit iſt an ſich nicht leicht verjtändlih. Dazu 
fommt, daß er feinen Gedanken zwar, dank der Höhe feiner Begabung, 
überall einen gewiljen Einfluß und Geltung hat erzivingen, aber 
ihnen, ohne den Rüdhalt eigener Macht, nirgends eine reine Wirkung 
verichaffen, ihre Eigenart und Eelbjtändigfeit nicht frei hat entfalten 








114 Literaturbericht. 


entfernt war, in Deutſchland jemals ſchwediſche Politik zu treiben. 
Nicht eigentlich von Guſtav Adolf, der das Entgegenkommen Arnim's 
1631 wohl zu ſchätzen gewußt hat (Briefe vom 16. und 17. Mai 1631) 
und ihn ſehr gern in ſeinen Dienſt gezogen hätte (Bemühungen 
März 1632), iſt ihm das verdacht worden, wohl aber von anderen, 
Schweden wie Deutſchen. 

Inmitten der folgenden wechſelvollen Ereigniſſe, auf die hier nicht 
näher eingegangen werden kann, iſt es von großem Weiz, zu be 
obadhten, wie Amin Schritt für Schritt mit entgegenitehenden Uns 
fihten um die Zeitung der kurſächſiſchen Politit gerungen hat. Mit 
Hülfe der von 3. gegebenen Aufklärungen ließe ſich das im einzelnen 
zeitlich verfolgen. Arnim's militärisch-politifche Hauptabficht war von 
Anfang an auf Schlefien gerichtet (S. 145. 160.185); erit im Auguft 1632 
drang er völlig damit durh. Um die Wende ded Monats folgten 
feine Siege bei Steinau. Aber aldbald wurden feine ſchleſiſchen Pläne 
wieder geitört, die politifchen durch Mleinungsverjchiedenheiten mit 
Kurfürit Johann Georg, die 3. nur nadträglid (S. 282) erwähnt, 
die militärifchen durch; den Umfchwung der Lage mit dem Einfall 
Holk's (der übrigend S. 192 nad) der moralifhen Seite hin zu ab- 
fällig beurtheilt wird) in Sachſen, wo unter verwidelten, fortwährend 
ſich ändernden Berbältniffen!) die Entjcheidung fich vorbereitete. 

Sie erfolgte bei Lützen. Sachſen wurde befreit. Guſtav Adolf 
der Befreier aber fonnte die politiichen Früchte feiner That nicht 
ernten. In dem großen König fiel dad gemeinfame Oberhaupt der 
Evangelifchen hinweg; zwiſchen ſchwediſcher und ſächſiſcher Politit 
fam es zur reinlichen Scheidung. Damals gewährte Kurſachſen Arnim 
Raum zu Hlarer Weiterentwidlung feiner Pläne deutſch-evangeliſcher 
Selbitändigfeit; in Franz Albrecht von Lauenburg wurde ihn ein all« 
zeit getreuer Genoſſe von der idealen fogenannten dritten Partei als 
Feldmarſchall zur Seite gejegt. Es iſt nun leider nicht möglid, 
auf die Verhältnifje, wie jie ſich jetzt entwidelten, hier irgendwie ein- 
zugehen. Man weiß, wie die Verhandlungen mit Wallenjtein in 
jener Zeit ganz in den Vordergrund traten, und welch' großen inneren 
und äußeren Antheil Arnim an ihnen hatte. J. iſt durch feine früheren 


1) über die Anfichten, die Arnim Anfang November in Torgau fid 
bildete, vgl. Svenskt Krigshist. Arkiv 2, 636 und 638 (mit der Klage über 
feine Abhängigkeit). Guſtav Adolf wünſchte zulept felbft, daß Arnim, den er 
in der legten Zeit wiederholt jeines vollen Vertrauens bat verfihern laflen, 
in Schleſien bleibe (Irmer S. 196 f.\. 








118 Riteraturberidht. 


burgifchen Dienft auf Wartegeld und deren theilmeije Anjtellung in der 
Domänenverwaltung, wozu die Einleitung zum 2. Band meiner Proto- 
folle zu vergleichen ift, find Maßregeln in diefem Sinne. 

Ich könnte noch einige andere Punkte auß der Arbeit des Bf. 
vorführen, jo feinen Hinweis auf die verjchiedenartige Tendenz, welche 
den Güterfchenfungen der Krone Schweden an die höheren Offiziere 
zu Grunde lag, von der tiefen ftaatSmännifchen Abficht, die Ouſtav 
Udolf damit verfolgte, nämlich der, da8 auf dem Grundbefiß beruhende 
Syſtem der allgemeinen Heerespflicht auch auf die germorbenen Truppen 
theile auszudehnen, und durch Güter-Belehbnungen die Regimentd 
Obriften und Werbeoffiziere ebenfo wie die Generale und Heerführer 
an die Krone zu fetten, bis auf die wilden Verjchleuderungen der 
Krongüter im banferotten Staat der Königin Chriftine, wodurd dad 
Gebäude der ſchwediſchen Militärmonardie in feinen Grundfeften er 
jchüttert wurde, aber ich beſcheide mich im Hinblid auf die Arbeit 
jelbjt, welche eine Lücke in der gefchichtlichen Literatur befriedigend 
ausfüllt. 

Dem Fleiße des Vf. gegenüber, der bei den zahlreichen Berufs⸗ 
arbeiten eines Bibliothefsbeamten no Zeit gefunden bat, fogar 
archivalifche Studienreifen zu unternehmen, unterdrüdt der Kritiker 
gern einzelne Ausjtellungen, weiche gegen die manchmal ungleichartige 
Forſchung und Darſtellung und die etwas zu breite Anlage, naments 
lich im Abfchnitt der weitjälifchen Friedensverhandlungen, zu erheben 
wären. Meinardus. 


Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelm's, des Großen Kurfürften. Bon 
Hugo Landwehr. Aui Grund ardhivaliicher Tuellen. Berlin, E. Hofmann 
& Co. 1894. XII, 386 S. 


Daß diefed aus verjchiedenen früher veröffentlichten Einzelitudien 
erwachſene Buch des bald nad) feiner Vollendung veritorbenen Bf. 
dur) den Verſuch einer kritiſchen Reviſion der bisher vormwaltenden 
Anfichten über die Kirchenpolitik de3 Großen Kurfürſten eine nüßliche 
Anregung gegeben Hat, ift von der Kritik jofort ziemlich einmüthig 
anerfannt worden, und auch Wei. fann ſich im allgemeiner diefem 
Urtheil anſchließen. Das Bedürfnis einer Reviſion ergibt jich einer- 
jeit3$ daraus, daß allerdings nicht ganz in Abrede zu ftellen iſt, daß 
der reformirte Kurfürſt Friedrich Wilhelm jelbit in feiner Behandlung 
der firdlihen Angelegenheiten doch hin und wieder dem fonfefjionellen 
Geiſte des Nahrhundert3 in etwas ſtärkerem Maße feinen Tribut 





120 Literaturbericht. 


gegebene 1. Band der ſtändiſchen Verhandlungen (Urk. u. Ultenft. XV) 
nicht mehr benußt werden fünnen. Es kann hier nicht ausführlich dar» 
gelegt werden, wie der Vf. im Einzelnen den Örundgedanten feiner Arbeit 
durchführt, wie er das Iutherifche Element als das mehrfady mit 
Unrecht angegriffene und in begründeten Rechten verlegte nachweilt, 
wie er jtreitfüchtige Gehäffigfeit auch bei den reformirten Gegnern 
findet und eine gewiſſe einfeitige PVarteilichfeit für feine Bekenntnis 
genofjen auch bei dem Kurfürften felbft zu konſtatiren ſich bemüht. 
Das Thatfählihe und zum Theil Neue, was hiefür beigebracht wird, 
beſonders für die Konflikte in der Mark in den fechziger Jahren, 
wird man in den meilten Fällen unbedenklich zu acceptiren haben, 
wenn man aud bei manchem geneigt jein wird, es etwas weniger 
Scharf zu accentuiren und die Öegenrechnung etwas jchärfer zu betonen. 
Bisweilen fchießt der Vf. in feinem Eifer entjchieden über das Biel 
hinaus: wenn er den Sinn des ſog. erften Toleranzedikte vom 2. Juni 
1662 dahin erläutert, daß das öffentliche „Verdammen, Verketzern“ ıc. 
der Gegner nur den lutheriſchen Predigern unterjagt wurde, den 
reformirten dagegen freigeitellt blieb (S. 204), fo ift dieß jedenfalls 
nicht der Sinn des Edikts geweſen und iſt aud) mit dem Wortlaut 
nicht zu vereinigen. 

Immerhin aber mag man e3 als thatfächlich und erwiejen gelten 
lafien, daß den Qutheranern in den Landen des großen Kurfürſten 
hin und wieder etwas zu nahe getreten wurde, was fie übrigens reic- 
lich zurüdzahlten; in jenen Zeiten eines überreizten konfeſſionellen 
Empfinden? ijt das im Grunde jogar leichter begreiflid, als es eine 
im völligen Gleichgewicht jtehende Toleranz fein würde. Unfer Vj. 
freilich theilt, wie es fcheint, für feine Perſon felbit bis zu einem 
ziemlich) hohen Grade jene exkluſive Belenntnisftimmung; fein Bud 
trägt ald Motto den Sprud) Paul Gerhardt's: „Hüte dich ja vor 
Synkretiſten, denn die fuchen das Zeitliche und find weder Gott nod) 
Menſchen treu”; bei aller auögeiprochenen Achtung vor Toleranz und 
Unionsbejtrebungen ijt er doch im Grunde aller „religiöfen Glaubens⸗ 
mengerei“ jehr abgeneigt und preijt die alten Zeiten glüdlich, wo 
Jedermann noch jeit auf jeinem bejtimmten Bekenntnis ftand, wo nicht, 
wie heute ojt, „Öebildete vor der Frage jtraucheln, welchem Belennt- 
nid jie denn jeßt eigentlid) angehören”, und wo „auch der gemeine 
Mann genau wußte, welchen Glauben er hatte” (S. 354). Man kann 
einen jolchen poſitiv fonjejjionellen Standpunft gelten lafjen; aber in 
einem der Kirchen politik des großen Nurfürjten gewidmeten Buche 





122 Literaturbericht. 


bei einer zweiten Auflage, die gewiß nicht allzulange auf ſich warten 
läßt, mit Leichtigkeit beſeitigen laſſen. Im vorletzten Kapitel ſind feine 
und einleuchtende Beobachtungen über Leſſing's Sprache in überſicht⸗ 
licher Anordnung zuſammengeſtellt, während das letzte Leſſing's Lebensſ⸗ 
ausgang ſchildert. Sowohl um der glänzenden Herrſchaft über das 
Material als um des Scharfblickes in der Auffaſſung und der Sicher⸗ 
beit der Darſtellung willen darf das geſammte Werk einen Ehrenplatz 
unter unſeren deutſchen Biographien beanſpruchen. 
Georg Ellinger. 


Briefe Friedrich Leopold's Grafen zu Stolberg und der Seinigen an 
Johann Heinrich Voß. Nach den Originalen der Münchener Hof» und Staate⸗ 
bibliotHet mit Einleitung, Beilagen und Anmerkungen berausgegeben von 
Dtto Hellinggaus. Münfter i. W., Aſchendorff. 1891. LV, 546 8M. 


Die Publikation, die wir bier jpät zur Anzeige bringen, ver: 
dient lebhaften Dant. Bon Stolberg’3 Briefen an Voß (die Briefe 
von Boß an Stolberg find zweifellos vernichtet worden) kannten wir 
bisher nur Bruchſtücke. Aber erjt der Abdruck der ganzen Folge gibt 
und Einblid in die fangjame (Sntjremdung der beiden Männer. In 
einer augführlihen Einleitung weiſt Hellinghaus nad, aus welchen 
Gründen feine dauernde Freundſchaft möglich war zwijchen dem weichen, 
gefühlvollen Grafen, der in fonniger Jugend eine forgfältige Er— 
ziehung genoflen hatte, dem Dichten Genuß war, der in treuer Vaters 
landsliebe und inniger Neligiojität erwuchs, und auf der andern Seite 
dem hart=- veritändigen Abkömmling von Leibeigenen, in dem nad 
rauher Kindheit eine weltbürgerlicje, der Orthodorie feindliche Lebens⸗ 
auffaffung jich ausgebildet Hatte und dem unter Müh’ und Sorge 
jelbjt die Tichtkunft zur Arbeit wurde. In der That erkennt man 
jest, da die faft ununterbrochene Reihe von Stolberg’8 Briefen vor⸗ 
liegt, wie früh ji) die Trennung vorbereitete, obwohl die alte Hera 
lichfeit immer wieder hervorbrad), doppelt heftig nach jedem Zer⸗ 
würfnis, doppelt heftig auch, wenn ein Beſuch und mündlicher Aus 
tauſch die Mißverjtändniffe wieder aufklärte, die durch den brieflichen 
Verkehr entitanden waren. 

Bon der leiſen Vorbereitung jeiner religiöjen Belehrung, die für 
den endgültigen Bruch das Entjcheidende war, ſchweigt Stolberg dem 
Freunde gegenüber andauernd; aber von vielerlei anderen trennenden 
Momenten lejen wir in und zwiſchen den Zeilen. Bei Stolberg, der 
gewöhnlich in höchſter poetilcher Hitze, eiligit, ohne Reflexion feine 





124 Literaturbericht. 


druck mit folgendem Titel: „Die ſchöne Bäkkerin. Eine Legende. 
Nebſt einer Apologie an den ehrwürdigen Pater S. in M. Der 
Preis iſt 3 Groſchen. Desſau, An der Buchhandlung der Gelehrten. 
1781.“ Der Ort M. iſt Münſter; dort war das Februarheft des 
„Deutſchen Muſeum“ konfiszirt worden, denn die „ſchöne Bädern“, 
die harmlos mit dem Motiv von Ayrer's „Ehrlich Bedin“ beginnt, 
endet als gelungene Satire auf die fatholifche Geiftlichkeit. In beiden 
Druden ift das Gedicht unterzeichnet mit „B..xr“, was faum andere, 
als „Bürger“ zu deuten if. Auf ihn paßt ſowohl da8 Gedicht, wie 
die Apologie. An Blumauer ijt nicht zu denken. 

Albert Köster. 


Karl Friedrich's von Baden brieflider Verkehr mit Mirabenu und 
Dupont. Herausgegeben von der Badilhen Hiftoriihen Kommiſſion. Be⸗ 
arbeitet und eingeleitet burd) einen Beitrag zur Vorgeſchichte der erften 
franzöſiſchen Revolution und der Phyſiokratie. Bon Karl Knies. 2 Bände. 
Heidelberg, Winter. 1892. CLXII, 284 ©.; XVI, 398 S 


Mit dem vorher genannten Werke ift Knies zu der von ihm in 
den fünfziger Jahren eifrig gepflegten Literaturgefchichte der National» 
öfonomie zurückgekehrt. Damals folgten raſch aufeinander Die Zur 
fammenfafjung der nationalökonomiſchen Anſichten Machiavelli’3 in 
einem lehrreihen Aufſatze; die Gefchichte der politischen Okonomie feit 
Adam Smith in einer Abhandlung, welche noch heute nicht übertroffene 
Theile enthält; die Schlihtung des Streited der Statiftifer und Die 
Aufſtellung der Ziele der Hiftoriichen Nationaldöfonomie mit ebenfo 
Iharfer Logik wie gründlicher Kenntnis der Literatur der politifchen 
Okonomie. Die Bearbeitung des Briefwechſels zwifchen dem Mark: 
grafen von Baden und franzöjiihen Phyliofraten läßt ihn ein neues 
Gebiet der Literaturgefchichte betreten; er erweitert die Quellenkenntnis 
einer für Nationalölonomie und politische Geſchichte wichtigen Zeit, 
für die feit bald zehn Jahren unter den Nationalölonomen neueb 
Intereſſe ermadt iſt. Es wird bezeugt durch eine Reihe vortrefflicher 
Urbeiten von U. Onden, Auffäge von Bauer, Higgs, Feilbogen, ein 
Wert von Schelle über Du Pont de Nemourd, den Neudrud des 
Werkes Cantillon’8, des „eriten” Vaters Mirabeau's, feitend der 
Harvard University und eine foeben durch die Economic Aseo- 
ciation veröffentlichte Facſimileausgabe des Tableau Economique. 

Das Material des 1. Bandes bejteht hauptfächlih auß der Kor 
reſpondenz zwifchen dem Markgrafen von Baden mit dem Marquis 
von Mirabeau und Tu Pont aus den Jahren 1769—1787 bezüglich 





126 Riteraturberidt. 


Ideen ift nicht genügend erforfht. Was Ref. verjuchte, bezog ſich 
nur auf die allgemeinen philofophiihen Grundlagen. Wir bedauen: 
ed, daß K. die Vielſeitigkeit und Gründlichkeit feiner Studien nicht 
in den Dienft diefer Aufgabe hat ftellen wollen (vgl. I, S. XXVIH u. 
CXVII). Dagegen fcheint und die Übergehung der Beiprechung der 
fo oft behandelten droits fendaux und der von Emminghaus lichtvoll 
dargeitellten phyſiokratiſchen Verſuche in Baden gerechtfertigt zu fein. 
Möchten und recht viele ebenfo werthvolle Monographien vor dem 
Erſcheinen einer neuen Literaturgejhichte der Nationalölonomie be 
ichieden fein! W. Hasbach. 


Dad KurfürjtentHum Hannover vom Bajeler Frieden bis zur preußiſchen 
Okkupation im Jahre 1806. Nach ardivaliichen und handſchriftlichen Quellen 
von ®. v. Haſſell. Hannover, Karl Meyer. 189. 465 ©. 

Die archivaliihen Quellen, welche der Vf. benubt hat, beſchränken 
jih auf die Alten des Staatdarhivs zu Hannover. Aus diefen Hat 
er Neued namentlich in Bezug auf den Anſchluß Hannover? an den 
Bafeler Tsrieden, fowie auf die erjte Okkupation des Kurfürftenthums 
durch Preußen (1801) beigebradt. Neu ijt auch die Darftellung der 
Phaſe von der Sulinger Konventien bi8 zur Artlenburger Kapitulation. 
Die übrigen Abfchnitte des Hafjel’ichen Wertes wiederholen im 
Weſentlichen nur Befanntes. 

Für den Zeitraum von 1795 bis 1805 begnügt der Bf. fi 
auch Hinjichtlich der gedrudten Quellen faſt ganz mit der Hannovers 
Ihen Literatur. Preußifche Quellenwerke, wie die für die preußifch- 
hannoverſchen Beziehungen in diefem Jahrzehnte hochwichtige Publis 
fation von Bailleu, läßt er völlig unbeadhtet | 

Die Erzählung der Ereigniffe, welche zur Bejignahme Hannovers 
durch Preußen im Jahre 1806 führten, beruht bei H. nach defien 
eigener Angabe vorwiegend auf der Darftellung, welche Ranke davon 
im 1. Bande der Denkwürdigkeiten Hardenberg’8 gibt. Was der Bf. 
aber nicht geiteht, ift, daß er in ausgiebigitem Maße Ranke's Worte 
in jeine Darjtellung übernimmt, ohne ſie ald ſolche kenntlich zu 
machen. Ref. hat fi nicht weniger als einige fünfzig derartige 
Blagiate notirt. Man vergleihe 3.8. 9. 8.3571. = NR. ©. 478. 481; 
H. 360 — R. 489 ff.; 9. 361f. — R. 4935; H. 35 — R. 515; 
H. 385 = R. 531; H. 387 = N. 532 f.; H. 395 = R. 548; H. 396 
— N. 549; 9.407 = N. 564 f.; H. 414 = N. 564. 566. 567. 569; 
H. 415 — R. 569; H. 416. — R. 571-575; 9.424 — N. 595 





128 Riteraturbericht. 


Abänderungen mit der angeblichen Meinung desjelben in Einklang zu 
ſetzen ſucht. Nah H. heibt e8 in der Denkſchrift: „Napoleon bietet 
und eine glänzende Erwerbung, durch deren Unnahme wir den $lrieg 
vermeiden können, während wir vor drei Monaten faſt entichlofjen 
waren, um ihretwillen an dem Kriege theilzunehmen. Deshalb halte 
ich es für unumgänglich nöthig, den Vertrag, wie er ift, zu ratifiziren, 
allenfalls mit den nothmwendigen Ergänzungen und Einſchränkungen, 
die in einem Memoire explicatif hinzugefügt werden könnten.“ Den 
erften diefer beiden Sätze ſucht man in der Denkichrift vergebens | 
Der zmeite lautet dort: „ES folgt hieraus, dab der Traktat vom 
15. Dezember mit den in dem (von Haugwig zugleih mit feinem 
Bericht vom 26. Dezember 1805) eingereihten Memoire explicatif 
binzugefügten Einfchränfungen und Unfichten ratifizirt werde.” Wie 
bier, jo citirt 9. regelmäßig ungenau. Er flidt, wie eben an einem 
Beiipiele gezeigt ift, völlig erfundene Säße in die Citate ein, er läßt 
nah Belieben Worte, Sabglieder und ganze Sätze aus, ohne dies 
auch nur anzudeuten, er verbindet Säße, die durchaus nicht zufammen- 
gehören, er ändert Ausdrüde, Sapfonftruftionen ꝛc. in weiteſtem 
Umfange ab und umgibt gleihmwohl dad Ganze mit Anführungszeichen, 
verfichert wohl noch gar außsdrüdlich (jo auf S. 177), daß er wörtlich 
citirel Die von H. vorgenommenen Änderungen find nicht felten 
tendenziöfer Natur, namentlid) da, wo feine fichtli vorhandene Ab⸗ 
neigung gegen Preußen (vgl. 3. B. ©. 50, wo dieſes mit einem 
Raubthiere verglichen wird) in Frage kommt. So behauptet der Bi. 
auf ©. 429 unter ausdrüdlidher Verweifung auf einen Augenzeugen, 
Hausmann, mit jedem Tage fei der Widermille gegen Preußen in 
Hannover geftiegen, und niemals fei der Geburtätag des rechtmäßigen 
Königs mit größerer Begeifterung gefeiert worden, wie am 4. Juni 
1806. Auch babe in der ganzen Nefidenz großer Jubel geherricht, 
al3 eine vor dem Fürſtenhofe aufgeftellte Schildwadhe in tragikomiſcher 
Weile verunglüdt ſei. Thatſächlich fteht bei Hausmann nur, ber 
Geburtötag Georg's III. fei „in Privatzirteln mit großem Enthuſias⸗ 
mus gefeiert“ worden, und die hannoverſche Bürgerfchaft habe den 
Unfall der preußiihen Schildwadje „fait mit Jubel“ vernommen. 
Nah allem dieſen wird man fich fchwerlich entichließen können, 
dem Bf. da, wo er auf Grund ardivalifchen und handfchriftlichen 
Materiald Neues beibringt, unbedingten Glauben zu fchenten. 


Friedrich Thimme. 





130 Riteraturberidjt. 


Alten gemadt. Da diefe Schriften dem Bf. entgangen find, ift diefer 
Theil feines Werkes etwas ſchwach ausgefallen. Inhaltreicher und 
anſchaulicher ift die Daritellung der Thätigfeit Thielmann’3 im Felde 
zuge von 1815 und namentlich des Gefechtes bei Wavre am 18. Juni, 
wo Thielmann, als Befehlshaber des 3. preußifchen Armeecorps, die 
faft doppelt fo ſtarke Abtheilung von Grouchy feithielt und dadurch 
verhinderte, an der Enticheidung bei Belle-Alliance Theil zu nehmen. 
Nur wäre zu wünfchen, daß dem Lefer durch eine Überſichtskarte oder 
durch Skizzen erleichtert würde, dem Gange der Operationen zu folgen. 


Paul Goldschmidt. 


Binterim und Mooren: Die Erzdiöcele Köln bis zur franzöfifchen 
Staat8ummälzung. Neu bearbeitet von Dr. med. Wlbert Mooren, Geb. 
Medizinalrath. Bd. 1 XVI, 689 S und 2 XVIII, 654 ©. Düſſeldorf, 
8. Bob & Co. 1892 u. 1893. 


Dieje neue Ausgabe des Hauptiverfed des um die niederrheinijche 
Geſchichte Hochverdienten Wachtendonker Pfarrer? Joſeph Hubert 
Mooren, der 1887 im Ulter von 90 Jahren geitorben ift, hat deſſen 
Neffe, der Geh. Medizinalratd Mooren in Düfjeldorf, beforgt.. Man 
wird ed al3 einen Alt der Pietät anerkennen, daß der einen Weltruf 
genießende Augenarzt ſich damit auf ein feiner fonftigen Beſchäftigung 
fo fern liegendes Urbeitögebiet begeben hat, und diefem Umjtand auch 
bei der Beurtheilung des Werkes Rechnung tragen. Mancherlei in 
der neuen Ausgabe muthet und doch etwas veraltet an; Texte mit 
unaufgelöften Abkürzungen find wir heutzutage nicht mehr gewohnt 
im Drud zu lefen. Und auch die Art, in welcher das urkundliche und 
fonftige Material zur Erläuterung des liber valoris herangezogen und 
beurtheilt ift, läßt an vielen Stellen den Mangel einer ficheren 
methodifhen Schulung erfennen. Diejer liber valoris, ein Zehnt⸗ 
regijter der Kölner Kirche au dem 14. Jahrhundert, deſſen Entdedung 
für Binterim und Mooren überhaupt die Veranlafjung zu der Heraus 
gabe des fleißigen Werkes wurde, bildet den Grundftod des 1. Bandes. 
Voraus gehen ihm, wie in der erften Ausgabe, eine Reihe von ein= 
leitenden Hijtorifchen Abhandlungen, über die Grenzen der Erzdiöcefe, 
die Dekanatseintheilung u. a. Daß der liber valoris eine Steuer: 
tabelle der Geiſtlichkeit für Kreuzzugszwecke geweſen ift, haben auch 
die urſprünglichen Herausgeber richtig erkannt. Es iſt ſchade, daß für 
die neue Ausgabe Gottlob's Buch über die Kreuzzugsſteuern noch nicht 
benußt werden fonnte; den allgemeinen Bemerlungen über die 





132 Literaturbericht. 


7000 Einwohner — bemerkenswerth durch das Alter ſeiner Stiftung, 
die allgemeine Bedeutung feiner urkundlichen Überlieferung und die 
feſte wirthſchaftliche Grundlage, welche ein weit audgedehnter, einer⸗ 
feit8 über Weſtfalen bis nad) Ditfriesland, andrerfeits bi8 nad) Brabant 
und den nördliden Niederlanden reichender Güterbejig im Verein 
mit den Öruppen abhängiger Lehen jowie in zahlreihen unter Ober- 
höfe gejtellten Zind-, Pacht- und Behandigungsgütern den regierenden 
Abte und deſſen Korporation gewährte. Während die äußere Gefchichte 
des Zerritorium3 an die kaiſerlichen und päpftlicden Privilegien der 
taufendjährigen Benediktinerabtei anknüpft und ihre Angelpunfte in 
der Eremtion gegenüber der Kölniſchen Kurie und in den Verhält- 
niffen der Schirmvogtei (in Händen insbefondere der Grajen von der 
Mark und Herzöge von Eleve, fowie der Brandenburgiſch-Preußiſchen 
Nechtönachfolger) hat, fällt die innere Entwidlung desfelben weſentlich 
mit der Gejtaltung feines Kirchen- und Pfarrweſens zujfammen, 
bafirt auf dem von Erzbiſchof Willibert von Köln im Jahre 875 
umfchriebenen Pfarriprengel und Zehntbezirl. An Stelle der einen 
Piarrei Werden (mit den Yiliallirhen zu St. Clemend oder zum 
Borne und zu St. Lucius oder Neulirchen für die jüdliche, beziehungs- 
weije nördliche Hälfte des Bezirks) traten erjt nad der Säfularifation 
von 1803 und im Bujammenhange mit der Neubildung der Erz- 
didcefe Köln 1827 drei Pfarreien, Werden, Kettwig und Heifingen. 
Dementiprechend gliedert ſich der Stoff vorliegender Dionographie in 
zwei Haupttheile, von denen der erſte die Geſchichte des Kirchen- und 
Pfarrweſens zur Zeit des Stifts, Der zweite diejenige der nach der 
Säkularifation eingerichteten Pfarreien einſchließlich der Reltorate 
Bredeney (jet gleichfalls Pfarre) und Dilldorf behandelt. In beiden 
Theilen find die einfchlägigen kirchlichen und politiichen Verhältniſſe 
auf Grund des QDuellenmateriald® und mit lobendwerthem Fleiße 
möglichſt vollitändig berüdiichtigt. Inſofern bezeichnet die Schrift 
gegenüber früheren jehr ungenügenden Arbeiten, wie U. Schunden’s 
„Beihhichte der Abtei Werden“ (1865) und W. Flügge's „Chronik der 
Stadt Werden“ (1887), einen unleugbaren Fortichritt. Dem zweiten 
Theile verleihen zudem eine Weihe von Urkunden und Altenjtüden 
de 12. bis 19. Kahrhundert3 im Anhange (S. 409—514) und ein 
jorgfältige8 Orts- und Namengregifter zum ganzen Werke erhöhten 
Werth. Daß die Neformationgzeit in weſentlich ungünftiger Beleuch: 
tung erjcheint, ift bei dem ftreng katholiſch-konfeſſionellen Standpunkte 
des Bf. begreiflich und fteht theilmeife auch im Zuſammenhange mit 





184 Riteraturbericht. 


Detail ald ein Inbegriff und Spiegelbild des gefammten franzöfiichen 
Refuge in Deutjchland. Aus Beidem erklärt fi” der Mangel an 
einheitliher KFompofition, die Belaftung der Darftellung mit einem 
übermäßigen Ballaft von Einzelheiten, die für den meiteren Leſerkreis 
nicht das geringjte Intereife haben. Wer ſich aber durd) dieſe Form⸗ 
lofigfeit nicht abjchreden läßt, wird doch feine Ausdauer durch manchen 
guten Fund belohnt fjehen. Im eriten Theile behandelt der Vf. Die 
Militär und den Übel; von erjteren ermittelt er im Laufe von zwei 
Sahrhunderten 199, deren Verzeichnid er, nad) dem Range geordnet, 
folgen läßt, darunter einige für die Sittengejchichte nicht uninterefjante 
Geftalten, wie die des abenteuerlihen „Staiferd von Madagasfar“, 
de Langalerie. Auffallenderweile trägt er bei Erwähnung des Haupts 
manns Ulerander v. Dohna die Abkunft dieſes Gefchlechte8 von einem 
Grafen Aloys von Urpach, einem fränfifchen Nitter aus Languedoc 
zur Zeit Karl's des Großen, als beglaubigte Thatſache vor, nod) 
dazu unter Citirung der Kompilation „die Dohnas“, wo daS gerade 
Gegentheil fteht, nämlich der von Räder geführte Nachweis, daB 
diefe Genealogie nichts iſt als eine Erfindung Paprocky's... — 
Der zweite Theil beijchäftigt ji) mit dem Fabrikweſen, dem Handel 
und dem Handwerk. Wie in allen Ländern, wo die Nejugies ſich 
anfiedelten, mit ihrem Auftreten für die Induſtrie eine neue Epodye 
beginnt, jo haben fie au in Preußen 65 neue Gewerbe eingeführt. 
Aber es jind fait nur Luxusinduſtrien, jür die da ausgeſogene Land 
feinen Markt bot, mas die Thatſache erflärlich madt, dab ſämmtliche 
hugenottiſche Großmanufakturiften von Magdeburg, und zwar bereitd 
unter König Friedrich I., banferott gegangen find. Was die Kolonie 
über Waſſer hielt, war die ebenfall3 von ihr eingeführte Strumpfe 
wirferei, wenngleid) damals ein Strumpf für die deutichen Barfüßler, 
felbjt für die vornehmeren Fußlappenträger, auch ein Luxus war. 
Doch auch diefer Erwerbszweig litt bald durch Überproduftion. 
Maſſenhaft gehen daher die armen Hugenotten zu Grunde oder jie 
wandern aus, und von den urjprünglid in Magdeburg angeliedelten 
Glaubensflüchtlingen iſt dort bald nicht ein einziger Name mehr vor: 
handen. Das Bild, welches 2. zeichnet, iſt alſo um vieles düſterer, 
als man es ſich gewöhnlich voritellt, und bejondere Beachtung ver- 
dient der mehrfach von ihm geführte Nachweis, daß die dem Könige 
eritatteten amtlichen Berichte von Dielen Nothitänden gefliffentlich 
jchweigen, daß dieſelben, je näher die Berichterftatter dem Hofe jtehen, 
um fo lieblicher, reiher und angenehmer werden, alfo durdaus feine 
unverdädtige Quelle darjtellen. — 





136 Riteraturberidht. 


Nachträge und Berichtigungen, diesmal in ungewöhnlicher Zahl, was 
nah der Vorrede ſich daraus erklärt, daß ein Mitarbeiter an dem 
Urkundenwerk, Dr. Techen in Wismar, den Band zwecks Anfertigung 
des Regiſters einer forgfältigen Durchſicht unterzog, die ſich ſogar 
auf eine nochmalige Vergleihung jümmtlider dem Wismar'ſchen 
Stadtarhiv entnommener Stüde auddehnte Das Negijter über 
diejen und die drei vorangehenden Bände wird als Band 17 des 
Urkundenbuchs zur Ausgabe gelangen. J. Wiggere. 


Die Matritel der Univerfität Roftod. 3,1. Oftern 1611 bi8 Michaelis 
1651. Mit Unterftügung des Großherzogl. Meckenburg-Schweriniſchen 
Minifteriumd und der Ritter und Landſchaft beider Medlenburg berauss 
gegeben von Dr. Adolf Hofmeifter, Kuſtos der Großherzogl. Univerjitäts- 
bibliothef. Rojtod, in Kommiſſion der Stiller’ihen Hof- und Univerfitäts- 
buchhandſung. 1893. 168 ©. 


Nachdem der Heraudgeber dieſes Werkes ſchon im Jahre 1886 
unter gleihem Zitel den Anfang, die Jahre 1419—1425 umfafjend, 
al3 Probe voraufgeſchickt hatte, veröffentlichte er von 1839 bis 1891 
deffen 1. und 2. Band, legteren wie den vorliegenden 3. Band in zwei 
Abtheilungen. Wir haben wiederholt von diejer, auch für angrenzende 
Theile der Geſchichtswiſſenſchaft werthvollen Urbeit in dieſer Beit- 
fchrift Kenntnis genommen. Der Schluß diefed® 3. Bandes wird für 
den SHerbit 1894 in Ausficht geitelt.e Ein dann nod folgender 
4. Band foll mit der Vollendung des Werfed ein erit deſſen volle 
Nupbarkfeit ermöglichendes ausführliches Negifter bringen. Die jept 
erihienene Abtheilung führt da® Wert nad den biöher befolgten 
Grundjäßen um vier Jahrzehnte, in die der Dreißigjährige Krieg 
fällt, weiter. Unter den Einwirkungen dieſes Krieges Hatte auch 
Roſtock und feine Univerjität zeitweife jtarf zu leiden. Während die 
Bahl der Immatrikulirten in den vorangehenden Halbjahren über 
100 und fogar über 200 betrug, wurden im Winter 1630/31 mır 
17 in das Matrikelbuch eingetragen, was in einer Note des derzeitigen 
Rektors daraus erklärt wird, daß durch die Sriegsleiitungen und 
Berwüjtungen ganz Deutſchland und beſonders Mecklenburg und die 
angrenzenden Länder erjchöpft jeien, Roftod eine kaiſerliche Beſatzung 
von 3000 Mann habe, die Eltern nit mehr die Mittel hätten, ihre 
Söhne auf Univerfitäten zu erhalten, aud) Bedenken trügen, diefelben 
in die don Kriegern angefüllte Stadt Rojtod zu fenden. Aber ſchon 
im Sommer 1632 hatten diefe Verhältniffe ſich jo fehr geändert, 





138 Literaturbericht. 


letztere haben mitunter, aber nicht immer, Überſchriſten in franzöſi⸗ 
ſcher Sprache, die wahrſcheinlich von Beelen ſelbſt herrühren. Cinen 
gewiſſen Erfag für die fonft fehlende Überficht bietet allerdings ein 
nach fachlichen Geſichtspunkten zufanınıengeitellter Auszug aus der 
Mehrzahl der Berichte Beelen’3, verfaßt von dem Grafen Broli, 
welcher an der Spitze diejer Berichte mit abgedrudt ift. 

Tupetz. 


Die böhmischen Landtagsverhandlungen und Landtagsbeſchlüſſe vom 
Jahre 1526 an bis auf die Neuzeit. Herausgegeben vom fgl. böhmifchen 
Landedardive. Bd. 7: 1586—1591. Prag, Berlag des fgl. böhm. Landes⸗ 
ausſchuſſes. Drud von D. Ed. Gregr. 1891. 731 ©. 

Über die Einrichtung diefes Urkundenwerkes ift bereit3 anläßlich 
des Erfcheinend der vorausgehenden Bände berichtet worden (vgl. 
bejonder8 58, 163 und 62, 557). Der vorliegende Band ent- 
hält auch Inhaltsverzeichniſſe und Sachregiſter zu den bereits 
früher erfchienenen Bänden, und zwar für jeden Band gefondert; 
bezüglich des Sadjregiiterd mag es dahingeitellt bleiben, ob nicht die 
Heritellung eined gemeinjamen Regiſters für alle jieben Bände vor» 
zuziehen gewejen wäre. Der Inhalt des vorliegenden Bandes gleicht 
dem feiner unmittelbaren Vorgänger: Berathungen über die Ver 
theidigung der ungarifchen Grenze, über die Ubzahlung der Taifer: 
(ihen Schulden, über die Beitragdleijtung von Eger und Elbogen 
zu den LZandesiteuern, dazu Beſchwerden des utraquiftiiden Kon⸗ 
jiitoriumd gegen Städte, welche das Lutherthum begünjtigten, endlid 
audy viele Urkunden von zum Theile fehr privater Natur. Ein 
intereflante8® Schriftitüd, dad man aber in dieſem Werke ebenfalls 
jchwerlich juchen würde, ijt die Errichtungsurkunde einer Jeſuiten⸗ 
Univerfität in Komotau durch Georg Popel von Lobkowitz, denjelben, 
welcher bald nachher aus nit ganz aufgeflärten Gründen ein 
tragifhed Ende fand. Tupetz. 


Johann Leopold von Hay. Ein biographiſcher Beitrag zur Geſchichte 
der Joſephiniſchen Kirchenpolitit. Bon Wilibeld Müller. Bien, Karl 
Gräjer. 1892. 92 ©. 

Das Büchlein fucht das Andenken eined halb in Vergeſſenheit 
gerathenen Kirchenfürften der Zofephinifchen Ara zu erneuern. Von 
den Fantilienverhältniffen desfelben vermag der Vf. troß fleißiger 
Nachforſchungen in den Archiven wenig mitzutheilen; bemerfenswerth 


140 Kiteraturberidt. 


weiſe des Bf. journaliſtiſcher gehalten it, als man es fonit an wifjen- 
ihaftlichen Arbeiten gewohnt ift. Tupetz. 


Geſchichte der Wiener Journaliſtik während des Jahres 1845. Ein Beis 
trag zur deutfhen Kulturgeihichte. Bon E. V. Zeuker. Bien und Leipzig, 
Wild. Braumüller, k. u. f. Hof⸗ und Univerfitätsbudhhändfer. 1893. VII, 159 S. 

Diejes Werl, eine Fortfeßung des von demfelben Bf. herrührenden 
Buches über die vormärzliche Zournaliftif, behandelt dasſelbe Material, 
welche& den befannten Buche Helfert's über die „Wiener Kournaliftif 
im Sahre 1848“ zu Grunde liegt, aber von einem theilmeife anderen 
Standpunkte. Im Ganzen ſtellt es fich als eine Art „Rettung“ der 
revolutionären Preſſe des Sturmjahre® überhaupt umd einzelner 
Sourmaliften wie Häfner insbefondere dar. Daß die Rettung voll: 
itändig gelungen wäre, vermödten wir nicht zu behaupten; ind 
bejondere jcheint ed und vergebliche Mühe, den indireften Zuſammen⸗ 
hang ziwiichen den Ausfchreitungen der radikalen Preffe und den 
Oftoberereignijjen in Abrede jtellen zu wollen, wenn aud die direkte 
Einwirkung eines beitimmten Beitungsartifels auf die Mörder Latour's 
nicht nachweisbar ift. Die Ausdrucksweiſe des Bf. ift nicht immer 
geihmadvoll; fein Streben, einen höheren Standpunft zur Beurtheis 
lung der Preſſe des Revolutionsjahres zu gewinnen, bleibt ſchließlich 
in ziemlich banalen Phraſen jteden. Tupetz. 


Sriedrih Graf Deym (geb. 1801, geit. 1853) und die öfterreichiiche 
Frage in der Paulskirche. Vom Grajen Franz Xaver Deym, Regierungss 
rath in Breslau. Leipzig, Breittopf & Härtel. 1891. VIII, 85 ©. 

Mit einen Eohne, der in findliher Pictät die Geſchichte feine! 
früh verjtorbenen Vaterd fchreibt, iſt ſchwer zu rechten, aud) wenn er 
die perjönliche Bedeutung desjelben etwas zu Hoch anfchlägt, umfomehr, 
wenn der Biograph fich mit fo liebenswürdiger Beſcheidenheit einführt, 
wie dies in der Vorrede des vorliegenden Buches geihieht. Es mag 
aljo dahingejtellt bleiben, ob ?sriedrih Graf Deym zu den führenden 
Geiſtern der Paulskirche gehört hat und daher die Erforjchung jeiner 
perfönlihen Stellungnahme zu den ſchwebenden Fragen, insbejondere 
zu der öſterreichiſchen, jo wichtig iſt, daß fie verdient, in einem 
bejonderen Buche dargejtellt zu werden. Was die Duellen betrifft, 
aus denen der Vf. fchöpft, jo jind es nur die bereitd durch den Druck 
veröffentlichten, ja der Bf. gibt fogar felbit zu, Daß er nicht einmal 
die ganze auf den Gegenitand bezügliche Literatur überblidt. Ihm 





142 Xiteraturbericht. 


Für Boni konnte F. vornehmlich aus den Nachrufen fchöpfen, 
die ihm feine Wiener Schüler 8. Schenfl, W. v. Hartel und 
Th. Gomperz, und außerdem 2. Bellermann in Berlin gemidmet 
haben. Auch zahlreiche Briefe und ein von Boni’ Sohn gefchriebener 
und bis zur Berufung feines Vaterd nad) Wien reichender Lebens» 
abriß Itanden zur Verfügung. 

Um geringfügigiten waren die bißherigen Veröffentlichungen über 
Erner. Indeſſen it über ihn in den Alten des Miniiteriums, in 
handſchriftlichen Aufzeichnungen jeiner Freunde und in dem Familien 
archiv ein ausgiebiged Material vorhanden, durch das ſich F. in den 
Stand gejeht fah, ein vollitändigeres Lebensbild von ihm zu entiwerfen. 

Es ift ein großes Glüd für Oſterreich gewejen, dab fich in den 
enticheidenden Monıenten feiner Wiederverjüngung 1848/9 Männer an 
der maßgebenden Stelle zufammenfanden, welche die Befähigung und 
die Kraft befaßen, den Geiſt ded neuen frischen Lebens, den die 
Befreiung von dem poliziftifch-jefuitifchen Syftem Metternich’8 erwedt 
hatte, in dag Bildungsweſen des Kaiſerſtaates Hineinzuleiten und ihm 
hier eine bleibende Stätte zu bereiten. Thun's gemeinnügiger Idealis⸗ 
mus und charaftervolle Feitigkeit, unterftügt von Helfert'8 geſchäfts⸗ 
gervandter Hand, Exner's freiſinnig-philoſophiſche Weltanfchauung, 
Bonig’ ſchulmänniſche Erfahrung und Beider gediegened Fachwiſſen 
wirkten bei der mujlergültigen Leiſtung des Organiſationsentwurfes auf 
das Erfprießlichite zujammen. In die Ausarbeitung haben jich Bonig 
und Erner getheilt, jo jedoch, daß es ebenfo wenig wie bei Goethe's und 
Schiller's Kenien möglich ift, die geiſtige Urheberfchaft Beider bis in 
alle Einzelheiten zu verfolgen und zu unterfcheiden. Die erite Nieder⸗ 
Schrift rührt zum größten Theil von Bonitz, zum fleineren — dars 
unter die „Vorbemerkungen“ und die überwiegend verwaltungäredits 
(ihen „Allgemeinen Beſtimmungen“ — von Exner ber. Vor 
befprechungen gingen über alle Punkte zwiſchen Beiden vorher, und 
ebenjo vereinbarten fie untereinander die abjchließende Feitftellung des 
Terted vor deflen Vorlage an den Minilter. Helfert's Bemerkung, 
„Daß alles Normative von Exner, alles Initruftive von Boni herrühre”, 
der F. Werth beimißt, findet doch in der Sejammtdaritellung %.'8 
feine Beitätigung. Biel treffender jagt 5. mit feinen eigenen Worten: 
„Der ganze Entwurf, wie er.vorliegt, muß als das Werk von Exner 
und Bonig bezeichnet werden.” Exner hatte Boni ſchon 1842 in 
Berlin fennen gelernt und aus den Ilnterredungen mit ihm, ſowie 
aus feiner allgemeineren Kenntnignahme vom Schulweſen in Deutſch⸗ 


144 Literaturbericht. 


thanenſchuldigkeiten, und endlich erſt am Endpunkt der Entwicklung 
zu dem Verſuch, den einzelnen Bauern in ſeinem Beſitzſtande zu 
ſchützen. Und mit der Fortentwicklung der Art und des Maßes des 
ſtaatlichen Eingreifens verwandelt ſich vor unſeren Augen zugleich 
der centrale Geſichtspunkt, unter dem dasſelbe erfolgt: aus einem 
vorwiegend fißfalifchen wird er unter Maria Thereiia ein überwiegend 
populationijtifcher und gewinnt unter Joſeph IL eimen radifal- 
philanthropifchen Charakter; die Überftürzung, welche diefer un- 
politiſche Standpunkt in die Befreiungsgejebgebung bradte, und der 
verfrühte Angriff auf die fundamentalen Lebensbedingungen des 
agrariihen Großbetriebes, den die letzten Maßregeln Joſeph's I. 
unternahmen, führten dazu, daB nad feinem Tode der bis dahin 
jtetige Fortgang der Agrargefeßgebung mit einem plößlichen Ruck für 
ein halbes Jahrhundert zum Stillitand gebradt und der Abſchluß 
erit durch die 4er Nevolution erziwungen wurde. — Den naheliegenden 
Bergleih dieſes Hergangd mit dem Verlauf der preußiichen Agrar: 
gejepgebung Hat auf Grund des G.'ſchen Werkes inzwiſchen Knapp 
mit der ihm eigenen künſtleriſchen Formvollendung derart gezogen, 
daß es verlorene Mühe wäre, das, was er geſagt hat, hier zu wieder⸗ 
holen. Wenn der Vergleich in ſozialpolitiſcher Beziehung nothwendiger⸗ 
weiſe zu gunſten ſterreichs ausfällt, ſo muß dabei — das möge, 
in Anknüpfung an Knapp und G., hier nochmals betont werden — 
im Auge behalten werden, daß die Reform fi in ſterreich gegen 
einen Stand von weniger als 2000 Grundherren richtete, welche ihr 
ungeheueres Areal überwiegend durch adminiſtrirte Betriebe, alſo in 
derjenigen Form nutzten und nutzen mußten, welche auch rein privat⸗ 
wirthſchaftlich die wenigſt entwicklungsſähige war, während es ſich in 
Preußen um die Depoſſedirung einer wohl etwa zehnfach größeren 
Zahl von damals ſehr lebenskräftigen Eigenwirthen handelte. Noch 
1871 zählte Pommern allein ?/ı mal jo viel „Gutsbezirke“, als Böhmen. 
Mähren und Sclejien zujammen „Dominien“. Und in weldem 
Maße die neuerdings oft in Zweifel gezogene Behauptung, daB der 
ojtelbifhe landwirthichaftlicde Großbetrieb auf den ungünjtigen Sand: 
böden des Oſtens Träger nicht nur des techniſchen Fortſchrittes, 
jondern auch der nativnalen deutichen Kultur überhaupt gewejen ift, 
zutrifft, ergeben 3. B. noch die Zahlen der Volkszählung von 1871 
in den nationalgemijchten Gebieten Wejtpreußend. Wenn 1871 
Evangelifhe (= Deutſche) und Katholifen (= Polen) an der Bes 
völferung der Landgemeinden und Gutsbezirke der mit befonders 





146 Literaturbericht. 


möchte die Behandlung des Stoffes hier faſt zu ausſchließlich rechts⸗ 
hiſtoriſch ſein: wir erfahren relativ wenig über die Beſiedlungsart 
des Landes, und auch die Art der Wirthſchaftsführnng der großen 
Güter kommt, ſo ſcheint es mir, etwas kurz ſort: die Typen der 
„Dreſchgütner“, „Auenhäusler“ ꝛc. ſind nicht ſo eingehend gezeichnet, 
wie Mancher angeſichts der Bedeutung, die dieſen Begriffen auch in 
Preugiih-Sclejien zufam, es wünſchen wird. Das vorwiegende 
Intereſſe für die rechtshiſtoriſche Seite der Sache tritt auch in der 
Art der Weiterführung und des Abſchluſſes der Erzählung des Bf. 
hervor. Die Darjtelung magert ab, je mehr fie ſich der neueften 
Zeit nähert, und ſchließt mit dem Rechtsakt der Bejeitigung des 
gutsherrlich-bäuerlichen Verhältniſſes durch Erlaß der Patente am 
7. September 1848 und 9. März 1849. Die Würdigung ded Er» 
gebnifjed ihrer Durchführung für die Grundbefigvertheilung und 
Arbeitöverfafjung des platten Landes, namentlich im Vergleich mit 
Preußen oder anderen öfterreihiichen Ländern, hat der Bf. nicht 
unternommen. — Allein e3 wäre undankbar, mit dem Pf. darüber 
zu rechten, daß und weshalb er nicht den Bereich feiner Betrachtung 
bier und da noch weiter erjtredt bat; wir haben Anlaß, und deſſen 
zu erfreuen, was er und in jeinen Werfe bieten wollte, und au⸗ 
zuerfennen, daß die Ausführung Hinter der Abficht zum Mindeſten 
nicht zurüdgeblieben ift. Max Weber. 


An introduction to English economic history and theory. By 
W. J. Ashley, M. A. Professor of economic history in Harvard 
University. Part I: The middle ages. Second edition. Part II: The 
end of the middle ages. London, Longmans, Green & Co. 1892. 1893. 
227 bzw. 501 ©. 

Auch in England ijt eine hiſtoriſche Schule in der NRationals 
ökonomie erwachſen, die, unbejriedigt durch die Abftraftionen und 
mißtrauiih gegen die abfoluten Dogmen der alten „Elaffifchen” 
Richtung, fid) zur Aufgabe gemacht hat, durch die Erforichung der 
wirthichaftlihen und fozialen Entwidlung, deren Produkt unjere 
gegenwärtigen Zuitände find, die Wiffenjchaft neu zu fundiren. Der 
Bf. des oben genannten Buches iſt einer ihrer hervorragenditen Vers 
treter. Er hat feine wifjenfchaftliche Laufbahn als fellow am Lin- 
coln College in Oxford begonnen, mar dann Profefjor der politifchen 
Okonomie an der Univerjität Toronto (Canada) und hat feit einigen 
Jahren den neubegründeten Lehrftuhl für Wirthſchaftsgeſchichte am 





148 Literaturbericht. 


volle Darlegung des Armenweſens im Mittelalter und der beginnenden 
Armengeſetzgebung im Ausgange desſelben (Kap. 5) zeigt, daß der 
Urjprung des Proletariat3 weit älter ift, als man in der Regel an⸗ 
genommen hat. Den Beihluß de 2. wie ded 1. Bandes macht je 
ein Kapitel über die ökonomiſchen Theorien der Zeit, wobei es ſich 
natürli in der Hauptſache um die kanoniſtiſche Doktrin handelt, 
deren relative Berechtigung der Vf. nachweiſt. In das Schlußfapitel 
des 1. Bandes jind außerdem noch Ausführungen über die Geſetz⸗ 
gebung aufgenommen worden, die u. E. beſſer in den früheren 
Kapiteln untergebracht worden wären, während das übrige fich leicht 
in das Schlußkapitel ded 2. Bandes eingefügt hätte. Jedes Stapitel 
wird mit einer Literaturüberjicht eröffnet, die fich zumeilen, wie im 
1. Kapitel des 1. Bandes (über die Grundherrſchaft) zu einem Fleinen 
dogmengeſchichtlichen Abriß geſtaltet. Es folgen Noten, in denen 
das einzelne quellenmäßig belegt wird. 

Im großen und ganzen ijt in England der Gang der Entwidlung 
ein ähnlicher wie in den Kontinentaljtaaten: anfangs die Grundherr⸗ 
ihaft und dad Dorf, dann die Stadtgemeinde, endlich größere Terri⸗ 
torialfomplere aus jtädtifchen und ländliden Gemeinden find die 
Träger des wirthichaftlihen Lebend, dad ſich auf immer breiterer 
Grundlage, in immer größeren politiihen Körpern organijitt. Den 
Urfprung der Grundherrſchaft will der Bf. mit der neueren franzd» 
jiichen Schule, deren Haupt Fuftel de Coulanges ift, und in Über 
einjtimmung mit Seebohm nit aus urfprünglicher markgenoſſen⸗ 
Ihaftliher Freiheit, jondern aus einem Zuſtande tiefer Unfreiheit 
der Zandbevölferung ableiten. Auch in England folgt in den Städten 
einer Herrichaftdepoche der Kaufmannsgilden eine ſolche der Zünite, 
um zu Beginn ded 16. Jahrhundert der vordringenden Staats- 
‚gewalt zu weichen; die Anficht von Rogers, daß bei der Reformation 
das Bunftvermögen eingezogen worden ſei, wird als ein Irrthum 
erwiejen, der auf der Verwechslung des kirchlichen Stiftungsvermögens 
nıit dem Zunftvermögen überhaupt beruht. 

Der Fortiegung ded ausgezeichneten Werkes jehen wir mit Er 
wartung und mit dem beiten Vertrauen entgegen. tz. 


Die Berjaffung der Kirhe von England. Bon Jelig Makower, 
Dr. jur. Berlin, 3. Guttentag. 1894. 560 ©. 

Wenn bisher unjere Kenntnis der kirchlichen Verfaſſung von 
England recht dürftig und lüdenhaft gewejen ift, jo ift der Grund 





150 Literaturbericht. 


die Dankbarkeit aller derer erworben, die im Zuſammenhange ihrer 
geſchichtlichen oder theologiſchen oder juriſtiſchen Studien auf die 
Verfaſſung der Kirche von England geführt werden. R. 


The history of early english literature, being the history of 
english poetry from its beginning to the accession of king Alfred 
By Stopford A. Brooke. 2 voll. VI, 344 u. 337 ©. London, Mac- 
millan. 1892. 


Zwei ftattlide, vornehm audgeitattete Bände über die Geidhichte 
der altenglijchen, angelſächſiſchen Dichtung bis zum Jahre 871, ver: 
faßt von einem befannten Theologen, der erſt in jpäterem Lebens 
alter ji al? Autodidalt mit der alten Sprache jeiner Heimat und 
mit der gelehrten Forſchung über ihre ältelten Denkmäler vertraut 
gemadt hat. Mit der lebteren freilih nur zum Theil und vor: 
wiegend indirekt: fein Führer nicht nur, fondern geradezu fein Ver⸗ 
mittler für die deutſche Fachliteratur ift der „Grundriß zur Gefchichte 
der angelfähliichen Literatur” von Prof. R. P. Wülfer geweien, ein 
Bud, das allerdings zu fünf Sechiteln aus Büchertiteln und Ercerpten 
bejteht, und der Neipeft, mit dem Rev. Broofe im Vorwort von 
diefer geifteSöden und formlojen Kompilation redet, erweckt fein 
günjtige3 Vorurtheil. Natürlih fennt B. auch den 1. Band von 
ten Brinf'S „Geſchichte der englifchen Literatur” (er citirt gelegentlich 
Die engliſche Ausgabe), aber er Hat dad Buch nicht ftudirt und für 
die Geſammtauffaſſung wie für die Einzelbetradhtung wenig Nuten 
daraus gezogen. Was aber gar feit dem Jahre 1885 (mo Wülker's 
„Grundriß“ erfchien) in Deutichland über die angelſächſiſche Dichtung 
und die lateinische Poeſie der Angelſachſen geforſcht und publizirt 
worden ijt, davon ſcheint der Vf. feine Kunde mehr gewonnen zu 
haben: die Bücher von ten Brinf und Müllenhoff über den Beomuli 
find ihm ebenfo unbekannt geblieben wie der fehr nützliche 3. Band 
von Ebert's „Allgemeiner Literaturgeſchichte“ und die glänzenden 
Arbeiten von 2. Traube über Ädelwulf u. f. w. Mit eigener Detail: 
arbeit hat der Vf. nirgends eingefept, ja er ijt, wie allerlei naive 
Äußerungen zeigen, in dad Wefen und die Methode der philologijche 
hiſtoriſchen Forſchung nur wenig eingedrungen. Sein Bud enthält 
wohl ein paar anregende Räſonnements, aber feine neuen Ergebniſſe 
und feine neuen, fürdernden Belichtäpunfte, und da es auch den 
gegenwärtigen Stand unſeres Wiſſens nicht zuverläfiig widergibt, 
darf es in Deutichland immerhin ungelejen bleiben. 





152 Literaturbericht. 


alterlihden Schriftthums bezeichnet worden. Man wird aber ohne 
Bedenken jagen dürfen, daß diefer zweite, was das Maß der eigenen 
gelehrten Arbeit wie die lebensvolle Gruppirung und Vorführung 
eines ungemein vieljeitigen Materiald angeht, feinem Vorgänger noch 
beträchtlich) überlegen ift. Ic felbft habe bei ten Brint im Sommer 
1876 eine Vorlefung über eben den Beitabjchnitt gehört, der dieſen 
Band umſpannt, und kann daher den Umfang und die Antenfität der 
Forſchung, die er feitdem nod) diefer Epoche zugewandt hat, am beften 
ermeſſen. Sie erjcheint nirgend8 imponirender als in den Partien. 
weldye der Geſchichte des miittelalterlichen Dramas gewitmet find, 
während in der Form der Darftellung vielleicht die Kapitel über 
jeinen alten Liebling Chaucer und über die: fchottifhen Dichter 
(Barbour, Dunbar, Douglas) noch mehr anjprechen werden. Die jehr 
eingehende (faft 200 Seiten lange) Behandlung der Literatur ic der 
wichtigen Übergangsepoche unter Heinrich VII. und Heinrich VIIL 
ericheint der bisherigen Forſchung gegenüber vollauf gerechtfertigt 
und darf vielleicht auch bei den Lejern diejer Zeitichrift gerade jept, 
wo eine neue Geſchichte England unter den Tudor's zu erjcheinen 
begonnen hat, auf bejondered Intereſſe rechnen. E. Schr. 


The Law and Custom of the Constitution. By Sir William R. 
Auson, Bart. D. C. L. of the Inner Temple, Barrister-atLaw, Warden 
of All Souls College, Oxford. Part I: Parliament. Second Edition. 
Part II: The Crown. Oxford, Clarendon Press. 1892. 2 vol. 875 u. 
494 S. 12 sh. 6 d. bezw. 14 sh. 


Der Bf., der fich durch ein vielgebrauchted® Buch über die Lehre 
vom Vertrage nach engliſchem Recht einen angejehenen Namen ver- 
ichafft hat, beabficytigt einen genauen Überblid über die Normen des 
engliſchen Berfafjungd- und Verwaltungsrechts zu geben. Er fieht 
e8 dabei auf eine deutliche Hervorhebung der beitehenden Geſchäfts⸗ 
praxis der Staatsverwaltung ab und erleichtert das Verſtändnis durch 
unabläſſige kurze hiſtoriſche Rückblicke und häufiges Herbeiziehen der 
jetzt gebräuchlichen Formeln des behördlichen Verkehrs. Von älteren 
Darſtellungen bat er im 1. Bande beſonders auf May's Parlia- 
mentary Praxis zurüdgegriffen, während ihm für den 2. Band 
Alpheus Todd's befannte® Buch On Parliamentary Government 
in England die größte Hilfe gewährte. Für die gejchichtlicden Ver⸗ 
weijungen hat er jih am engiten an Stubbs angelehnt, doch auch 
Hallam und May und einige Parliamentary Reports und Korres 





154 Literaturbericht. 


Parlamentsauflöſung und Neuwahlen herbeizuführen. Fällt Die Ent⸗ 
IHeidung der Wähler für das verivorjene Geſetz aus, ſo müflen die 
Lords ſich fügen und ihren Wideriprud aufgeben. Bei Gejegen, Die 
nicht von vitaler Bedeutung jind (nehmen wir die Deceased Wife's 
Sister Bill zum Beijpiel) hat das Oberhaus freie Hand. 

Dagegen find die hijtoriihen Nüdblide meijt oberflächlich und 
unzuverläjjig. Es tind bejonderd zmei Klippen, an denen der mit 
den Antiquitaten des engliihen Verjaſſungslebens nicht vertraute 
Autor gejcheitert iſt. Erſtens fällt er in den jo häufigen Fehler 
vager Gencrulijationen, die ıpveit über die Angaben der von ihm 
benugten Autoritäten hinausſchießen. So 3. B. in dem Sage: That 
representation is a condition precedent to taxation, and that 
tlıe law is the same for all freemen may be regarded as the 
cardinal principles of the :Greät‘! Charter (S. 15). Der zmeite 
Fehler beruht darauf, Daß Autoritäten auch als Beleg für Meinungen 
gelten jollen, die jie jelbjt nur ganz hypothetiſch Hingeitellt, gelegent- 
lich erwähnt ımd unerwieten gelaffen haben. Ztubb3 bringt als 
einen der möglichen Gründe, weshalb jo viele Städte ſich der Ber 
rufung zum Rarlament zu entzichen juchten, den Wunſch der Fleineren 
Ztadte, dadurch der höheren Zteuerituje, Die von den Bürgern 
bewilligt wurde, zu entgehen und lieber mit den Grafſchaften Die 
fieinere Zuote zu zahlen. Dieſes Jupponirte Motiv ericheint in der 
Tiedergabe bei N. als das Faktum, dab die Stadt, Die Vertreter 
ſandte, ein Zehntel, die unvertretene nur ein Fünfzehntel zu feuern 
hatte. Tas tft natürlich leicht als poſitiv Jalih zu erweilen. — Um 
noch ein erhevlicheres Beiſpiel zu bringen, jepe ih cin Diktum A.'s 
und ein den wahren Zadverhalt erbellendeg Aktenſtück hierher. A. 
bebaupter: „Tie ‘Petitionen der Gemeinen gingen der Beldbewilligung 
voran, und die Gewährung des Geldes mochte wohl von den Ant: 
merten abhängen, die die Gemeinen auf ihre “Petitionen erhalten 
haben.“ Dieſer nur ganz entfernt an einen Sup bei Stubbd an: 
Eingenden Behauptung braucht man nur einen freilich auch von 
Ztubbs uberiebenen Paſſus aus den Protofollen des Parlaments 
von 1402 entgegenzubalten: „Die Gemeinen baten unjern Herrn 
Nönig, Daß zur größeren Bequemlichkeit und Annehmlichkeit der 
genannten (demeinen es unterm Herrn König gefallen möge, jelbigen 
‘Vemeinen zu geſtetten, DaB Te von den Antivorten auf ihre gemein: 
I:men “Yetitionen Mennmis erhalten dürfen, bevor ſie eine Geld: 
bemilliaung machen. Daraui wurde ihnen ‚nach Berathung mit dem 





Io Literaturbericht. 


Krevtum (im 4. Bande der Harvard Law Review) beſondere Auf—- 
nerdumtleit geichenft. Diesmal bietet er und dad von ihm entdedte 
ototoll des Parlament? von 1305 mit vielen zur Erläuterung 
notdwendigen Wltenjtüden, die er aus den überreichen Schäßen des 
Mublie Record Office mit rajtlojem Fleiße bervorgezogen hat. In 
Dieter jeit Palgrave's Tagen in England felten gewordenen Vereinigung 
öwer zu erreichenden zufammengehörigen Material liegt der Schwer⸗ 
punkt der Edition. Der größte Theil des im Mittelpunfte ftehenden 
RKotulus Parliamenti war ſchon aus dem Auszuge in dem, wie 
Waitland wahricheinlid macht, im erjten Drittel ded 14. Jahrhunderts 
entitandenen ſog. Vetus Codex befannt; aber dur die neue Publi— 
kation wird uns die Gejhäftsführung in einem der ältejten Parlas 
mente zum erjten Mal urkundlich genau zur Anſchauung gebrad)t. 
In der ausführlichen Einleitung legt M. die verfaſſungsgeſchichtlichen 
Dauptrejultate feiner eingehenden Beihäftigung mit diefem und am 
genauejten befannten Parlanıente Eduard’8 I. nieder. M. iſt den 
aroßen Autoritäten von Hardy, Palgrave, Gneiſt und Stubb8 gegen 
über fehr zurüdhaltend mit feinen Urtheil. Um jo erireulicher war 
88 mir zu fehen, wie nahe er jich mit meinen vor zchn Jahren vers 
Öffentlichten und fpäter auch in der Hiſtor. Zeitſchrift!)) explizirten 
Anjchauungen berührt, die er freilih nur aus Gneiſt's polemijchen 
Benerfungen dagegen zu kennen fcheint. Nicht nur, daB der König 
von diefem Parlament feine Geldbewilligung verlangte oder erhielt, 
was ja nach der früheren Anjicht der jelbitverjtändliche Zweck jeder 
Berufung der Commons war. M. bezeichnet ausdrücklich ald one 
of the duties jedes Vertreter eined Wahlbezirfet: he brings in, 
and, it may be, urges by oral argunıent the petitions of that 
community which has sent him to the parliament (S. LXXIII). 
Faſt genau jo beißt e3 in meinem meine früheren Rejultate kurz 
rejerirenden Auffate, „daß fie Die Beichiwerden der einzelnen Gemeinde— 
genoffen jowohl wie ihres Verbandes vor den König und jcinen 
Rath bringen follten, daß fie dort auf Verlangen weitere Auskunft 
gaben und den Beicheid mit nad) Haufe nahmen.” Ebenſo konnte 
die Verwendung der Abgeordneten für adminijtrative Gefchäfte der 
Provinzialvderwaltung, auf die ich eingehend aufmerkſam gemadt 
hatte, dem Erforſcher der auf dieſes eine Parlament bezüglichen 
Urkunden nicht verborgen bleiben: Then, again, there are many 
appointments to be made; for example, it is the fashion at 








Notizen und Nachrichten. 


Die Berren Derfailler erfuchen wir, Sonderabzüge ihrer in 
Suntriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle 


wrügfiichtigt wünfchen, uns freundlicht einzufenden. 
Die Redaltion. 


Allgemeines. 


Ron den Jaſtrow'ſchen Jahresberihten der Geſchichts— 
wijsenjchaft it der 16. Jahrgang, 1893, erſchienen (Berlin, Gaertner. 
ww. 141. 455. 508. 301 S. 30 M.. Wir brauden nicht zu wieder: 
dolen, wie willlommen das pünktliche und ichnelle Erſcheinen diejer Publi⸗ 
Rution ijt. — Neu Dinzugelommen ijt diesmal ein bejonderer Bericht über 
dinefifhe Weichichtäliteratur. So erwünſcht die gebotene überſicht ſein 
mag, ſo ſcheinen uns durch die Einfügung dieſes Berichts die dem Unter: 
nehmen naturgemäß geſteckten Grenzen ebenſo überſchritten, wie durch die eines 
beſonderen Abſchnitts über ſüdruſſiſche Geſchichtsforſchung. Schon jetzt find 
die Bände der Jahresberichte zu ſehr großem Umfange angeſchwollen, und 
der gegenwärtig vorliegende Band wäre noch bedeutend ſtärker geworden, 
wenn nicht mehrere wichtige und umfangreiche Abſchnitte ganz fehlten und 
für den folgenden Jahrgang reſervirt wären (für's Alterthum Agypter und 
Griechen; für den Abſchnitt Deutſchland der ſchon ſeit Jahren ſchmerzlich 
vermißte Abſchnitt über die neueſte Zeit ſeit 1815, ſowie die Abſchnitte über 
Verfaſſung und Geſammtgeſchichte; für's Ausland der allgemeine Abſchnitt 
über Italien, England bis 1485, Dänemark ſeit 1523, Südſlawen, Neu⸗ 
griechenland ſeit 1453, Japan, Afrika, Mittel- und Südamerika; endlich die 
Abſchnitte über Geſchichtsphiloſophie und über Diplomatik). Wir halten 
aus rein räumlichen Rückſichten für geboten, daß beſondere territorial⸗ 
geſchichtliche Abſchnitte nur für Deutichland gegeben werden, die übrigen 





160 Notizen und Nachrichten. 


Zeit umfaſſen fell vgl. die Anzeige des Abbe Duchesne im Bulletin 
eritique 18% Wr. 4). 

Die Verlagsbuchhandlung von Bruylant⸗Chriſtophe in Brüſſel kündigt 
das Erjcheinen einer neuen Auflage des Dictionnaire encyclopedique de 
gedoxraphie historique du royaume de Belgique an (in 25 Lieferungen 
a 1,50 fr. berausgegeben von A. Jourdain und M. L. v. Stalle.) 

Die Buchbandlung von D. Harrafiowig in Leipzig ladet zur Subjtrip- 
tion ein auf ein neue® Repertorium latinae poeseos (Catholica 
Hyınnologiea excepta) ab Hugone Vaganay in Lugdunensi catho- 
liva universitate et bibliothecis, da® zur Ergänzung de8 Repertorium 
hymnologieum von Ulyſſe Chevalier dienen fol. Es ſoll in zwei Theile, 
mittelalterliche und moderne Poeſie, zerfallen und in 5 Faszikeln zu circa 
160 Blättern 49 herausgegeben werden (circa 150—200 Blätter für’3 Mittel: 
alter, A00 G00 Blätter für die neuere Zeit); Preis pro Blatt durchſchnitt⸗ 
lich KO}. 

Die Verlagsbuchbandlung von Dunder und Humblot in Leipzig beab: 
nichtigt, wine populäre, billige Ausgabe von Ranke's Weltgeihidte in 
4. Wänden ‚ohne die Anmerkungen und Analekten) lieferungsweije ericheinen zu 
tunen, die zu Ranke's 100jährigen Geburtätag, den 21. Dezember d. J., 
vollendet ſein ſoll. 

Ron Schoſſer'd Weligeſchichte iſt eine neue Auflage, von ©. Jaeger 
bearbeitet und bid ISSS fortgeführt, in einer billigen Vollsausgabe und in 
iluſtrirter Rrachtausgabe vollitändig erichienen. 


su Wsmand's Weburtstag it im Verlage von &. Heuer und Kirmſe 
dus L Det einer nenen Bismard:Rundihau eridienen, die hinfort 
in vier jahrlahen Deiten unter dem Titel: Bismarck, illuſtrirte Rundſchau 
ſur deuiſche Weſchichte, Kunſt und Leben, erſcheinen fol. 

Pie Kerlagsbuchhaudlung von E. Felber in Berlin verſendet einen 
Kroſppett uber Die von ibr im vorigen Jahre begründete „Bibliothet 
aberer dentiner Überjepungen“, eine Ergänzung zu den fchon 
etchenden ahnlihen Unternehmungen von Neudruden. Es ſoll die ganze 
deuiſche Überjepungstiteratur vom 14. bis 19. Jahrhundert, vornehmlich 
aber die Wuruye Dei Inerjepungskunft in den Streifen der deutfchen Hu⸗ 
wann beridjichtige werden. Herausgeber fit U. Sauer in Prag. 

Die Vachhandlung Hachette et Cie. in Paris fündigt das demnächſtige 
iriegeiwen (ver Wblaui des Jahres) des 7. und legten Bandes des großen 
Nuanyean dirtionnaire de g6eographie universelle an, 
woran d 1ATD begonnene Unternehmen zum Abſchluß gelangt. 

m Yalrieriit jür Numismatit 19, 4 veröffentliht R. Weil einen 

2‘ a Griftungefeit der numismatiihen Gejellihait zu Be 
1 Werteeg: Zur Weichichte des Studiums ber N 








162 Notizen und Nachrichten. 


noch ber Entzifierung harren, berichtt E. Senart im Journal Asiatique 
, 3: Notes W’Epigraphie indienne. 


Aus ber Zeitichrift der deutſchen morgenländiſchen Gejellihaft 48, 4 
rusiren mir einen bemerfenswerthen Aufjag von H. Oldenberg: Ter 
Seisihe Kalender und das Alter des Veda. Verfaſſer wendet ji ent: 
idieden gegen Jakobi's ajtronomijche Anjäge, aus denen derfelbe auf zu 
hohes Alter des Beda ſchloß. In demielben Heft findet ſich nod) ein in= 
'ereiianter Artilel von 3. H. Weißbach: Tas Grab bed Cyrus und die 
‚nidriiten von Murghab (als Grab des Cyrus kann am ehejten das fog. 
MYriananis Zalomo's gelten; die Injchriften von Murghab gehören dem 
‚urrren Cyrus an.) 


‚in den Zibungsberichten der Berliner Alademie der Wiſſenſchaften 
Je’ Nr. 8 findet fi ein Feiner Artikel von Ed. Sahau: Baal-Harran 
ein »inen altaramäiihen Zuichrift auf einem Relief des königlichen Mujeums 
ss Herlin unter dem Baal⸗Harran, dem Herrn von Harran, auf einer In⸗ 
hist von Sendſchirli ijt der Mondgott Sin zu veritehen). 


‚sit der Beilage der Münchener Allgem. Zeitung vom 8. Februar iſt 
re <trahburger IlniverjitätSrede von ®. Nomwad abgedrudt über „Die 
Aantuelſung der ifrachtiihen Religion“. 


sie Zeitichrift des deutichen Paläſtinavereins 17, 4 bringt die Schlup- 
ale un Benzinger's „Bericht über neue Erfceinungen auf dem Ge— 
bet ner Fafajtinaliteratur 1892 und 1893” und von Schlid’3 „Baus 
sehehjtchjte ber Stadt Jeruſalem in kurzen Umrijien von den ältejten Seiten 
Ile an) bie GErzenwart“. 


Hlwı die Auſgrahung der 6. Stadt in Troja im vorigen Jahre be- 
Hlantete einer ber Gehilfen Dörpfeld's, Dr. Götze, in der Märzjigung der 
Walter Grſellſchat für Anthropologie jehr eingehend. Einen Bericht 
uber man In ber National Zeitung vom 12. März. 


Ein Vritlel von Th. Trück in der Beilage der Münddener Allgem. 
gering bon 6 März: Telphi und die neuejten franzöfiihen Ausgrabungen, 
ihn eine populäre, aber eingehende und gut orientirende Überjiht über 
biefe Unagabungen. Gbenjo vergleide man einen Artikel von R. Lijter im 
Ninelsenth Century 216 (Febr. 1895.: Delphi, und den Beriht Ho molles 
in bes Aruelkinie den inner, 22 Nov.⸗Dez. 1894). 


Im Wlohus 67, T und N veröffentliht PreLt. Kannenberg einen 
größeren Uuſſaß: Tie paphlagoniicen Felſengräber, eine genaue, durch 
Helmmungen erläuterte Wefchreibung der von ihm auf feiner Erpedition in 
Kieinaflen aufnenonmmenen (Mrabdenktmäler (vgl. unjere Wotiz 73, 155). — 
An berfelben Yeltichriit Nr. 9 und 10 gibt ein Auflag von M. Hoernes: 
Das Problem der miyteniſchen Rultur, eine Beiprechung neuerer einjchlägiger 


7 


Wirbeiten. Wan vgl. aud) einen Auiſaß von L. Mariani ir "or 





164 Notizen und Nachrichten. 


hinaufgefahren wäre, wo ber Fluß noch ungetheilt ijt, und Germanicus 
daher nicht noch den zweiten Arm zu überfchreiten gehabt Hätte). 


A history of Rome to the battle of Actium by Evelyn Shirley 
Shuckburgh, London, Macmillan, 1894 (XXVI 809 ©.) verfolgt 
einen ähnlichen Zweck wie die einbändige römiſche Geſchichte von Karl 
Peter. Auf Verbreitung in Deutichland kann fie nicht rechnen; wer zu ihr 
greifen würde, begnügt jich auch mit Peter. -a- 


Mar Zoeller hat feine 1884 zuerft erſchienenen Römiſchen Staats 
und Rechtsalterthümer 1895 in zweiter Auflage (Breslau, Koebner, XIV., 
520 ©.) ausgeben können, wird mit ihnen aber jegt Mommſen's „Abriſſe 
des römifhen Staatsrechts“ gegenüber einen jchweren Stand haben. -a- 


Rudolf Shubert'3 Geſchichte bed Pyrrhus, neu unterfudt 
und nad) den Quellen dargejtellt (Königsberg in Pr., Koch, 1894, IV., 288 ©.), 
bietet eine jorgfältige Unterjuhung, läßt aber fragen, was fi der Ber- 
fafjer unter einer hiſtoriſchen Darftellung vorftellt, wenn er feine Arbeit 
für eine folde Hält. Pyrrhus ift für uns aud in feiner Perſönlichkeit 
fakbar, und feine Charakteriſtik bleibt eine lohnende Aufgabe. Zu dem 
eriten Kapitel ift nunmehr eine Marburger Dijiertation von Hermann 
Schmidt zu vergleihen: Epeirotifa, Beiträge zur Gejchichte des alten Epeiros 
(Epeiro8 vor König Pyrrhus). Den Bertrag zwiihen Rom und Karthago 
aus der Zeit des Pyrrhus behandelt Curt Wachsmuth in der Feitfchrift zum 
deutfchen Hiſtorikertage in Leipzig, 1894, ©. 57—68. Bon ben 18 Bogen 
jeine® Buches verwendet Schubert mehr als einen auf eine Auseinander⸗ 
jegung mit den NRecenjenten ſeines Agathofles. -A- 


Maurice Albert, Les (irees a Roıne. Les médecins grecs 
a Rome (Paris, Hachette, 1804, X, 323 ©.) beginnt das Horaziſche (iraecia 
capta ferum vietorem cepit zu illujtriren und beabfichtigt, die Vehand⸗ 
lung der Künſte folgen zu laſſen. Ten gelehrten Apparat hat der Verjaſſer 
nit bieten wollen. -2- 


Im Hermes 30, 1 publizirt Ed. Meyer einen Auffag: Der Urjprung 
des Tribunat® und die Gemeinde der vier Tribus (nebit einem Anhang 
über die Sezeffionen von 494 und 449). Es jolgt in dem Heft eine Studie 
zur neutejtamentlihen Quellenkritik von 9. Joachim: Die Überlieferung 
über Jeſus' letztes Mahl, und eine Anjchriftenjtudie von E. Ziebarth: 
Der Fluch im griedifhen Recht. Hiltoriih von bejondberem Intereſſe find 
mehrere Artikel zur Geſchichte der römiſchen Kaijerzeit. TH. Mommijen 
kommt in einem interefjanten Aufjap auf „Das Regenwunder der Marcus⸗ 
Säule“ zurüd (vgl. unjere Notizen 73, 544 und 74, 535). (Er jtellt ſich im 
allgemeinen, namentlich bezüglich des Briefes Marc Aurel's, auf die Seite 
Harnack's gegen Peterjen und Domaszewski, deren Hyperkritik er mit 
idarfen Worten entgegentritt. — Sodann behandelt P. Biered: Cuittungen 





166 Notizen und Nachrichten. 


demographiques d’Auguste (die Ehegeſetze, lex Julia und lex Papia 
Poppaea, und ihre Fortbildung in ber jpätern Kaiferzeit). — In demielben 
Heft gibt C. Jullian einen Überblid über die franzöjifhen Arbeiten zur 
römiſchen Gejhichte im Jahre 1894. (Travaux sur l'’antiquit6 romaine). 


In der Acadömie des inser. machte Breal Mittheilung von einer 
in Tunis bei Curba, dem alten Curubis, von einem franzdfifhen Offizier 
gefundenen Inſchrift aus dem Jahre 49 v. Chr., der älteiten bisher in 
Afrika gefundenen lateiniſchen Jnichrift (beit. Anordnungen zur ers: 
theidigung der von den Pompejanern befegten Stadt gegen einen Überfall 
der Cäſarianer. 


Sn ber Revue de philologie, de litterature et d’histoire anciennes 
19, 1 wirft Ph. Fabia die Frage auf: Les ouvrages de Tacite 
reussirent-ils aupres des contemporains?, die er in der Hauptſache 
bejaht. — 


Aus der Classical Review 9, 1 notiren wir eine Unterfudung von 
A. 9. 3. Greenidge: The procedure in the »provocatio« (das judi- 
cium populi in den SKomitien ijt nad) dem Verfaſſer im Wefentlichen 
Kajjationggericht und nur ausnahmsweiſe zugleich wirkliche Provofatione 
inftanz mit materieller Abänderung des Urtheils). 


Einen interejlanten Artifel veröffentliidt Ch. Hülfen im Bullettino 
della commiss. archeol. comun. di Roma 22, 4: II posto degli arvali 
nel colosseo e la capacitä dei teatri di Roma antica. Nad dem aus 
der Inſchrift vom Fahre 80 n. Chr. zu berechnenden Raum, der den Arval« 
brüdern eingeräumt war, berechnet Verfaſſer das Geſammtfaſſungsvermögen 
de3 Koloſſeum auf 40—50000 Zuſchauer; ebenfo ftellt er für andere Theater 
Berechnungen ihres Rauminhalt3 an. Beiläufig erwähnen wir Vorträge 
desjelben Gelehrten im archäologiichen Jnjtitut in Rom über die Lage des 
römiſchen Sonnentempel3 (nit am Abhange des Quirinals, fondern bei 
©. Eilveftro) und über die via Caecilia (Heerftraße von Rom an’8 abrias 
tiihe Meer, Zortführung der via Salaria. — In bdemfelben Heft des 
Bollettino publizirt C. Pascal eine Studie: Acca Larentia e il mito 
della Terra Madre (a proposito di un passo dei Fasti Prenestini. 
Verfaſſer erklärt die Sage für einen Naturmythus, in dem zu der etruß- 
tiichen Erdgöttin Mcca uriprünglih Jupiter als Himmeldgott gehörte). End⸗ 
ih wendet fi in dem Heit EC. Cantarelli nod einmal gegen Vaglieri: 
Nuove osservazioni sulla origine della cura Tiberis. 


Sn den Studi storici 3, 4 publizirt U. Crivellucci den zmeiten 
Theil ſeines Aufjapes: Gli editti di Costantino ai provinciali della 
Palestina e agli Orientali (Eus. V. C. 2, 24—42 e 4S—60; I. l’editto 
agli Orientali, das er gleichfalls für eine Fälſchung erflärt. Bgl. dazu 
von demjelben Verfaſſer am Schluß des Heftes aud bie Necenfion ber 





168 Notizen und Nachrichten. 


Miscelle von F. Laudert: Der unter Nilos des Älteren Namen über: 
lieferte ITapadeıcos (ftammt von Johannes Geometres). 


Eine Heine Schrift von R. Erampe: Philopatris. Ein heidniſches 
Konventifel des 7. Jahrhunderts zu Konitantinopel (Halle, Niemeyer. 189. 
62 S.) ſucht den Beweis zu führen, daß der pfeudolucianifhe Dialog 
Bhilopatris eine im Winter von 622 auf 623 entitandene orthodox-chriſftliche 
Streitihrift war, die den Kaiſer Heraclius zum Einſchreiten gegen einen 
beidnifchen Geheimbund in Konjtantinopel, der feine Hoffnungen auf bie 
Perſer jegte, bejtimmen jollte. Die Echrift iſt etwas weitihweifig, und ganz 
einwandfrei erſcheinen uns die Argumente des Verfaſſers nicht. 


In ber Revue des études grecques 7, Wr. 27/28 ſetzt &. Schlums 
berger jeine Publilation fort: Sceaux byzantins inedits, troisieme 
serie, no. 99—145. Aus demjelben Heft notiren wir Wrtitel von C. €- 
Ruelle: La clef des songes d’Achmet Abou-Mozar (fragment inedit 
et bonnes variantes, aus Manuſkripten der Bibliothöque Nationale: und 
von 9. Omont: Fragments d'un manuscrit perdu des 6lements 
d’Euclide (au8 dem 10. Jahrhundert, in Venedig). 


In der Nouvelle Revue Histor. de droit frangais et etranger 19,1 
veröffentlicht 9. Monnier die Fortiegung jeiner Etudes de droit byzantin. 


Aus der Acad&mie des inscriptions notiren wir nadträglid noch 
einen Artikel von CH. Diehl über eine in Kairuan gefundene lateiniiche 
Anichrift aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. mit einer Nachbildung der eigen- 
händigen Bejtätigungsformel des Kaijers für die Urkunde. 


In der Wiener Zeitſchrift für die Nunde des Morgenlandes publizirte 
Bd. Meißner: Eine ſyriſche Liſte antiocheniſcher Patriarchen (nebit Über⸗ 
fepung, nad einer Handjchrift des Brittiihen Muſeums). 


Qeue Bäder: G. Lumbroso, 1.Egitto dei Gredäi e dei 
Romani. 2. ed. Rom, Loeſcher) — Beaudouin, La limitation des 
fonds («de terre dans ses rapports avec le droit «le propriete. (Paris, 
Larose.) — Boissier, L’Afrique Romaine, (Paris, Hachette.) — 
C. Seed, Geſch. des Untergangs der antiken Welt. Bd. 1 und Anhang 
zu Bd. 1. (Berlin, Siemenroty & Worms. Mt. 6.) — 8. Baul, Tie 
Vorjtelungen vom Meſſias und vom Gottesreich bei den Synoptikern. 
(Bonn, Cohen.) — Krauß, Im Kerfer vor und nad Chriftus. Schatten 
und Licht aus dem profanen und kirchlichen Kultur: und Nechtäleben ver⸗ 
gangener Zeiten. ‚Freiburg i.B., Mohr. 6 M.ı — Knöpfler, Schrörs 
und Sdralek, Ktirhengejchichtlihe Studien. 2,2: v. Stychowski, Hierony⸗ 
mus als Literarhiitorifer. 2, 3: Nlebba, Tie Anthropologie des HL. Irenäus. 
Münſter, Schöningh. 4,60 bzw. 440 M. — Reville, Les origines 
de l’Episcopat. I. Paris, Leroux.) 





170 Notizen und Nachrichten. 


„Zur Beitattung Karl's des Großen“ nimmt E. Bauls in der Ztidr. 
des Aachener Geſchichtsvereins Bd. 16 noch einmal das Wort, indem er 
fih im Wejentlihen der Auffaſſung von Lindner anſchließt (vgl. unjere 
Notizen 71,172 u. 371). Aus derjelben Zeitſchrift notiren wir einen 
Urtilel von K. Rhoen: Zur Geſchichte der älteren Baudenfmale von 
Kornelimünjter (dem 10 km ſüdöſtlich von Aachen gelegenen Flecken. Reſte 
aus der römiſchen, der fränfijch-merovingifchen und der Karolingiichen Zeit, 
mit Abbildungen des Thurms der alten Pfarrkirche aus der Merovingerzeit 
und des Grundrijies der von Ludwig dem Krommen erbauten Kirche). 

In den Studi storici 3,2 jegt &. Simonetti feine Mittheilungen 
über I diplomi longobardi dell’ archivio arcivescovile di Lucca 
(T47— 761) fort. — In den Atti e memorie della R. Deput. di storia 
patria per le provincie di Romagna gibt P. Amaducci: XNotizie 
storiche su gli antichi conti di Bertinoro (mit Abdrud von 16 Urkunden 
aus dem 11. und 12. Jahrhundert). 


In den Romaniihen Forſchungen 8, 3 veröffentliht Mar Keuffer 
eine faft das ganze Heft füllende Abhandlung: Die StadtsMeger 
Kanzleien. An außerordentlich jorgjältiger und eingehender Unterjudjung 
behandelt Verfaſſer das Urkundenwejen der Stadt Me von Biſchof Bertram 
(1180—1212) an, indem er namentlich den franzöfiiden Dialekt der Lirkfunden 
nad) allen Richtungen Hin beſtimmt. Im Anhang drudt er 14 Urkunden 
in franzöfiiher Sprade au3 dem 13. und 14. Sahrhundert ab. 


Sn der Revue de Philologie francaise et provencale 8, 3'4 vers 
öftentliht der Herausgeber 2. Clédat einen Artikel: CEuvres narratives 
du moyen-dre (Analyſe mit eingefügten Auszügen in Überfegung von 
vier Stüden aus dem 12. Jahrhundert, dem lais de Marie de France ıc.‘. 

An der Revue histor. 57, 2 jet 9. Pirenne jeine Publikation: 
L'origine des constitutions urbaines au moyen-Age fort. E3 wird 
jih empfehlen, mit der Bejprechung zu warten, bis feine Unterjuchungen 
abgeſchloſſen vorliegen. 


In den Sitzungsberichten der Berliner Akad. der Wiſſenſch. 1895 Kr. 8 
gibt W. Wattenbad die „Beichreibung einer Handſchrift mittelalterlicher 
Gedichte (Berl. Cor. theol. oct. 1894)” aus der zweiten Hälfte des 12. Jahr⸗ 
hunderts, die zumeiſt keinen bejonderen Verfaſſern zuzuweiſende Schulpoefie 
enthält. Wattenbach theilt größere Abjchnitte und mehrere längere lateiniſche 
Gedichte über verjchiedenartige Themata daraus mit. 


„Über ein Fragment der Annales Öttenburani im Stifte Melf- 
aus dem 12. Jahrhundert beridtet P. Cd. E. Katſchthaler in den 
Kleinen Mittheilungen der Mitth. des Inſtituts f. Titerr. Geſchichtsforſchung. 

In den Blättern des Vereins für Landeskunde von Niederöſfterreich 
18, 9-12 madıt N. Starzer Mittheilung iiber das vor einigen Jahren 





172 Notizen und Nachrichten. 


Aue Bäder: Grimme, Mohammed. IL (Münfter i. W., Aſchen⸗ 
dorf. 3,60 M.) — G. Brupp, Kulturgefch. des Mittelalters. IL (Stutt- 
gart, Roth. 6,80 M.). — Keutgen, Unterfudhungen über den Urfprung 
der beutjchen Stadtverfaflung. (Leipzig, Dunder & Humblot. 5 M.. — 
Strakoſch-Graßmann, Geſchichte ber Deutfchen in Ofterreih-lingarn. L 
(Wien, Konegen. 12 M.) 


Späteres Mittelalter (1250— 1500). 


In den Mittheilungen des Inſtituts für öfterreihiiche Geſchichtsforſchung 
Bb. 16, Heft 1, ©. 1ff. erörtert C. Rodenberg in einer Unterfuchung 
„Zur Beihidte der Idee eines Deutſchen Erbreidhes im 
13. Jahrhundert” die Vorausſetzungen, von denen die Bäpite Urban IV. 
und Clemens IV., zwei geborene Franzoſen, und nad ihnen auch noch 
Gregor X. bei ihrer Stellungnahme zu den deutfchen Königswahlen aus» 
gingen — alles Pläne, die in ihrer Gejammtheit jelbjit von der Kurie nur 
vorübergehend gehegt wurden. Aber ganz offenbar wollten dieſe Päpite 
eine angejtrebte Erbmonarchie befördern, jobald als Gegenleiftung ber Ver⸗ 
zicht auf die Kaiferkrone erfolgt wäre. Eng verknüpfen fi hiermit ferner 
die Fragen nad) dem Wahlrecht der Kurfürjten, der Erweiterung des Kirchen⸗ 
jtaat® und der päpitlihen Herrihaft im übrigen Stalien. Weil wir jchledht 
hierüber unterrichtet jind, iſt allerdings jede Phaje, die ſich erfennen oder 
vermuthen läßt, beadhtenswerth, und bei dem verwidelten Wechjel der Situa- 
tionen ijt Rodenberg’8 genaue und vorfichtige Erörterung des Quellen: 
beitandes werthvoll. Im einzelnen werden freilich aud) andere Bermuthungen 
möglich jein. J.S. 

Ebenda S. Y7 ji. unterfuht Wilhelm Erben nochmald das ältere 
öjterreihifhe Rationar, über das bereits N. Dopſch, Mitth. 14, 449 fi. 
gehandelt Hatte. Durch genaueren Bergleid mit dem erhaltenen jüngeren 
Rativnar komnit Erben mit Notwendigleit zu dem abweidhenden Reſultaät, 
da in dem älteren eine einheitliche, urjprüngliche, der Regierungszeit 
Otkar's LU. angebörende Aufzeichnung nicht vorliegt. Vielmehr müſſen 
beide auf eine Urform aus der Babenberger Zeit zurüdgehen, bie eine zu⸗ 
fünftige Edition aus ihnen ohne allzugroße Schwierigkeiten wiederberitellen 
fan. J.S. 


In derjelben Beitfchrift S. 1285. weiſt Heinrih I tto im Anſchluß an 
Ficker's frühere Ausführungen genauer nad, daß die Verzichtleiſtung 
Alfons’ von Qajtilien vor dem 28. Juli 1275 jtattgefunden haben 
muß, an welhem Tag ihm der Papit den cajtiliichen Zehnt verlieh, und 
daß eine Verbriefung des VBerzichts vermuthlich nicht erfolgt ift, da es ſich 
jormell um Unterwerfung unter den püpjtliden Schiedsſpruch in Sachen des 
Thronitreit3 handelte, obwohl immerhin eine Ztelle der Vita Gregorii X. 
dem entgegen zu jtehen jcheint. J. 8ð . 





Notizen und Nachrichten. 175 


en einer Zählung ber Bevölkerung Roms vom Ende d. J. 
fang 1527 veröffentliht D. Gnoli aus dem Batik. Arch. in 
lella R. Societä Romana di Storia Patria (XVII, 3, 4) 
jelben ſtets der Name des Familienvorftandes und die Anzahl 
en Samilienglieder angegeben, ald Summe ergibt ſich etwas 
Renicen. 


Römiihen Quartalſchrift (1894, 3. 4) bringt EHjes aus dem 

d eine Dentſchrift des Diego Lopez Zuiiga (Gegner des 
3. 1530 zum Abdrud, in welder der Verfajier die Abhaltung 

inen Konzils für unzmwedmäßig erflärt, ſich dagegen mehr Er— 
Belänpfung Luther's und jeiner Anhänger durch Provinziale 
dem Borjige päpitfiher Legaten verjpricht. 


srechendes Lebensbild entwirft N. Baulus (Katholit, 1894, 
3) von dem Prediger und Biſchof Michael Helding, ber 
531 Reltor der Domſchule in Mainz, 1537 Weihbiſchof 
of von Merjeburg, 8 Präfident des Kammergerichts 
561 als Vorſibender des Reichshofraths in Wien jtarb. Er 
5 in den 40er und 50er Jahren an den Verhandlungen und 
rädhen mit den Proteitanten thätigen Antheil genommen und 
: eine bedeutende Rolle gejpielt. 
n tatholiſchen Standpunft au jhildert und beurtheilt E. Goerigk 
1895, Febr., 1. Urtitel) Jobann Bugenhagen und die 
ıng Ponmerns. 
Zeitjchrift des Aachener Gejchichtävereind XVI, 1894 publigirt 
dv einige dem Düſſeldorfer Staatsardive entnonmene Alten= 
hichte des Aachener Kirdenjtreites im 16. Jahrhundert. 
nthalten Verhandlungen zwiſchen dem Kaijer Ferdinand, dem 
Jülich und dem Rathe der Stadt Yaden; die Daritellung 
tzend beweijen ji, dah der Streit im Wejentlihen als poli— 
men iſt und nicht in ausſchließlich kirchlichen Gegenfägen jeinen 





fenthalt des Hubertus Languetus in Straßburg (1567 
idmet A. Holländer eine Meine Studie in d. Ziſchr. f. d. 
rrheins N, 1. Am intereſſanteſten jind die Berichte Languet's 
holomäusnadt in Paris, die er als Wortführer einer Ge- 
c protejtantijchen Stände miterlebte. Neues über den Verlauf 
en bringt er allerdings nicht. 

Jahrgang (1894) des Jahrbuchs der Wejellihait für die Ge— 
Zroteſtantismus in ſterreich enthält ein jehr mannigfaltiges 
uellen und Daritellungen) vornehmlih zur Geſchichte der 
rmationin denditerreihiidhen Kronländern, worauf 





114 Notizen und Nachrichten. 


beruhenden Aufjage® werben zwei Protokolle aus den Jahren 1899 und 
1400 abgedrudt. J.8. 


Ruysbroeck and the Mystics with selections from Ruys 
broeck. By Maurice Maeterlinck. Translated by Jane T. Stoddart 
(London, llodder and Stoughton. 1894. 153 ©. 3Sh.6p.) S. 1—121 
gibt eine Überjegung von M. Daeterlind’3 Einleitung zu jeiner Über 
jegung von Ruyabroed’3 Noces Spirituelles (Bruxelles 1891), welde 
eine recht anjprechende, allerdingd vom Standpunkt einer rüdhaltslojen 
Bewunderung für die Leiſtungen der mittelalterlihden Myſtik aus gejchriebene 
Daritellung der myitiihen Anſchauungen Ruysbroed’8 enthält. Auf S. 122 
big 153 iſt eine Auswahl von Stellen aus verjchiedenen Schriften bes 
niederländiihen Myſtikers beigefügt. 


P. Norrenberg, Tie hl. Irmgardis von Südteln (Bonn. 
Hanſiein 1804. 64 S. M. 1.) (Publikationen aus der rheiniſchen Geſchichte Ar. 9). 
Die Schrift iſt aus dem Nachlaß des kürzlih ala Pfarrer von Süchteln 
($treis Kempen) gejtorbenen Verfajjerd herausgegeben, der ſich durd eine 
Reihe von Beiträgen zur nieberrheiniihen Lofalgefhichte befannt gemadıt 
hatte. Sie enthält außer einem Nekrologe des Verfaſſers eingehende Unter- 
juchungen über die Abjtammung der Heiligen, die für die Genealogie 
des älteren Lützelburger Grafenhauſes von Intereſſe find, eine 
Geſchichte der Verehrung der Beiligen, eine llberficht über die Irmgardid- 
Riteratur, die Terte der lateinifchen und deutſchen Irmgardis-Legende und 
den Bericht über die Erhebung ihrer Reliquien im Kölner Dom vom 
Jahre 1844. 


Menue Büder: Delaborde, Jean de Joinville et les seigneurs 
de Joinville. (Paris, Impr. nat.) — Coville, Les Etats de Nor 


mandie.. au 14. siecle. Paris, Impr. nat.) — Pisko, Sfanderbeg. 
Wien, Frick. 4,80 M. — Erslev, Repertor. dipl. regni Danici medi- 


aevalis. 1,2 13271350. iKopenhagen, Wad.) 


Reformation und Gegenreformation (1500-1648). 


Im Jahrbuch d. Bei. f. d. Geſch. d. Proteſt. in Öſterreich (1896, 1) 
behandelt KR. zronine Luther's Beziehungen zu Böhmen und zwar 
in dieſem erjten Aufjage jpeziell zu den Utraquijten. Neues Material wırd 
dafür nicht beigebradht, die Schilderung beruht im Wejentlichen auf Luther's 
Brieien. Die direkten Beziehungen zu den Utraquiſten finden ihr Ende 
mit dem Abjall von Luther's früherem PVertrauten Gallus Cahera (1524, 
auf den ausführlid, eingegangen wird. 

In derjelben geitſchrift weiſt 6. Buchwald an einzelnen Beifpielen 
auf die Bedeutung des NSittenberger Urdinirtenbudes von 1537 
bis 1560 für die Neiormationsgeichichte Titerreihs bin. 





176 Notizen und Nachrichten. 


Bearbeiter diejer Verhältniſſe hiermit vermwiejen fein mögen. Auch bie dem 
Schlußheft beigegebene Bibliographie über die einfchlägige Literatur des 
Jahres 1893 dürfte Manchem willlommen jein. 


Eine werthvolle Bereicherung unjerer Kenntnis von der Entwidlung 
des Ständethums und ihrer Wechſelwirkung mit den wirthichaftichen In⸗ 
terejjen gibt die auf eingehenden ardivaliihen Forſchungen berubende Arbeit 
Arthur Kern's: Der „Neue Grenzzoll“ in Sciefin. Seine Ber 
gründung und Entwidlung 1556—1624 (Berliner Tijjertation 1892). Als 
König Ferdinand I. Schlefien 1526 an jein Haus brachte, waren die Gefälle aus 
dDiejem großen reichen Lande für den Herridyer nur noch gering. Bor allem 
der Türkenkrieg zwang ihn an die Erfchliegung neuer Yinanzquellen zu denen. 
Anfänglich jind die Stände auf's Heftigite gegen jeinen 1556 durchgeſetzten 
Grenzzoll, ſchließlich erlahmt ihr Widerftand, und der Kampf gegen ben 
Srenzzoll wird ein Kampf um den Grenzzoll. Bisher Hatte der ſchleſiſche 
Adel Zollfreiheit genojjien. Das Reformationsdekret Kaifer Rudolf 1. 
v. 3. 1600, welches bedeutende Tariferhöhungen feitjepte und den bisherigen 
Stüdzoll vielfah in einen Werthzoll umjegte, hob dieſes Vorrecht auf. 
Zunächſt allfeitiger Widerftand dagegen. Die jchleiiihe Kaufmannicait 
wird dadurd) gewonnen, daß für den Handelsverkehr der jremden Kaufleute 
zwei= big dreifach höhere Zolljüge eingeführt wurden, aber die Stände als 
Vertreter der landwirthichaftlihen Kreiſe widerjprehen um jo heftiger, da 
durch die Unterdrüdung der ausländiſchen Handelsfonfurren, der Landmann 
vollftändig dem einheimijchen Kaufmann preisgegeben werde Im Anfang 
des 17. Jahrhunderts nahm das jtändiihe Element wie in Teutichland 
jo aud in Schleſien einen jtegreihen Anlauf, jo dab es jchien, die Stünde 
wiirden ihre Obmacht darthun. Der Dreikigjährige Krieg brachte das Gegen: 
theil. Tie ſiegreiche Monardie wirft das Ständewejen nieder und vermag 
jet ihre Geſetzgebung den Wünſchen des jchlejtichen Handelsſtandes ent» 
iprehend zu ändern; die Edilte von 1623, 1624 und 1638 vermehren die 
Gegenſtände des Zolls, erhöhen die Zulljäpe und tragen den Wünfchen der 
einheimiſchen Kaufmannſchaft darin Rechnung, daß der Ausfuhrzoll für 
jremde Kaufleute verdoppelt, für die Juden verdreifacht wird. ık. 


In der Ytidır. f. d. Geſch. d. Oberrheins (N. F X, D drudt EHrouit 
drei Aftenjtüde bezw. Rechnungsauszüge ab, die einen Einblid in den Stand 
der furpfälzifchen Zinanzen, Ipezicll der Nammereinkünjte am Anfang bes 
17. Jahrhunderts gejtatten. . 

Unter den Gründen, die zur grojen engliiden Revolution 
führten, jpielen neben den diplomatijchen und kirchlichen Verhältniſſen die 
Oppoſition eines „zwar noch unvollkommenen, aber ehrgeizigen Parlamen⸗ 
tarismus“ und die Unterhohlung des Throns durch die gerichtlichen Streitig: 
keiten und Sandale eine wichtige Wolle. So weit dieje beiden Geſichte— 
punkte für die Jahre IE O3—1019 in Betracht kommen, hat jie Sayous 





178 Notizen und Nachrichten. 


Reue Bäder: Lavisse-Rambaud, Histoire generale IV. 
(1492—1559.) (Paris, A. Colin; Xeipzig, Brodhaus.) — Wierzbows- 
kiego, Jaköb Uchanski arcybiskup Gnieznienski (1502—1581). (War: 
ihau, Kowalewskiego. — Schriften des Vereins für Reformationsgeſchichte 
Nr. 46'47: Boſſert, Das Interim in Würtemberg. Nr. 48: Sperl, 
Pfalzgraf Philipp Ludwig vor Neuburg, fein Sohn Wolfgang Wilhelm und 
die Sefuiten. (Halle, Niemeyer.) — Curti, Carlo Emanuele I. (Milano, 
Tip. Bernardoni di C. Rebeschini E. C.). — Corpus constit. Daniae: 
Secher, Forordninger, Recesser etc. 1558—1660. IV,1. 2. (Kopen⸗ 
bagen, Sad.) — Valois, Inventaire des arrets du conseil d’Etat pour 
le regne de Henri IV. Il. (Paris, Impr. nationale.) — M. Ritter, 
Deutihe Gefchichte 1555— 1648. II. (1586— 1648). Stuttgart, Cotta. 
6 M.) — Briefe u. Alten 3. Geſch. d. Dreikigjähr. Krieges. VL (1608%.. 
Bearb. von F. Stievee (Münden, Rieger.) — Bifhoff und Shmibt, 
Teitichrift zur 250jähr. YZubelfeier des pegnefiichen Blumenordend. Nürn⸗ 
berg, Schrag.: 


1648—1789. 


Die Hülfstruppen, die der Große Kurfürft von Brandenburg 1663 zur 
faijerlihen Armee gegen die Türken entjandte, nahmen ihren Weg ebenjo 
wie im folgenden Sahre den Rückweg durch Schleſien. Dieje beiden Durch— 
märjhhe, die zu mannigfadhen Reibereien zwiſchen den Truppen und der 
Bevöllerung bezw. den Behörden Schlejiend jührten, da dieje leßteren an 
gutem Willen jehr viel und die Brandenburger an Manneszucht auch manches 
zu wünſchen übrig ließen, jchildert 8. Wutke jo eingehend wie möglich in 
einem Aufjag im 29. Bande (Zahrg. 1895; der Ztichr. d. Vereins für Geſch. 
u. Alterthum Schleſiens. 


Walther Ribbeck veröfjfentlicht im 52. Band der Ztſchr. f. vaterl. 
weſtfäliſche Geſch. u. Alterthumsk. (Münſter 1894) den Briefwechſel des 
Münſterſchen Domherrn und Dompropſtes Johann Rodger Torck vornehmlich 
mit dem Biſchof von Paderborn Ferdinand v. Fürſtenberg in den Jahren 
1665 1678. Ta die auswärtige Rolitit des Biſchofs Chriſtoph Bern— 
hard von Galen darin die Hauptrolle ſpielt, ſo hat der Herausgeber 
Veranlaſſung genommen, die vielverſchlungenen Wandlungen derſelben in 
einer ausführlichen Darſtellung klar zu legen. Auch zur Geſchichte des 
Großen Kurfürſten von Brandenburg enthalten die Briefe manche Notiz. 


Ein ungenannter, äußerſt gelehrter Forſcher iſt durch Die Beſprechung 
des verfehlten Buches von Torrens, History of cabinets: from the 
Union with Scotland to the Acquisition of Canada. London 18% 
angeregt worden, in der Kılinburgch Review, Jan. 18%, fur; und vor: 
treitlih die Entwidlung in der eugliſchen Politik von der perjönlidyen 
und der Kabinetsregierung zum parlantentariihen Negime darzuftellen. 





180 Notizen und Nachrichten. 


verdienen in der Mehrzahl nicht die hohe Werthſchätzung, bie Frensdorff ihnen 
beilegt. Uber die daran angefnüpften Erörterungen über die religiöfe 
Stellung und bie Kirchenpolitik Friedrich Wilhelm's find vorzüglich, fie find 
mit da8 Beite, was bisher darüber gefchrieben worden ijt. O.K. 


Swanomius bat in feiner Arbeit „Die Bernihtung des ſtändiſchen 
Einfluffes und die Reorganifation ber Verwaltung in Oſt preußen durch 
Sriedbrih Wilhelm I“ Abth. 1 (Sonderabdrud aus ber Jubiläums⸗ 
fohrift für die Albertus-Univerfität 1894. Königsberg, Hartung’she Bud» 
druderei. 42 ©.) auf Schmoller’8 bekannten Aufſatz weiterbauend gut und 
richtig die Punkte dargeftellt, von denen Friedrich Wilhelm's Reform in 
Dftpreußen ausging. Er führt feine dankenswerthen Forſchungen zunächſft 
bi8 zum Tode Waldburg’8 (1721). Der Tod des Grafen bildet allerbings 
feinen Abjchnitt in der inneren Geſchichte Oſtpreußens. Die Abhandlung 
fonnte, ſoweit fie fih mit den Ständen jelbjt befaßt, trog allem Fleiß und 
Scharfſinn die Forfhung nicht endgültig beichließen, da dem Berfafler nur 
die Königsberger Alten zu Gebote jtanden. Die durchaus noch ſtändiſch 
gefinnte Regierung der Provinz wurde von ber Berliner Gentralitelle in 
allen wichtigen Angelegenheiten nur jo weit in's Vertrauen gezogen, als 
es unumgänglid war. Um ein Beijpiel anzuführen: Die Huldigung 
Friedrich Wilhelm's ift durchaus nicht fo leicht von Statten gegangen, wie 
man allgemein annimmt. gen und Graf Mlerander Dohna mußten erft 
mübjelige und jchwierige Verhandlungen mit den Ständen pflegen, ehe dieſe 
fih berbeiließen, ohne vorhergehende Erledigung ihrer Gravamina zu 
Buldigen. Die Alten darüber werden in den Acta Borussica, Behörben- 
organijation Bd. 2, veröffentliht werden. in Theil davon ift bereits in 
den „Aufzeichnungen über die Vergangenheit der Familie Dohna.“ Theil 3 
benutzt worden. O. K. 


M. Grunwald's „Beiträge zur Charakteriſtik Friedrich's 
des Großen“ iau8 den Staats- und Stadtarchiv zu Breslau; betreffen 
Verwaltung und Jujtizwejen, Bejchleunigung des Prozeßverfahrens, Sicherung 
des religiöſen Friedens, befonders auch ;die Fürſorge des Königs für den 
Bauernſtand. Deutſche Revue, April 1895. 


Eine Anzeige des 1. Bandes von Koſer's „König Friedrich der Große“. 
der „Politiſchen Korreſpondenz“ des Königs und des Generalſtabswerks über 
bie jchlefiichen Itriege in der Edinburgh Review :Aprilbeft), unter dem Titel 
„Alter Zrig“, geitaltet fih zu einer leſenswerthen Studie über bie erjten 
Negierungsjahre des Königs. 

liber die Bauerngejeggebung unter Friedrich d. Gr. handelt 
eine beachtenswerthe Straßburger Difiertation (1895; von Beter Shutia- 
toff einem Ruſſen), die, auf Anregung von Profeſſor Knapp entitanden, 
deſſen kurze Darjtellung des Gegenjtandes weiter ausführt, wobei der 
Bauernſchutz mehr in den Vordergrund gejtellt wird ala bei Knapp. Die 





182 Notizen und Nachrichten. 


nächſtens erſcheinenden 4. Bande von Chaſſin's Vendee patriote (9. 8. 
72, 381), die Sendung der Deputirten Lequinio und Laignelot nad) Roche⸗ 
fort und der Vendée, mit Mitteilungen aus ungedrydten Memoiren über 
die Schandthaten Lequinio's in den Gefängnijien von Fontenay⸗le⸗Peuple. 


Vayſſie veröffentlicht zwei Schreiben Napoleon’3 und Lucian's 
an Joſeph Bonaparte, deren Originale er in Njaccio im Privatbefig ermittelt 
hat. Das Schreiben Napoleon’s, Paris 22. Juni 1792, betrifft Zafayette, 
den 20. Juni, die Parteifämpfe in Corjica, Arena, Peraldi, Familien⸗ 
angelegenheiten. Das höchſt interejjante Schreiben Lucian's, Acclani in 
Corfica, 24. Juni 1792, tadelt die zweideutige politifche Haltung Napoleon's. 
J'ai toujours demcle, ſchreibt Xucian, dans Napolione une ambition pas 
tout & fait egoiste, mais qui surpasse en lui son amour pour le bien 
public, je crois bien que dans un Etat libre c’est un homme dangereux. 
ll me semble bien penche ü ätre tyran, et je crois qu'il le serait 
bien s'il füt Roi et que son nom serait pour la posterit& et pour le 
patriote sensible un nom d’horreur. Bon fidy ſelbſt jchreibt Qucian dem 
Napoleon damals vorwarf: tu cours apres le pathos): Je me sen» le 
courage d’etre tyrannicide, je mourrai un poignard a la main. {Rer. 
de Paris, 15. März.‘ 


Die von Hermant unter dem Titel L'’Egypte en 1798 veröfient« 
lichten Wuszüge aud dem Tagebud; des Malers Neboute, der ald Mite 
glied der mwilienichaftlichen Kommifjion Napoleon 1798 nad) Agypten 
begleitete, geben hauptſächlich eine Schilderung der damaligen Zuſtände diejes 
Landes, enthalten aber auch einzelne interejjante Angaben über gejchichtliche 
Borgänge, 3. B. den Eindrud der Seeſchlacht von Abukir auf die Zuſchauer 
am Lande, die Empörung in Kairo (Oftober 17098 und deren graujame 
und verlujtreiche Unterdrückung u. ſ. w. Über Napoleon jelbjt jcheint das 
Tagebuh wenig oder nichts zu enthalten. Bemerkenswerth find die Mit» 
theilungen Redoute's über die ſchlechte Behandlung der wiſſenſchaftlichen 
Mitglieder der Expedition durd) die Tffiziere, weldye den Gelehrten die 
Schuld an der wenig beliebten Unternehmung zuichrieben. (Revue bleue, 
22. Dezember 1854 big U. März 1845.) 


Tie Rev. des deux Mondes (15. März, 1. April u. 15. Wai) veröffentlicht 
aus A. Sorel's 5. Bande den Abjchnitt de Léohen a Campo-Formio. 


In einer jehr umſichtigen und einleuchtenden Unterſuchung über den 
Bruch des Friedens von Amiens jtelt W. Ekedahl feit, dab die 
fommerzielle und foloniale Politik Napoleon's, verbunden mit der Aus 
Dehnung der franzöſiſchen Madıt auf dent Feſtland, England zur Erneuerung 
des Krieges genöthigt hat. Ter Streit um Malta war wichtig, aber keines⸗ 
wegs enticheidend, das Aufſehen über die Veröffentlichung des Berichtes 
Sebajtiani'8 diente nur als Vorwand. (The principal causes of the 





184 Notizen und Nachrichten. 


Unter dem Titel „Xrrfahrten und Abenteuer eines mittels 
ſtaatlichen Diplomaten. Gin Lebend- und Kufturbild aus den Zeiten 
um 1800* (Leipzig, Hirzel. 1894. 435 5.) fhildert der Freiherr Ludwig 
v. Ompteda das Leben Friedrich's v. Ompteda, der, 1772 geboren, 
nad) wechſelvollen Scidjalen in kurbraunſchweigiſchen und weſtfäliſchen 
Tienjten, im Jahre 1819 ala fol. hannoverſcher Gefandter in Rom gejtorben 
iſt. Sein Name wurde einjt viel genannt bei Gelegenheit des flandafdjen 
Prozeſſes gegen die Königin Karoline von England (1820), die er auf 
ihren Reifen in Stalien zu beobadten hatte, um ihrem Gemahl die zur 
glüdlihen Durchführung eines Scheidungsverfahrens nöthigen Beweife zu 
verichaffen. Der VBerfafler, der vor kurzen in der Biographie Chriſtian's 
v. Ompteda ein fo interejiante® Buch geliefert hat, hat es auch hier an 
erniten Forſchungen nicht fehlen lajjen und aus fyamilienpapieren wie aus 
den Archiven zu Berlin und Hannover mandjes Wifjendwerthe über jeinen 
Helden zuſammengebracht. Dies ijt bejonder8 der Darſtellung der weit 
jälüichen Zeit zu gute gelommen, wo Ompteda in Darmitadt, Frankfurt 
a. M. bei Dalberg) und in Wien Gejandter war, ſowie der Erzählung 
jeiner eigenartigen Beziehungen zu Karoline von England und der uns 
erfreulichen Ymwijchenjälle, die ihm in der Ausführung jeine® Auftrages 
begegneten. Eine „geſchichtliche Quelle“, wie der Verfaſſer jelbit erfennt, it 
die Arbeit darum nicht geworden; wohl aber ein nidyt uninterefjantes 
„Leſebuch“ für Anfpruchsfoje, die an den bunten Wechfel einer Erzählung, 
die bald am Reichstag in Negensburg, bald im alten Hannover, am Hofe 
Jerome's und in der Villa Karoline's jpielt, ihr Gefallen finden werden. 


Der von TH. Wiedemann veröffentlihte Briefwechſel Ranke's 
mit Bettina v. Arnim entjtammt den Jahren 1827—29, der Zeit von 
Ranke's erjier großer Neije, über die er aus Wien und Rom in feiner 
duntaligen jo perjünlichen und lebendigen Echreibweije berichtet. Bettina's 
Briefe, in denen jich nad) ihren eigenen Worten ihr Geiſt wie ein „Epiel« 
rägchen“ tummelt, beſprechen gejellihaftlihe Ereignitje in Berlin, Varnhagen 
und Rahel u. dal. Der Briefwechjel zeigt ein nahes und herzliches Wer: 
hältnis, das aber, ſchnell wie es entitanden, aud; wieder vergangen ill. 
Deutſche Revuc, April 1895.) 


G. Monod ſchildert, ausführlicher als in feiner kürzlich Bier beiprocdhenen 
Abhandlung H. 3. 74, 376, die Wirkſamkeit Michelet’8 an der Ecole 
normale und zeigt unter Benupung von nachgeſchriebenen Vorlefungen 
den einheitlichen Gang in der geijiigen Entwidhung Michelet's, dem ber 
Abjall vom katholiſchen Royalismus zum Nadilaliemus mehrfach vor» 
geworfen it. Monod bält jene Jahre (1827—38) für Michelet's bejte Zeit, 
die damals entitandenen Werke für jeine beiten. (Revuc des deux Mondes, 
15. Dezember 184.) 


In der Revue (les deux Mondes (1. März 1895) madt Graf 
Benedetti Mittheilung von jeinen Erlebniijen als Diplomat in Konftan- 





186 Notizen und Nachrichten. 


ſchrift 1892 nebſt einem Zujapartifel: Die Beurtheilung der öſterreichiſchen 
und preußiſchen Politif im Sybel’fhen Werke. Reval 1893), gibt 
zwei anſprechende Vorträge und zwei in der Form jehr mohlmwollend 
gehaltene, in der Sade ſtark polemiſche Artikel gegen H. v. Sybel. Tie 
erhobenen Vorwürfe beruhen vielfach, wie 3. B. der gegen die Auffajlung 
der preußischen Februar-Forderungen, der gegen die Tarjtellung der Gajteiner 
Stonvention, überhaupt der ſchleswig-holſteinſchen Frage in Einzelheiten wie 
in ihrer Ausgejtaltung zu einer deutjchen Angelegenheit auf einer Bertens 
nung ſtaatsrechtlicher Begriffe und vülferrechtlihen Verkehrs. Sie grup- 
piren jih um die Behauptung, day Sybel troß ſeines redlihen Willens 
es nicht veritanden babe, die öfterreihiihe Politik gerecht zu beurtbeilen. 
So ernfthaft diefer Vorwurf zu behandeln wäre, jo fehlt hier der Anlap. 
Denn die Begründung, daß nämlich jedes nähere Eingehen, jedes Ber: 
ſtändnis für den großen Schmerz jehle, den es Literreic) bereiten mußte, 
auf feine hergebrachte Stellung zu verzichten, beruht auf einem methodijchen 
Fehler. Die Beurtheilung der öſterreichiſchen Politik war eine weſentliche 
Aufgabe der Sybel'ſchen Tarjtellung, nicht aber die Erörterung der Gefühle, 
welche ſterreich hatte, als die Konjequenzen diejer Volitit durch Preußen 
gezogen wurden Andere Yejer werden ſich daher die angebliche Lücke jelbft 
ergänzt haben. E. B. 


R.Leonow, Geheime Dokumente der ruſſiſchen TCrient-Rolitil 
1882— 1890. Nach dem in Sofia erjhienenen ruſſiſchen Original herauss 
gegeben (Berlin, S. Cronbach. 1893. Seit der Mitte des vorigen Jahrzehnts 
hat faun ein Ereignis jo bedeutend auf die europäiſche Lage eingewirkt, 
wie die mit einem Thronwechſel verbundene Verdrängung des ruſſiſchen 
Einfluſſes aus Bulgarien. Eine Altenpublifation hierüber wird daher nicht 
nur dag Intereſſe des Molitifers erweden, jondern auch das Auge des 
zukünftigen Hiſtorikers auf ſich ziehen. Nun iſt 1892 eine ſolche in Sofia 
erſchienen, die auf dag Prädikat „authentiih” Anſpruch erhebt, und von dieſer 
ijt durd) Levnow cine deutſche Ausgabe bejorgt worden, welde, indem tie 
die von den BVorjipenden der Sobranje, den Bürgermeijter Petkow von 
Sofia, in bulgariiher Sprache geſchriebene Borrede als eine parteiiſche, 
und die in ruſſiſcher Sprade von dem rujjiihen Konſulats-Dragoman 
Jakobſohn als eine nicht genügend orientirte hijtorifche Einleitung fort 
fäht und beide durch eine Sammlung hiſtoriſcher Taten wie eine ganz kurze 
Erinnerung an die fejtitehenden Thatjachen erjept, doc) für die 241 — 3. 
im Ausznge — mitgetheilten Aftenjtüde vollen Glauben verlangt. Mit 
volljter Zicherheit läßt Jich darüber nod) nicht urtheilen. Nur fo viel er 
jahren wir, daß der Herausgeber der rujjiihen Ausgabe die Alten für echt 
ertlärt, daB der genannte Jafobjohn 181 von Rußland wegen Entwendung 
von Tohimenten verfolgt ijt, daß er mad der Abberufung der ruffiichen 
Konſuln von 1886 bis 1889 in Rujtichuf und jpäter in Bukareſt bequeme 
Gelegenheit gebabt Habe, Abſchriiten aus den jonjt nicht unbeaufjichtigten 





188 Notizen und Nachrichten. 


bient. Hier hätten archivaliihe Studien eintreten müfjen, an welchen Ber: 
fajjer vorübergeht. In diefen Abjchnitten bietet das Buch nicht, was der 
Titel jagt. Auch Dispoſition und Anordnung find bier mangelhaft, vieles 
nit zur Sache Gehörige eingejhoben, wie lüdenhafte Verzeichniſſe germa⸗ 
nijher und römiſcher Bauten, von römiſchen Kaftellen, alten Begräbnis⸗ 
jtätten. Recht mangelhaft ift ein beigegebenes Berzeichnid von Welstümern. 
Einer nicht immer glüdlihen Neigung zu etymologijchen Spielereien läßt ber 
Berfafjer bei jeder Gelegenheit die Zügel fchießen; wir begegnen überall den 
ungeheuerlichften Berfuhen zur Erklärung von Orts⸗ und Flurnamen im 
Taunus, die meiſtens bejjer unterblieben wären. Beigegeben ijt eine Sarte 
des behandelten Gebietd. 


Das 15. Hejt der Beiträge zur Geichichte von Stadt und Etift Eſſen 
(herausgegeben vom Hilft. Verein in Eſſen 1894) enthält zwei Heine Artifel 
von Arens über dad Wappen des Stift und der Stadt Eſſen jowie eine 
jehr ſummariſche überſicht über die -Verfafjung des Stift® aus der Feder 
desjelben Berfajierg, die er als Einleitung einen Abdrud de Landesgrund⸗ 
vergleih8 vom 14. September 1794 vorausſchickt. Zwei weitere Artifel von 
Grevel und Humann beſchäftigen ſich mit der Baugeichichte Eſſens, ber 
legte, verhältnismäßig beite von Dr. Ferd. Schröder bringt Beiträge 
zum eben der Abtijjiin Meina von Oberftein (1489—1521). Aus dem 
Sahreöbericht gebt hervor, daB das hiftoriiche Intereſſe in Ejien kein jehr 
reges zu jein jcheint. Der Zuſammenhang zwiſchen der modernen Induſtrie⸗ 
jtadt und dem alten Stiftöfleden iſt wahrjcheinlich nur jehr locker. Kohlen⸗ 
ihächte und Fabrikſchlote jind fchlechte Wegweijer zur Vergangenheit. 


In dem Pförtner Stammbucde 1543—1893 (Berlin, Weidmann. 
564 5.) bietet Dr. Mar Hoffmann, Überlehrer an der Landesichule Porta, 
ein auf gründfichiter Quellenforſchung beruhendes Verzeihnis ſämmtlicher 
Zöglinge jener altberühmten Anſtalt von ihrer Gründung big zu ihrer 350 jähr. 
Stiftungsfeier im vergangenen Jahre. Tas Berzeihnis umfaßt nicht weniger 
ale 12079 Nummern, und wenn fid) daher der Herausgeber bemüht bat, 
bie für das Leben der einzelnen Zöglinge wichtigen Nachrichten und Daten, 
joweit er irgend konnte, genau zu ermitteln, jo verdient jein Fleiß bie 
höchſte Anerkennung. v. Exloffstein. 


$. Biermann, der bewährte Forſcher auf dem Webiete der Geſchichte 
ſterreichs-Schleſien, hat’ eine zweite Auflage feiner 1863 zuerjt erfchienenen, 
feit zwanzig Jahren bereits vergrifienen „Geſchichte des Herzog» 
thums Teſchen“ (Teſchen 1894, VIIL 301 2.) veröffentliht. Auf 
Grund der zahlreichen Yublitationen Wrünhagen’s und Markgraf's und 
nocdhmaliger Forſchung im Breslauer Staatsard)iv hat er die meiſten Par⸗ 
tieen einer durchgreifenden Neubcarbeitung unterworjen. Tiejelbe tft ber 
jonder& der ältejten Geſchichte zu Gute gekommen: doch hätte gerade bier 
die neuere hiſtoriſche Literatur von polnijcher Seite einige Berücſichtigung 





1% Notizen und Nachrichten. 


Jena, Sicher. 15 M. — Frhr. v. Uslar-Gleihen, Geſch. ber Grafen 
von Binzenburg. (Hannover, Meyer.) — Nehlſen, Dithmarſcher Gefchichte 
(Hamburg, Berlagsanitalt. 5 M.) 


Bermifdtes. 


Bom 26. Zuli 6i8 3. Augujt d. 3. wird in London der jedhite 
internationale Geographenkongreß tagen, zu dem audh aus 
Deutſchland zahlreiche Betheiligung in Ausjicht ſteht. 


Die Göttinger philoſ. Fakultät bat folgende (langathmige) neue Benele- 
ide Breisaufgabe für das Jahr 1898 ausgefchrieben: Apollodori 
chronicorum reliquiae colligantur, eimendentur, illustrentur. Jubemus 
ipsum librum restitui, quoad hoc fieri potest, artem poäöticam, elo- 
cutionem, figuras dicendi explicari, consilium et studia grammatici, 
rationes chronologicas examinari. Optamus, ut definiatur, a quibus 
chroniva lecta sint, quantam apud posteros auctoritatem habuerint; 
sed in fidem rerum narratarum inquiri non expectamus. Bemwerbung® 
ichriften find in lateinijcher Sprache zum 31. Auguſt 1897 an die pbilofophiiche 
Safultät zu Göttingen einzujenden. 1. Preis 1700 M., 2. Preis 680 M. 


Der Vorſtand der Gejellichaft für Rheiniſche Geſchichtskunde (Borfigender: 
Stadtardivar Dr. Hanjen, Köln‘ madt bekannt, daß die Yrift für Die 
Preisaufgabe der Meviljen-Stiftung: „Uriprung und Entwidlung ber Vers 
waltungsbezirfe (inter) in einem oder mehreren größeren Territorien ber 
Rheinprovinz bis zum 17. Jahrhundert“, big zum 31. Januar 1897 vers 
längert worden ijt. 


Ter „Deutihbund“ in Berlin erläßt ein Preisausjchreiben für eine 
„Geſchichte des deutfhen Volkes“. Kinzureihen it zunächſt nur 
die Bearbeitung zweier Abjchnitte: Zeit der Hanjablüte und der oitbeutichen 
Kolonifation, und geitalter Friedrich's des Großen. Einlieferungsfriit bis 
zu Bismard’s Weburtstag, 1. April 1896, Preis 1000 M. und nad Abſchluß 
und Bequtahtung des dann zu vollendenden Ganzen weitere 2000 M. 
Zirkulare und Ausfunft dur den Bundeswart Dr. Friedrich Lange in Berlin 
und den zweiten Schriftwart: Karl Techentin, Berlin SW., Bimmerftr. 7. 


Am 12. Februar ſiarb zu Münden der Stonjervator der dortigen 
ägpptologijwen Sammlungen, Franz Joſef Lauth, im 73. Lebensjahr 
‚geb. am 18. Februar 1822 zu Arzheim in der Rheinpfalz,.. Seine Schriften 
gebören zumeiji der ägyptiichen Alterthumskunde an; befannt find nament« 
lich jeine Unterfuchungen über Manetho und den Turiner Rönigspapyrus 
München 1869. 

An Hannover jtarb am 18. Februar der dortige Staatdardjivar und 
Seh. Archivrath Karl Eduard Guſtav Janide, geb. am 1. Januar 
1529 zu Magdeburg, der ji namentlich um die mittelalterliche Geſchicht⸗ 





192 Notizen und Nachrichten. 


Am 22. Februar ftarb zu Paris im Ulter von 87 Jahren der pro» 
teitantifche Theologe und Kirchenhiftoriter Buaur, u. a. Berfafler einer 
Geſchichte der franzöfiihen Proteitanten. 


In London ſtarb am 5. März der berühmte Archäologe und Eprad- 
foriher Sir Henry Rawlinſon im 85. Lebensjahre (geb. 1810). Ur: 
ſprünglich Militär und Diplomat, benugte Rawlinſon jeinen dienftlichen 
Aufenthalt in Perfien zu ſprachlichen und archäologiſchen Studien, und von 
feinen Abklatſchen und Entzifferungen der altperjiihen und aſſyriſch⸗babylo⸗ 
niſchen Keilinjchriften Datirt eine neue Epoche ber Keilſchriftforſchung. Sein 
großes Hauptwerk find The cuneiform inscriptions of Western Asia in 
4 Bänden, 1861—10. 


Am 11. Mär ftarb in Mailand der italieniihe Geſchichtſchreiber 
Ceſare Santu im 88. Lebensjahre (geb. 8. Dezember 1807 zu Brivio in 
der Lombardei), Berfaffer der befannteften Weltgeichichte in ttafienijcher 
Sprade (in 35 Bänden, 1835 begonnen, in katholiſcher Auffafjung gefchrieben . 
Er Hat außerdem zahfreiche Heinere hiſtoriſche und literarhiſtoriſche Arbeiten 
veröffentlicht und auch als Dichter fih einen angejehenen Namen erworben. 


Über Viktor Duruy veröfientliht E. Laviſſe in der Revue de 
Paris vom 15. Februar und 1. Mär, Erinnerungen aus intimer Kennmis. 


Entgegnung. 

Zu der Kritik in Bd. 74, 347 dieſer Zeitſchrift bemerkt der Unterzeichnete 
zur Steuer der Wahrheit Folgendes: 

Tie beiden vom Ref. getroffenen „Artitel* B. 3. Heft 94 und Beilage 
zur Allgem. Ztg. 1894 Nr. 250 enthalten feine Wiederholungen, jondern 
bringen im ®egentheile die betr. Rejultate in erjter Form, ebenjo die 
Arbeit über den „Drachenfels“. 


Neujtadt a. d. H., 20. März 1845. 
Dr. C. Mehlis, 


tgl. Gymnaſiallehrer, Borjtand des Alterthunsvereins zu Dürfdeim, ausw. 
Sekretär des B. v. A. i. RH. ıc. 





194 N. Pöhlmann, 


Die jentimentale Idylle diejed Naturzuftandes beruhte in 
doppelter Hinſicht auf falfchen Vorausſetzungen: Einmal auf 
einer ganz unhiftorischen Anficht von der Sugendlichkeit der Nation 
und dann auf übertriebenen Vorjtellungen von der dfonomilchen 
Gleichheit primitiver Gejellichaftszuftände. Welch’ ungemefjene 
Beiträume mögen verjtrichen gewejen jein zwijchen jener Urzeit, 
in der die Hellenen aus dem Mutterjchoße der indogermaniichen 
Völferfamilte ich losgelöſt hatten, und der Befiedlung ihrer 
hiſtoriſchen Wohnſitze am Mittelmeer! Die Hellenen in Hellas 
waren von Anfang an nicht® weniger als ein Volf, das gewiſſer⸗ 
maßen eben erſt aus der Hand der Natur hervorgegangen, wie 
jih da3 die nationale Sage von dem Urhellenen Deufalion vor 
jtellte; — fie hatten vielmehr bereit3 eine lange Vergangenheit 
hinter ji). Andrerſeits mag man fich die jozialdöfonomijchen 
Zuſtände des älteiten Hellas noch jo wenig entwidelt denfen, eine 
Verwirklichung des Gleichheitsideals, wie es der Lehre vom Natur 
zuftande vorjchiwebte, würde man ſelbſt hier nicht gefunden Haben. 

So enge auch damals noch das Gemeinfchaftsleben inner 
halb des Stammes: oder Sippenverbanded geweſen jein mag; 
jobald einmal ein Sondereigen an der Fahrhabe, an den Herden: 
thieren der Weiden, an Geräth und Hausrath, an Schmud und 
Waffen anerfannt wurde — und dies war befanntlich fchon in 
der indogernanijchen Urzeit der Fall!) —, war auch die Mög 
lichkeit gegeben, dag der Einzelne die Stopfzahl feines Viehes 
beliebig vermehrte und ſich dadurch an Wohlitand über bie 
Genojjen erhob, während andrerjeit3 das wechjelvolle Schidjal, 
welchem das lebende Kapital des Hirten unterworfen ift, bie 
Sorglojigfeit, mit der der Naturmenich dem Yugenblide lebt 
und die Anjammlung genügender VBorräthe für Menic und Thier 
vernacdhläjjigt, nur zu leicht den Wohlhabenden zum Bettler 
machen fonnte.?) 


») Bgl. die Überficht über die Terminologie für Eigentum, Beſiß, 
Reichthum in den indogermanifchen Sprachen bei Schrader, Linguiſtiſch⸗ 
hiſtoriſche Forſchungen zur Handelägeidichte und Waarenfunde 1, 59 ff. 

2) Vgl. 3.8. die Beobachtungen Middendori’s über die Romaden bei 
derghanathals, in den Memviren der Petersburger Akademie 1881 S. 885 fi. 


Aus dem helleniſchen Mittelalter. 195 


Mit diejer natürlichen Tendenz zur Entwicklung jozialer 
Ungleichheit verband ſich aber jchon frühzeitig ein zweites, im 
derjelben Richtung wirfendes Moment: die Möglichkeit, fremde 
Arbeit zur Steigerung der wirthjchaftlichen Kraft des Einzelnen 
und zu perjönfichen Dienten nugbar zu machen. Wenn die 
Griechen jpäter vielfach geglaubt haben, daß es bei ihnen in 
ältejter Zeit feine Unfreien gegeben habe!), jo überjehen fie, daß 
ſich die Unbelanntjchaft mit der Sklaverei nur unter den aller- 
primitivften Lebensverhältniffen, bei Jäger- und Fijchervölfern, 
findet, weil hier eben an eine entſprechende Verwerthung der 
unfreien Arbeit in der Megel nicht zu denfen ift. Dagegen ent 
wicelt ſchon die Viehzucht und noch mehr der Aderbau das 
Bedürfnis nach dienenden Arbeitskräften, welches auf niedrigen 
Wirthſchaftsſtufen am beften durch unfreie Menjchen befriedigt 
werden fonnte.?) Beſonders den Aderbau überläßt ein noch 
halb nomadijches, nur widerwillig zur Bodenbejtellung fich ber 
quemendes Volt, wie es die älteften Hellenen allem Anfcheine 
nad) waren, am liebjten Anderen, Frauen, Greifen und Knechten. 
Und es iſt imjofern wohl begründet, wenn der Prophet von dem 
Pfluge gejagt hat, daß, wo mur dies Werkzeug hingedrungen 
fei, es jtetS auch die Knechtichaft mit fich geführt habe. War 
‚aber einmal das Bedürfnis nach unfreier Arbeit erwacht, jo ergab 
ich feine Befriedigung von ſelbſt auf mannigfadhem Wege: vor 
allem durch Noth und Gewalt. Die durch den Verluſt der 

Verarmten, die in Kampf und Fehde Unterlegenen fanden 
eben durch die Knechtichaft die Rettung ihres Daſeins. An die 
Stelle der urſprünglichen Sitte, den befiegten Feind zu erfchlagen 
oder den Göttern zu opfern, trat immer allgemeiner die Vers 
tnechtung, welche die Arbeitskraft des Beſiegten dem Sieger 


Daß dieje Herrjchaft über unfreie Arbeitskräfte die Ent 
widlung der Ungleichheit unter den Freien jelbft fördern mußte, 
M) Bgl. 3. B. Herodot 6, 137; Pherefrat. bei Athenäus 6, 630. Da- 
gegen Philohoros in Macrob. Saturnal. 1, 10. 
5) Daber führt Mommien, R. ©. 1%, 17 die Stlaverei als rechtliche 
Inftitution mit gutem Grund bis in die indogermanifche Urzeit zuriid. 
13* 


1% N. Pöhlmann, 


leuchtet ein. Beſonders werden die Führer des Volkes, die 
Bejchlechtd: und Stanmeshäuptlinge in der Lage geweſen fein, 
ſich dieſes Mitteld zur Mehrung ihres Beſitzes und ihres An: 
\ehen® zu bedienen. Wohl mochte jeder freie Stammesgenofie 
jelbit jenen ſich gleichitehend dünfen, thatfächlich ift doch gewiß 
ſchon diefer Zeit die Erfenntnis nicht erfpart geblieben, daß un- 
gleicher Beſitz ungleiche Macht bedeutet. 

Werden wir annehmen dürfen, daß ein ſolches Vol, wenn 
es nun zu voller Seßhaftigfeit und zur endgültigen Vertheilung 
bes nationalen Bodens überging, diefe Theilung auf den Fuße 
vollfommener Gleichheit durchgeführt hat? 

Darüber kann ja allerdings fein Zweifel bejtehen, daß, was 
die große Mafje der ‘Freien betrifft, die den einzelnen Familien 
oder Individuen zugemwiejenen Zandantheile durchichnittlic) von 
annähernder Gleichheit gewejen find. Die Bezeichnung der Hufen 
als “Arooı, welche unverkennbar auf eine Theilung durch's Los 
hinweiſt, nöthigt zu der Annahme, daß diejelben urſprünglich 
ein gewiſſes Normalmaß des Landeigenthums darftellten, welches 
etwa der Zeiftungsjähigfeit und den Bedürfniffen der Durd» 
ſchnittsfamilie entſprochen haben wird.!) Allein das jchliekt 
keineswegs aus, daß Einzelne, und zwar nicht nur die Häupt⸗ 
linge, fondern auch Andere, welche die Mafje an Belig und 
Anjehen überragten, einen bevorzugten Antheil erhielten. Wenn 
in der Ilias die Sitte erwähnt wird, verdiente Helden von 
Geite der Gejammtheit in ähnlicher Weije, wie den Fürften mit 
reichlihem LZandbefit, mit einem r&uevos auszujtatten, jo wurzelt 
diefer Brauch offenbar in uralter Gewohnheit des Volkes.?) 
Es wird bei den Hellenen nicht ander® geweſen fein, als bei 
den Germanen der taciteiichen Zeit, die den Grund und Boden 
ebenfall® „nach der jozialen Werthſchätzung“ (secundum digna- 
tionem, Tac. Germ. 26) getheilt haben. Noch weniger it 
natürlich zu bezweifeln, daß bei den jpäteren Landtheilungen, 


1) Aus den Angaben über den Ertrag der fpartiatifhen Landloſe fchliekt 
E. Meyer (G. d. A. 2, 297), daß diefelben ungefähr die Größe einer deutichen 
Hufe (30-40 Morgen) gehabt hätten. 

2) 9, 578 fi.; 20, 184. 


Aus dem helleniſchen Mittelalter. 197 


den legten Wanderungen und Umficdlungen, durch welche 
gejchichtliche Hellas jeine Gejtalt erhielt, der Verſchiedenheit 
Inſehens, des Bejiges, der Macht Rechnung getragen wurde. 
Mit dem definitiven Abſchluß der Landtheilung umd der 
ildung des Privateigenthums am Grund und Boden begann 
aber der angebeutete Entwidlungsprozeh der Ungleichheit 
Unfreiheit in der Geſellſchaft mit erneuter und vermehrter 
t feine Wirkjamfeit zu erweiſen. Sowie der Boden zum 
athum ward, wurde er auch alsbald von jener Bewegung 
fien, welche das Güterleben beherrſcht und durd) die Art 
Weiſe, wie fie den Übergang des Eigenthums aus einer 
> im die andere vermittelt, die urfprüngliche Verteilung 
firzerer oder längerer Zeit wejentlich umzugejtalten vermag. 
einmal die Möglichkeit gegeben, durch Erbſchaft, Vertrag, 
it u. j. w. mehrere Hufen in Einer Hand zu vereinigen, jo 
felbſt die weitgehendfte Gleichheit in Bälde durchbrochen 
- Sa e3 fonnte vielfach nicht ausbleiben, dab ſich im 
e der Zeit durch die Vermehrung der urfprünglich nur aus— 
isweiſe vorhandenen größeren Bejigungen eine höhere wirth— 
tliche Klaſſe über den einfachen Hufenbefigern erhob.') 

Dazu kamen die tiejgreifenden Wirkungen, welche das Wachs-⸗ 
t der Bevölferung auf die Vertheilung der Güter zur Folge 
Der Beſitzer eines Angos, der mehrere Söhne hatte, 


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Lage der Familie mußte ſich daher nothwendig ver- 
(, jo lange nicht etwa die Möglichkeit beftand, aus 
oder Odland den Beitand der Hufe zu vermehren, 
ie Nachkommenjchaft, für welche diejelbe nicht mehr aus— 
, neuen Kulturboden zu gewinnen. Daß aber dieje Quelle 

rbes in vielen Landichaften ſchon in ziemlich 
it zu verfiegen begann, zeigen die Schilderungen des 
ei Epos, die ganz aus den Empfindungen einer Zeit 
8 irt find, in welcher der innere Ausbau des Landes 
9 Bgl. bie geiftvolle Schilderung diejes Prozefies bei Lorenz v. Stein, 
Entwidlung der Staatswiſſenſchaft bei den Griechen. Cipumgsber. ber 
er Alad: (phil-hift. 81.) 1879 ©. 255 ff. 


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198 R. Pöhlmann, 


im Weſentlichen vollendet war und für welche die landſchaftliche 
Phyſiognomie bereits durch das — Unland und Wald weit 
zurückdrängende — Kulturland wohlgepflegter Fruchtgärten und 
Ackerfluren entſcheidend beſtimmt wurde.) Wenn — wie die 
Kyprien beweijen?) — die Verdichtung der Bevölkerung ſchon im 
7. Zahrhundert ala förmliche Übervölferung empfunden wurde, 
jo müſſen damal3 die Zeiten, wo es noch anbaufähige Mark 
gründe oder herrenlofeg® Land genug gab, um den Nahrungs 
jpielraum der Bevdlferung ihrem Wachsthum entiprechend zu 
erweitern, längit der Vergangenheit angehört haben.?) 

Ein bedeutiamed Symptom dieſer wirthichaftlichen Thatſache 
jind die Siedlungsverhältniffe derjenigen Landichaften, welche das 
Epos jchildert. Während im germanijchen Mittelalter die Großen 
des Volkes ihre Herrenhöfe und Burgen mit Vorliebe in um 
bewohnten und erjt durch Rodung zu gewinnenden Gegenden 
aufbauten, jehen wir bereit3 in der Welt des hellenifchen Epos 
die Edlen vielfach) im Mittelpunft des Gaues zulammenwohnen‘). 
Die zahlreichen homerifchen roAeıg und sıroAledoa, welche „die 
Edlen jchirmen“®), mochten meiſt nur Eleine befejtigte Orte von 
wejenlich agrarifchem Charakter jein, fie bezeugen aber immerhin 





1) ©. meine Abh. über die Feldgemeinſchaft bei Homer. Ztſchr. f. 
Sozial- u. Wirthſchaftsgeſch. 1, 34 fi. 

2) Sie führen die in der Ilias erwähnte Jovdn des Zeus auf die weile 
Abſicht des Gottes zurüd, die Erde vom Drude der Übervölferung zu 
befreien! (our dero xorgyiooas ardoar naußestopa yalar). 

5 Wenn wir auf der Inſel Cypern die Möglichkeit und das Recht der 
freien Rodung und Befigergreifung nod in biftorijher Zeit finden, fo ift das 
eine lofale Ausnahme, die für die allgemeine Auffaſſung der helleniſchen 
Volkswirthſchaft nicht in Betradyt fommt. Eratoſthenes (bei Strabo 14, 684), 
der ung davon Sunde gibt, hat übrigens felbjt bemerkt, daß bier die Offue- 
pation von dland zu freiem Eigenthum erit dann zugelafen wurde, als 
man in anderer Weiſe der undurchdringlichen Waldwildnis der Inſel nicht 
Herr werden konnte (ws de or LEsvixovv inurgewas Tois Bovklonsvoss ui 
Örvauerows Exxonter xai Eye idiuxentov xai areir, try diaxadagdeisar yıw. 

*), In der Odyſſee ericheint e& bereit? ald eine Ausnahme, daß der alte 
Laertes ftändig &n’ ayoor vooyı noAros wohnt und nie nad der Stadt 
tommt. Od. 11, 187; 24, 212. 

8) apıori.wr, oi Te atolis9ga Hrorra Ilias 9, 396. 





200 R. Pöhlmann, 


Aber auch das vermochte nicht zu Hindern, daß zulegt eine- 
Klaſſe von Freien heranwuchs, die entweder zu wenig bejaßen, um 
ihre Arbeitäfraft auf der eigenen Scholle genügend zu verwerthen, 
oder die überhaupt fein Stüd Land mehr ihr Eigen nennen 
fonnten. Eine Entwidlung, die dann ihrerjeit3 wieder ein neues 
Moment der Unfreiheit in ihrem Schoße barg. Denn in einer 
auf der Naturalwirthichaft beruhenden Gejellichaftsordnung, im 
welcher der Grundbeſitz die unentbehrliche Worausfegung einer 
jelbftändigen Erijtenz bildete, war der Landloſe nothiwendig zugleich 
ein abhängiger Mann. Er mußte fich einem fremden Willen 
unterwerfen, indem er jich entweder als Lohnarbeiter (Thete) bei 
einen Grundbejiger verdang, oder — im günjtigeren Fall — 
von demfelben gegen Grundzins und Dienfte Land zur Bebauung 
erhielt. So mehrten fich neben den Höfen der größeren Befiger 
die Hütten der abhängigen Leute, der Häusler, Kathſaſſen, Inſten 
(oix&es!), zelaraı, zıgvorseiaran?). Und diefe Abhängigkeit 
verhältniffe nahmen ganz naturgemäß in der Regel einen dauernden 
Charakter an. Bei der durch die Naturalmwirtbichaft bedingten 
Unbeweglichkeit aller Verhältniffe mit ihren unvermeidlichen Be 
Ihränfungen der Freizügigkeit, die durch die Stleinheit der Terri⸗ 
torien und die Unficherheit eines unentwidelten Rechtslebens noch 
vermehrt wurden, war eine nur auf die Verwendung der Arbeit? 
fraft angewieſene Exiſtenz eine viel zu ungewiffe, al® daß ber 
befigloje Freie nicht jelbit das Bedürfnis empfunden haben follte, 
in einem berrichaftlichen Verband eine dauernde Sicherung feines 
Dajeind- zu ſuchen. Selbit in den fortgejchritteneren Zeiten, 


ı) Im Stadtredit von Gortyn passim, wo der Ausdruck allerdings 
für Hörige gebraudt wird; aber er ift gewiß ebenjo aud) für freie Häusler 
gebraucht worden, wie dad Wort nelaras und neoonelaras, weides daneben 
ebenfalls für Hörige vortommt (Theopomp bei Athen. 6, 271). 

2) Die antiten Erklärungen des Wortes: Errei ro nelas dyyvs ’ olor 
&yyıora da neviaw ngocıorres und die andere: oi apa Tois aÄnciov deya- 
Gouevos xad Iires GPhotius s. v.) treffen den Kern der Sache nicht ganz. 
Es ift vielmehr auszugehen von der Verbindung der Behaufungen biefer ab- 
hängigen Leute mit dem berrichaftlihen Gute. Allerdings ijt dann das Wort, 
ebenjo wie oixers, ganz allgemein für dienende Leute überhaupt gebraucht 
worden. 





202 ° N. Pöhlmann, 


wie der vaterlandsloje Beifafje, der, mißachtet!) und gelegentlich 
auch ſchnöder Behandlung ausgeſetzt, in derſelben dienenden 
Stellung jein Leben jriftete, wie er? Und wie fonnte es da 
andrerjeit8 ausbleiben, daß diefe Klaſſe dDienender Leute, zumal 
wenn die Abhängigkeit jich durch Generationen vererbt hatte, 
vielfach auch eine Minderung ihres echtes erfuhr, daB das 
natürliche Bejtreben der Herren, ihre freien Gutsinſaſſen ebenjo 
bleibend an den Boden zu feſſeln, wie die Unfreien, mehr oder 
minder erfolgreich war? 

Der Verlauf diejer Entwidlung entzieht fich allerding® unjerer 
Kenntnis, allein jie ift ung deswegen faum weniger gewiß. Denn 
fie erjcheint al3 der nothwendige Ausdrud jene allgemeinen 
Geſetzes geichichtlicher Entwidlung, vermöge dejjen die nriprünglid 
wirthichaftlichen Klaſſen — ohne eine genügende Gegenwirkung 
der Staatögewalt — noch immer zu Rechtsklaſſen geworden find. 
Die KHlafjenbildung bleibt nicht bei der Erzeugung wirthſchaft⸗ 
liher Klaſſen jtehen, jondern enthält ſtets zugleich Die weitere 
Tendenz, aus dem wirtbichaftlichen Unterſchiede zulegt einen 
rechtlichen zu machen. In einer Zeit, in der das dfonomijche 
Bedürfnis nach perjönlichen Dienjten und nach Arbeitsfräften in 
der Produftion, insbejondere in der Bodenproduftion, am beften 
durch unfreie Menjchen befriedigt werden konnte und wo andrer: 
ſeits die ftaatliche Rechtsordnung noch lange nicht jo feſt gefügt 
war, daß auch der, welcher zu ſchwach war, ſich jelbft zu jchügen, 
mit Sicherheit auf den Schuß der Gejammtheit hätte rechnen 
dürfen, in einer folchen Zeit mußte der wirthichaftlich Abhängige 
und Unfreie vielfach auch rechtlich) unfrei werden. 

Wurde doch diefer Prozeß durch Sitte und Necht geradezu 
gefördert! In ſolchen Zeiten der Frübfultur, denen uneingejchräntter 
Egoismus auf der einen Seite, Mißachtung der Perjönlichkeit auf 
der andern ihr Gepräge gibt, hat das Hecht eine unbegrenzt 
dispofitive Natur. Wie die Germanen der taciteifchen und einer 
noch jpäteren Zeit, fonnte in Althellas 3. B. der Schuldner Leib 

1) atiurtos ustaracırs! Il. 9, 648; 16,59. Dem Dichter erfcheint 
das Schichſal der landlojen Feldarbeiter ala der Gipfel menſchlichen Eiende' 
Alias 21,42 fi. Od. 11, 489. 





204 N. Pöhlmann, 


thum die Grundherrfchaft. Eine Thatiache von weittragenditer Be 
deutung für das geſammte joziale und politiiche Leben des Volkes! 

Bis dahin Hatte die Gleichförmigfeit des Beſitzes und eine 
gewiffe Gleichheit des Beſitzmaßes bei der großen Menge der freien 
Volksgenoſſen eine Ähnlichkeit der Verhältniffe der Gefinnungen 
und der Intereſſen zur Folge gehabt, welche eine eigentliche 
Standesbildung nicht hatte auffommen laſſen. Wenn auch die 
Unterfchiede von Reich und Arm, von Vornehm und Gering nidt 
fehlten, jo waren fie doch zu vereinzelt geweſen, als daß fie ein 
wirkſames Ferment fozialer Gliederung hätten abgeben können. 
Das änderte fich, als aus der zunehmenden Zahl dienender und 
zinspflichtiger Zandarbeiter einerjeit8 und größerer Grundbefiger 
andrerfeitö zwei Gejellichaftsklaffen neben der Maſſe der gemeinen 
Freien erwuchjen, von denen die eine unter das Niveau der 
gemeinen Freiheit herabſank, die andere weit über dasjelbe empor: 
itieg. Die wirthichaftliche Überlegenheit mußte ja im Laufe der 
Zeit aud) in ſozialer und politischer Hinficht zur Geltung fommen. 
Wie ganz anders gejtaltete fich jetzt das Verhältnis der freien 
Volksgenoſſen unter einander, jeitdem den einfachen Hufnern und 
den kleinen Stellenbefigern, die im Schweiße ihres Angeficht® mit 
eigener Hand den Boden bearbeiteten, eine fraftvol aufitrebende 
Klaſſe gegenüberjtand, der ihr Bei es geitattete, arbeitslos von 
den Erträgniffen dienender Leute zu leben, ſich in freier Muße 
dem Waidwerf und der Waffenübung, den Angelegenheiten der 
Gemeinjchaft zu widmen! 8 konnte nicht ausbleiben, daß das 
Bewußtſein einer höheren Lebensthätigfeit, einer Durch Diele 
gefteigerten perjönlichen Befähigung, insbejondere größerer Wehr: 
haftigfeit, das Gefühl der im Beſitze liegenden fozialen Macht 
und endlich die Vererblichfeit al’ diefer wirthichaftlicden und 
gejellichaftlichen Vorzüge von Gejchlecht zu Geichlecht eine ftetig 
fi) erweiternde Kluft zwilchen dieſer Klaffe und der großen 
Menge der Freien erzeugte. So entiprang aus der Ehre und 
Auszeichnung, die ererbter Befig verleiht!), eine neue Standesform, 

1) Aus dem 0ABw Te nAortp Te urtungenew (Il. 16, 696) oder 
xexncYas (24, 535,. Vgl. Odyſſ. 14, 205: 05 Tor’ Eri Konrsacs Isos ws riste 
Örup oABp Ts nÄoitw Te. 





206 N. Pöhlmann, 


entitanden, waren für den Eleinen Dann um fo verhängnisvoller, 
als in einer Zeit unentwidelten ftaatlichen Rechtsſchutzes Alles 
auf die perfönliche Wehrfähigfeit anfam, und der Schwache, der 
Perjon und Beſitz nicht jelbft zu verteidigen vermochte, nur zu 
oft rettungslos die Beute des Mächtigen wurde. Daß da — 
ganz ähnlich wie im germanifchen Mittelalter — viele freie 
Volksgenoſſen fich der Bürde und den Gefahren des freien Standes 
entzogen und fich unter den Schuß eines Mächtigen ftellten, kann 
faum zweifelhaft jein.!) 

Auch bat gewiß bier, wie dort, oft genug unmittelbarer 
Zwang, rohe Gewalt mitgewirkt, den kleineren Freien beſitz⸗ oder 
rechtlo8 zu machen. Noch im homeriſchen Epos reflektiren ſich 
die Zuftände einer Epoche, in der man um der Sicherheit willen 
allgemein in Waffen ging.) Man denfe an die privatrechtliche 
Auffafjung des Strafreht3 und die bedeutjame Rolle, welche 
im älteren Hellas die Blutrache ald allgemein anerfanntes Rechts 
mittel geipielt Hat, an die Stlagen des Epos über die Schuß 
lojigfeit der des Vaters beraubten Waijen, dic ftet in Gefahr 
jeien, durch Andere von dem ererbten Grund und Boden ver 
drängt zu werden?), wenn ihnen feine Helfer zur Seite jtänden*), 
in3bejondere feine Blutsverwandten, „welchen der Mann im 
Streite vertraut, wie heftiger Kampf ſich erhebe“?); — man 
denfe an die wilde Raub- und Fehdeluſt der alten Zeit, welche 
eine jtetige Gefahr für Freiheit und Eigenthum bildete.) alt 

1) Auch E. Meyer a. a. O. S. 305 iſt der Anſicht, dab weſentlich auf 
diejem Wege ein großer Theil der Xandbevölferung unfrei oder wenigitend 
politiich rvechtlo8 und vom Adel abhängig geworden ijt. 

») Thutyd 1, 5,3. 

3), Ilias 22, 489 fieht es Penelope als unabwendbare Folge des Todes 
Heltor’3 voraus, dat ihrem Sohne ailoı anorgiocorsıs aporpas. 

4) p un akdos aoaantngs; imow. Od. 4, 164. 

5) Ebenda 16, 114. 

°% Man denfe nur an die Piraterie, die aud) Fürſten nicht verſchmähten 
(ZI. 11,28), und an den nicht jelten in großem Stil betriebenen Viehraub, 
Boriacia (a.a. D. 11, 672). Vgl. die Daritellung auf dem Schild Achiu's 
(18, 520 ff.), ſowie Odyſſ. 21, 15 (Biehraub der Meſſenier in Sthata. 
300 Schafe mit den Hirten!), I. 11,670. Biehraub der Epeer gegen die 


Aus dem helleniſchen Mittelalter. 207 


‚noch den Hellenen Homer's Raub jo wenig als eine Schande, 
der Auf, ein großer Räuber zu fein, ein Anrecht auf Ehre 
bei den Zeitgenoffen und auf Nachruhm bei dem Sänger gab! 
Den Ahn des Odyſſeus, Autolykos, preift das Epos, daß er 
— we ſei umter den Menſchen durch Diebsjinn 
und Hinterlift, die Gabe eines gnädigen Gottes!!) — Wo eine 
jolche Freiheit der Vergewaltigung herrjchte und das Necht des 
Stärferen jo mannigfaltige Gelegenheit jand, ſich mit Erfolg zu 
bethätigen, da hat jich die Anfammlung größeren Bodenbejiges 
ohne Zweifel oft genug auf dem Wege der Gewalt vollzogen, 
ebenjo wie die Vermehrung der unfreien Arbeitskräfte, die zum 
Theil geradezu als Zwed der zahllofen Fehden und Naubzüge 
eiſcheint.) 
Am intenſivſten aber hat wohl in dieſer Richtung gewirkt 
jenes mächtige Ringen der Stämme um Sandgewinn, welches 
* Bevölferungen aus der Heimath trieb, ganze Landſchaften 


I 


Theil der unterworfenen Sanbesbevölferung in ihrem Senat 


lich rechtlichen Untertdanenverhäftnis begnügten, jo ift doch jtets 
auch eim mehr oder minder großer Bruchtheil des Grund oder 
Bodens den alten Eigenthümern entzogen und — ſoweit man 
fie auf ihrer Scholle lieg — der Erobererflafje ein von dem 
der Unterworfenen verichiedenes höheres Recht auf diefen Grund» 


. 23, 827, wo Odyſſeus die charatteriſtiſche Üuherung thut: und 
5 & won unmarnges ümeppiahoı zurinıguv nohku uev avris &yo Aniasouaı. 
1) ©. 19,395. 
*) 2». 1,397 jagt Telemadj: 
dyaw oinoo üvaf Fan Nueregon 
M ui ducer ol: wor iniscaro Fios 'Odvaoeis. 
Bot. Juias De Auami Ayılleis kissaro. Ddyfi. 17, 441: 
Eui® udn moihois win dröneanon d3& yalıh 
'rois ävayov Zooüs aplow doyütsodu dväymm. 














208 N. Pöhlmenn, 


befig eingeräumt wurden. Aus den Scharen der Sieger er 
wuchs fo ein Herrenitand, das von ihnen eingezogene Land 
wurde unfrei und jeine Bebauer in ein Verhältnid der Hörig- 
feit, wenn nicht der Sklaverei herabgedrüdt. — 

Aus Solch’ verjchiedenartigen Motiven erklärt es ſich, dab 
in der hellenischen Welt ſchon in jehr früher Zeit die überwiegend 
mit Aderjflaven oder Hörigen wirthichaftende Grundherridait 
eine große Ausdehnung gewonnen hat. Allerdings nicht überall, 
wie ja auch die gefchilderten ftändebildenden Momente keineswegs 
ſämmtlich überall und nicht immer in gleich intenfiver Weiſe 
wirffam gewejen find. Die Mannigfaltigfeit der helleniſchen 
Zandesnatur, die Verjchiedenartigfeit der für die Entwidlung des 
Volkslebens maßgebenden geographiichen Berhältniffe hat aud) 
den Prozeß der Slafjenbildung auf das Stärkſte beeinflußt. 
Große und raſche Fortichritte Hat derjelbe natürlich befonders 
da gemacht, wo der reichere Fruchtboden ausgedehnterer Fluß—⸗ 
niederungen oder die günjtigere Verkehrslage der Entwidlung der 
Produktion und damit der Anfammlung des Bejites, der Organi⸗ 
lation größerer Wirthichaften förderlich war. Während ſich an 
der verfehrsärmeren Weſtküſte und in den abgefchloffenen Hoch 
thälern, auf dem fargeren Boden und den WVeidetriften der 
Gebirgsfantone, in Akarnanien, Htolien, Lokris, Phocis u. a. 
in den Hochlandichaften des Peloponnes die foziale Gleichheit 
eines einfachen Hirten» und Bauernlebens in weitgehendem lm: 
fang erhielt und die Differenzirung der Gejelljchaft in der Regel 
über ein GroßbauernthHum faum hinauskam, zeigen ſich und um 
jo jchroffere joziale Gegenjäge in denjenigen Landfchaften, die 
wie 3. B. die Oſtküſte und das Foloniale Hellad vom Strome 
der Kultur, wie von der allgemeinen gejchichtlicden Bewegung 
überhaupt am ftärfiten berührt wurden, die zum großen Theil 
auch das Geſchick der Eroberung erfahren hatten. Hier finden 
wir das platte Land auf meite Streden hin nicht mehr von 
Ssreien bebaut, fondern von den an die Scholle gefſeſſelten 
Hörigen des herrichenden Standes, z. B. in Theljalien?), in 


) Die Peneſten die „Arbeiter“ (v. homer. nevsodas m novsis) oder 
die „armen Leute” in mittelalterlihem Einn? Aus dem Kamen Osesa- 





Im R. Pöhlmann, 


m Na genannten Thatſachen des ſozialen Lebens zahlreicher 
Janddaiten mehr oder minder klar vor Augen liegen!), und 
NE Ic andererjeitd gewiffermaßen mit Zapidarfchrift eingezeichnet 
Ya? ım den Boden ded Landes. In den Gräbern und den 
womnmentulen liberreiten ihrer Wohnftätten hat die alte Landes 
naferung der dem ägäiſchen Meere zugewendeten Kultur⸗ und 
Stumieite von Hellad von dem jüdlichen Peloponnes bis nad) 
Tdenſalien hin unjchätbare Zeugen ihres Dafeins hinterlaffen, welche 
ars einen Blick in eine Kulturwelt thun lafien, deren Schöpfungen 
nur unter der Vorausſetzung bedeutender Klaſſenunterſchiede und 
einer weitgedichenen Konzentrirung des Beſitzes erflärlich werden. 
Sin rohes Naturvolf zu den Arbeitzleiftungen und zu der Ge 
stteung zu erziehen, wie wir fie in der myfenijchen Kulturperiode 
finden, wäre ohne eine jtarfe ariftofratiiche Ungleichheit der 
Sütervertheilung, dies unentbehrliche Inftrument alles technifchen 
und geiltigen Fortſchrittes, unmöglich geweſen. 

Wie hoch müſſen ſich vor Allem die zur Königsgewalt er: 
jtarften Führer des Volks über die Maſſe der Gemeinfreien erhoben 





Repülterung auf dem Lande zerjtreut wohnte” (Hift. Ztichr. a. a. O. ©. 78), 
jo reicht diefe Beobadjtung, wie Nieje felbft zugeben muß, für die Erflärung 
der lofalen Erſcheinungen nit aus. Wenn z. B. nad) Riefe die jpartaniiche 
Delotie nur die natürliche Folge der jtraffen Bereinigung aller Bürger in der 
Stadt jein joll, wie erflärt fi) die anologe Hörigkeit in andern Staaten, 
wo der Synoikismos nicht entjernt fo fonfequent war? Der Sag: „Weil 
die Spartaner in der Stadt leben müfjen, muß die ländliche Bevölkerung 
deren Unterhalt beſorgen“, — fordert nur die frage heraus: Warum dieſes 
Müſſen, diefer Zwang? Und die wahriheinlichite Antwort auf diefe Frage 
bleibt doch immer die, daB eben das durch Unterwerfung geichaffene Herr- 
ihaitöverhältnis einer Minderheit gegenüber einer zahlreichen abhängigen 
Bevölkerung dad Motiv für die lokale Konzentrirung der gefammten Herren: 
Hajie war, daB alfo nicht erit diefe „Tür das Verhältnis der Heloten be 
ftimmend wurde“. 

) Natürlich it die Hörigkeit und Aderjflaverei von Anfang an noch 
viel verbreiteter gemwejen, als unjer lüdenhajte® Quellenmaterial erfennen 
läßt. So können z. B. die mit veräcdtlihen Namen bezeichneten Bauern 
Korinths (die xewogaroı Heſych. 2, 555), Epidaurod’ die xoristodes Blut. 
Qu. er. 1), Megaras ꝛc. urjprünglic ſehr wohl Hörige geweſen fein, ohne 
daß wir dad aus den Angaben der Quellen mit voller Sicherheit zu erfennen 
vernidgen. " 





Sn R. Pöhlmann, 


EU Zedellt. die Mauern von Tiryns an Großartigkeit mit 
Ne Wevamiden verglichen hat.!) Sindet ſich doch fchon bei 
Net eine Parallele zwifchen dem Reichthum des böotifchen 
oorenos und dem des ägpptiichen Thebens.*) Ja, wir dürfen 
N Rualogie ohne Zweifel noch weiter verfolgen und die Ver: 
“rag ausjprechen, daß auch die jozialöfonomiichen Grund 
RR eier Kulturblüte des öftlichen Hellas in mancher Hinficht 
FR den ägpptifch-orientalifche Vorbilder erinnert haben werden. 
Nxx ipiegelt jih in den monumentalen Schöpfungen jener älteren 
Natura die fchroffite joziale Ungleichheit wieder, ein harter 
Drud. der große Volksmaſſen als Werkzeug für Die Befriedigung 
N Vrunkſucht Weniger verbrauchte. Wer wollte bezweifeln, 
dak auch der Glanz des althellenifchen Fürſtenthums als das 
Symptom einer Herrichaft über bedeutende wirthichaftliche jowohl, 
wit ſoziale Kräfte zu betrachten ift? Die fürftlichen Erbauer 
der Paläſte von Tiryns und Mykenä, die uns fo lebhaft an 
Mm Bauten der alten Königsftädte erinnern, mochten hinſichtlich 
Ss äußeren Deachtbereiches noch fo tief unter den Herrſchern 
des Oſtens jtehen, ihre Stellung innerhalb des Volkes jelbft 
mochte eine wejentlic) andere jein, injofern wenigitens beitand 
nermig eine Analogie, als dem jachlichen Herrichaftsrecht, welches 
dieje Fürften und Herren über beträchtliche Theile des Grund 
und Bodens beſaßen, nothwendig ein nicht minder umfafjendes 
perjönliches Herrichaftsrecht entiprochen haben muß. 

Diejer Schluß ergibt jid) aus der einfachen Erwägung, daß 
auch damals noch das Leben ji) durchaus im Rahmen der 
Naturalwirthichaft bewegte. Wenngleich die Funde eine bedeutende 
Anhäufung edler Metalle in einzelnen Händen bezeugen, jo war 
Doch der Verkehr noch lange nicht zum Gebrauch eines eigent- 
lien Geldes jortgejchritten; ein Beweis dafür, daß die jelbftändige 
Vroduftivfraft des Kapitals nur unvollkommen entwidelt, Grund» 
bejig und menschliche Arbeitskraft noch immer faſt die einzigen 
Güterquellen waren. In einer Zeit aber, wo Ürbeit md 

1) Nadı dem Borgange des Pauſanias Vörpfeld bei Schliemann, 


Tiryns S. 202. 
7) Ilias 9, 381. 





214 R. Pöhlmann, 


Man vergegenwärtige ſich nur den wahrhaft verjchiwenderi- 
ſchen Verbraud von Menichenkräften, dem diejelben ihr Dajein 
verdanfen! Die Mauern der Burg bei Kopai haben eine Dide 
von 5—7 Metern!), die Niefenblöde des Burgmauer von Tiryns 
zeigen mehrfach eine Höhe von 1—1,50 m und eine Länge von 
2,90—3,20 m, während ihre Ziefe auf 1,20— 1,50 m geſchãtzt 
wird. Einen jolchen roh zugerichteten Block, deſſen Gewicht 
12—13000 kg betragen mag, auf dem engen und Hoch gelegenen 
Bauplag fluchtgerecht zu verjegen, war nach dem Urtheil eines 
modernen Architekten?) nur mit einem großen Arbeiterheere mög» 
id. Welch einen Aufwand von technischen Hülfsmitteln und 
von Menjchenfräften muß es ferner gefoftet haben, den gewaltigen 
Monolithen, der im Palaſt von Tiryns den Boden der Bade 
ftube bildet und das folofjale Gewicht von 20000 kg befigt, 
beranzufchaffen und auf folder Höhe zu verjegen!?) Endlich 
die monumentalen Behaujungen der Todten! Die gewaltigen 
Stuppelgewölbe felbjt, wie die einzelnen Bautheile, 3. B. die Pforte 
des argiviichen Stuppelgrabes am Heräon mit ihrem 7000 kg 
Ihweren Deditein, und der ungeheure, jauber behauene Innen 
jtein der Oberjchivelle des jogen. Schaghaujes des Atreus mit 
feinem Gewicht von 122000 kg, eine Steinmafie von 9 m 
Länge, 3m Tiefe und Im Dide! Welch ein Verbrauch von 
Arbeitskraft, bis dieje gewaltige Mafje auf allen Seiten bearbeitet, 
auf ihren hohen Standort gebradht und auf ihrer Unterlage 
fiher verjegt war!*) 

Es erweckt eine unrichtige Vorftelung, wenn neuerdings 
die Reaktion gegen die Bewunderung der baulichen Schöpfungen 
von Myfenä und Tiryns zu der Behauptung geführt hat, daB 
die „aus Holz und Lehm gebauten Königspaläfte mit verhältnis 
mäßig jehr geringen Kojten herzuftellen waren“, und daß jelbft 
der Bau des größten Stuppelgrabes „feinen höheren Aufwand 
erforderte, als der Bau eines doriſchen Steintempel8 mittlerer 


1) Rolling in dem Reiſehdb. für Briechenland (2) S. 1%. 

2) Adler bei Schliemann a.a. DO. S. XIV. 

3) Adler a. a. C. S. XXIV. 

4) Bgl. das techniſche Urtheil des Architetten Adler a. a. ©. S. XLII. 





216 N. Pöhlmann, 


vermochten.. Und noch mehr, al3 der Burgenbau, bei dem doc) 
immerhin ein öffentliches Intereffe mitwirfte, geben jolche Kunde 
die Grabesdome, in denen recht eigentlich die Machtitellung ihrer 
Erbauer zum Ausdrud kommt und die daher einer jpäteren 
Beit, mit ihren anders gearteten jtaatlichen Verhältniffen, durch 
aus fremd find. 

Allerdingd darf man den ftummen Zeugen nicht mehr Auf 
Schlüffe abzwingen wollen, als es der Natur der Dinge nad) 
möglich ift. Die Steine find vieldeutig! Und man fann daher 
in den Rückſchlüſſen auf die politiiche und joziale Phyfiognomie 
der Entitehungszeit der Denkmäler nicht vorjichtig genug jein. 
Wie verjchiedenartig find 3. B. die modernen Urtheile über die 
Palaftbauten des mykeniſchen Königthums! In Schliemann’s 
Biographie heißt es von der Palaftanlage zu Tiryns: „Dieje 
Aufeinanderfolge von Thoren gemahnt an die Lebensweiſe eines 
Fürjten, der wie ein Sultan abgejchieden von feinem Volke 
lebt und erjt nach Überwindung der verjchiedenen Stufen von 
Wächtern und Hofchargen erreichbar ift*.!) Dagegen befteht nach 
E. Meyers Anficht das Charakteriftiiche des mykeniſchen Palajtes 
gerade darin, daß er eben nicht, wie „orientaliiche Königsichlöffer“, 
„wie ein moderner Sultanzpalaft von der Außenwelt vollitändig 
abgeſchloſſen ift*. Er „Öffnet fich der Außenwelt, iſt dem 
Bufammenleben des Herrjcher mit den Häuptern feines Volkes 
bejtimmt und aus dem Bauernhof erwachjen“.?) 

Seit ſteht allerdings das Eine: von einer großen Einheite 
(ichfeit und Überlegenheit der Herrſchermacht zeugen die myfenifchen 
Denkmäler; und es ift fchwer begreiflih, wie die an fi) wohl 
berechtigte Sfepfis gegen die hergebracdhten Anjchauungen von 
der helleniichen Vorzeit nicht einmal das mehr zugeben will, daß 
man das alte Königthum als Monarchie auffaßt“. ®) 


1) ©. 8l. 

NG. d. U. 2, 165. 

2) So Nieſe (Gött. Gel. Anz. 1894 ©. 899) in der Recenfion von 
Beloch's Griechiſcher Geſchichte. Nieſe bezeichnet es geradezu als einen Grund⸗ 
fehler der hiſtoriſchen Anſchauungsweiſe Beloch's, daß für dieſen das alt⸗ 
helleniſche Königthum eine Monardie iſt. 


Aus dem Helenifchen Mittelafter. e a7 


tig ift an diefem Standpunkt nur jo viel, daß man 
dieſem Königthum der myteniſchen Epoche und der 
wiftofratijchen Entwicdlungsphaje des helleniſchen Staats: 
ine allzu ſcharfe Scheidelinie ziehen darf. Denn jchon 
che Monarchie zeigt unverkennbar eine ſtarle Beimifchung 
tcher Elemente. Die Denkmäler geben nicht bloß Kunde 
= des Fürften, ſondern aud von dem Dafein 
Derren, die an wirthſchaftlichen Machtmitteln zwar hinter 
üdftanden, aber das Niveau einer gemeinfreien Exiſtenz 
Beträchtliches ten. Ich nenne die Grabkammern 
kia, die Stuppelgräber bei Volo in Theffalten, bei Pharis 
em und bei Menidi (Adarnä) in Attika, jowie die Felſen- 
# Spata in Attifa , die fich durch ihren Reichthum an 
achen und jonftigen Kunſterzeugniſſen als Bejtattungs- 
tachtliebender Geſchlechter erweijen. Es tritt uns im 
enfmälern eine Ariftofratie entgegen, die eine bedeutende 
ftliche Kraft repräjentirte; und da dieje Kraft in einem 
der Naturalwirthiaft nur in größerem Grundbefig 
konnte, jo find fie zugleich Symptome einer Entwidelung, 
reits eine weite luft zwiichen Bauer und Edelmann 
t hatte. — 
+ Bild, welches ſich jo, wenn auch nur in einzelnen 
enden Zügen von der jozialen Phyfiognomie der fort 
aften helleniichen Kulturlandſchaften gegen Ende des 
aufends v. Chr. zeichnen ließ, wird uns übrigens noch 
&, wenn wir die allgemeinen wirthichaftstheoretijchen 
Igerungen aus den Monumenten durch bie pofitiven 
Hjachen ergänzen, welche die ältejten Titerarijchen Zeug 
Epen, für die ſozialgeſchichtliche Erkenntnis des helle 
Nittelalters darbieten. Denn wenn auch das Epos um 
derte jünger ift, als die „myfeniichen“ Denfmäler, jo 
doch die gejellihaftlichen und jtaatlihen Zuftände, die 
sa Poefie refleftiren, in wichtigen Grundelementen, 
mpfenijchen Kulturperiode überein.*) 
le id mich auch nicht entichließen, die muteniihe Epoche 
von den Zeiten der „Somerifhen“ Kultur zu untericeiden, mie 





213 R. Pöhlmann, 


Auch im Liede hat fich die Kunde von einem Fürftenthnm 
erhalten, welches, wie das myfenijche, fich durch eine bedeutende 
Konzentrirung wirthichaftlicher Machtmittel auszeichnete. Ab- 
geiehen von freiwilligen und unfreiwilligen Abgaben und Leiftungen 
nes Volfes, die nach Außerungen, wie Od. 1, 392 f., den Neid; 
thum des Fürſten beträchtlich mehren halfen, erjcheint derſelbe 
regelmäßig im Belige eines Krongutes (rEuevos), deſſen Werth 
und Umfang wiederholt gepriejen wird. !) Auch wird das Fürſten⸗ 
thum als die höchſte Gewalt im Staate überall in der Lage 
gewejen fein, mehr oder minder umfafjende Rechte an dem im 
Befig der Gejammtheit gebliebenen Lande zur Geltung zu bringen, 
an den weiten Streden der Wald: und Weideländereien, wofür 
wir an den audgedehnten Weiderevieren des Fürſten von Ithafa 
noch ein Beiſpiel befigen. Ia, wir begegnen in den pen 
wenigſtens einzelnen Fürſten, die über ganze Diftrikte jammt 
der darauf amlälligen — allem Anjcheine nad) unterjocdhten — 
dies 3. B. E. Meyer tyut, obwohl er felbft zugibt, wie „lebendig“ die 
mpfenifche Kultur in Kleinaſien nachgewirtt hat (G. d. A. 2,2917.) Ih 
rechne im Gegenjap zu ihm aud) die mpfeniihe Epoche zum griechiſchen 
Mittelalter, indem ich — wie Lampredt in jeiner deutihen Geſchichte — 
unter „Mittelalter“ dasjenige Zeitalter nationaler Entwidlung veritebe, 
weiches von den Untängen feßhaften Aderbaues bis auf jene Zeit reicht, in 
der die Geldwirthicaft zur Ebenbürtigteit oder zum Übergewicht ber geld- 
wirthſchaftlichen Entwicklung gegenüber den vorhandenen agrarifhen Wirth⸗ 
ihaftsmädten und zu einer vorher unbelannten Bewegungsfreiheit der 
Sndividuen führt. — 

Wie P. Sauer, Grundfragen der Homer-Kritit S. 171, mit Recht bemertt, 
iit es ſchon deshalb unmöglih, mit E. Meyer einen fo ſcharfen Einſchnin 
zu madıen, weil der Verſuch E. Meyer's, das Leben der mylenijchen Epoche 
zu icildern, in reihem Maße Elemente verwerthet, die erſt das (Epos une 
darbietet. „Beide Berioden berühren jich eben vielfadh, und die Quellen, aus 
denen unjere Kenntnis gejichöpjt wird — Denkmäler und Kleinfunde auf der 
einen Seite, Homer's Erzählungen auf der andern —, ergänzen fi in jo 
erwwünjchter Weije, daB wir gar nicht anders können, als berüber und hinüber: 
greiten, um die ältere Stufe ded Daſeins durd) die jüngere und dieſe wieder 
durd jene uns anjchaulid) zu machen“ Dies fchließt übrigens nidyt aus, 
day auch Unterſchiede vorhanden jind, die man forgjältig zu beachten hat! 

1) Il. 40, 194 heißt e& Foyer adar, 12, 313 und Cd. 17,299 ueye, 
I. 12, 314 sas0ı. 

















= 










Ki 


er Ä 






Br 









. 7, 113 3.8. wo den 1 
Pflanzungen des Alfinoos nur eine Größe 
‚geichrieben wird, joll Hier unter yüng ein Adermaß v 
zu verſtehen jein, was in der That alle W 
ſich hat; umd im einer allerdings viel 
Sandvermefjungen zurüchführenden agrarifchen 
Heracleensis) erjcheint jogar ein yöng, der 


® 
2 


die Jliasſtelle an — und warum ſollte nic 
dasjelbe Maß zu Grunde liegen können, wie 





1) Freilich ift diefer Mindeftbetrag ein ſeht beicheibener! 
xorröyvor würde demgemäß einer alten deutſchen Hufe (80 
haben. Der würde 


Völlig unmöglid ift der von Guiraud (La propriete 
5:64 f.) beredinete Minimalwerth von 3,15 ha. 2 
Hultjch a. a. D. S. 41. 668. 











226 R. Pöhlmann, 


atheniſchen Demokratie zum Opfer fielen, das eingezogene Land 
hinreichte, um mindeſtens 2000 Bauernſtellen zu errichten); 
und dabei blieb noch ein wahrſcheinlich beträchtliches Stück als 
Zempelgut und Staatsdomäne unvertheilt.?) 

Die gefchilderten Fortichritte der großen Güterwirthſchaft 
haben ferner einen jehr bedeutfamen architektoniſchen Ausdrud 
gefunden in der umfaffenden, jchon bei Homer bezeugten Um⸗ 
bildung des ländlichen Bauſtiles, in welcher fich der Prozeß der 
arijtofratiichen Klaſſenbildung in ähnlicher Weije widerjpiegelt, wie 
die jozialpolitifche Machtitellung des alten Stammfürftentyums 
in dem mykeniſchen Burgen und Paläftebau. Neben dem alten 
Bauernhaufe, welches die ganze Wirthichaft, Wohnung, Stallung 
und Scheune unter Einem Dache vereinigte®), ericheinen jet ftattliche 
Herrenhöfe, die einen ganzen Sompler von Wohn⸗ und Wirth 
Ihajtsgebäuden darftellten und auf denen die ländliche Okonomie 
von dem Herrenhauſe mehr und mehr fich abtrennte und auf eigenen 
Vorwerken fonzentrirte. Während im Bauernhaufe Herr und 
Geſinde unter Einem Dache patriarchalifch zufammenmwohnten, fehen 
wir bier die dienenden Leute in FEleineren Nebenwohnungen 
untergebracht und in völlig gefonderter Wirthichaft, wie und 
die 3. B. in der Odyſſee, in der Schilderung des Landgutes 
des Laẽërtes, anjchaulich entgegentritt.*) Die Räume bed 
Wohnhauſes ſelbſt dehnen fi) aus, Danf der umfaffenden 
Verwendung des neuen, dem Often entlehnten architeftonijchen 

1) Die Zahl gibt der hier gut unterrichtete Älian V. H. 6,1. Weniger 
glaubwürdig ift die Zahl 4000 bei Herodot 5, 77; vgl. Kirchhoff, Abh. d. 
Berl. Al. 1873 ©. 18. 

2) Wahricheinlih mindeftens ein Zehntel; vgl. Thuk. 8, 50, wonad in 
Les bos von 3000 Loſen 300 den Göttern vorbehalten blieben. 

2) ber dies altgriechiſche Bauernhaus, deſſen getreues Abbild das von 
Galen geſchilderte pergameniſche und das altſächſiſche Bauernhaus iſt, vgl. 
Niſſen, Pompejaniſche Studien ©. 600 f. 

*) 24,205 ff.: ... raya Ö’ aygor ixorro 

xa,.0y Anegtao TETiyuEvor... 

4Ia vi olxos Er, nepi Ö6 aAlaıor Fee uTT, 
er TO G1TEoxorro xal iSavor TdE iavor 

Öuimes arazaaioı, Toi ol Yika Koyasovro. 





228 Rt. Pohlmann, 


die Vichzucht beanjpruchte!), wie er denn in der That im &ehege 
des Eumäus no Pla Hat für vier andere Hirten und eimen 
Auffeher (duryg oradumv).?) Ebenfo zeugen die genannten 
homeriſchen Schilderungen der Erntearbeiten?) von einem ftarten 
Aufwand an Arbeitäfräften und einer ziemlich fortgeichrittenen 
Arbeitsgliederung. 

In derjelben Richtung wirkte ferner das für Die antite 
Volkswirthſchaft überhaupt charakteriftiiche, aber natürlich in 
älterer Zeit am jhärfiten ausgeprägte Beitreben, die Befriedigungs⸗ 
mittel der Bedürfniffe des Hauſes möglichit in der eigenen Wirth 
Ihaft zu erzeugen. Wenn ſich aud) bereit in der Zeit des Epos 
eine Reihe von Handwerfen und Gewerbsbetrieben von der Haus 
wirtbichaft abgeldft und zu Nahrungsgemwerben des Marktes ent- 
widelt hatten *), jo hatten fie doch für die regelmäßigen Bedürfnifie 
des eigentlichen Haushalts noch feine Bedeutung gemonnen. 
Wir befinden uns hier noch in ber Periode der geichloflenen 
Hauswirthichaft, der Difenwirthichaft, wie fie Rodbertus genannt 
hat, die fich eben dadurch fennzeichnet, daß fich der ganze Kreis 
lauf der Wirthichaft von der Produktion bis zur Konjumtion im 
geichlofjenen Kreife des Haufes vollzieht. Die dem regelmäßigen 
Konjumtionsbedarf der Hausangehörigen dienenden Produkte 


ı) 14, 21; 20, 185. 

2) 14, 24; 17,186. Die Zahl 4 ijt allerdingd ſchablonenhaft gebraudtt, 
wie Il. 18, 578 beweiit, wo (in der Scildbeichreibung) eine Rinderherbe 
ebenjalls mit 4 Hirten erfcheint. Uber die Dichtung muß ſich doch bei Dielen 
Zahlen innerhalb der Grenzen der Wahrſcheinlichkeit halten, wie fie eben durch 
die thatfächlichen Verhältniffe des Wirthſchaftslebens beftimmt wurden. 

>) Il. 11,67 ff.; 18, 542. 5560 ff. 

* Wobei ich allerdings die Yrage aufwerfen möchte, ob nicht etwa die 
bei Homer genannten Handwerker: der Schmied, der Zimmermann, der 
Lederarbeiter, Bogner ꝛc., die gleich dem Arzt, dem Boten, Ausrufer (Herold!) 
und Sänger uld druoeoyol bezeichnet werden, urfprünglid nur Gemeinde 
funftionäre geweſen find, wie unjere Torfhirten oder die gewerblichen Arbeiter 
der indiihen Dorfgemeinihaft, die auch al Demiurgen in biefem Sinne für 
Alle arbeiten und dafür von Allen emährt werden. Die Entwidiung der 
Demiurgen zu einem freien Nahrungägewerbe des Marktes wäre dann er 
ald eine zweite Phaje in der Geſchichte des gewerblichen Berufftandes an» 
aufeben. - 





230 R. Pöhlmann, 


den ländlichen Höfen ſelbſt geübt worden, desgleichen — ueben 
der handwerksmäßigen Herjtellung befjerer Arbeiten — die Ber 
arbeitung des Leders zu Schuhwerk u. f. w.!), wie ſich denn noch 
der heſiodeiſche Bauer die filzgefütterten Winterichuhe von Rinde 
leder, den Mantel von Bocksleder jelbit angefertigt bat.) Aud) 
die Gefäße für den Hausbedarf und für die Bergung des 
Wein: und Dlertrage3 werden auf Beligungen, auf denen fi 
Thonerde vorfand, vielfa von den eigenen Arbeitskräften ber- 
geitellt worden jein, ebenjo wie das Baumaterial für die Wohn- 
und Wirthichaftsgebäude, bei deren Errichtung wir ebenfalls die 
Leute der Grundherrſchaft mitwirken jehen.?) 

Dieje geſchloſſene Hausmwirthichaft fegte bei umfafjenderem 
Belig eine ziemliche Arbeitögliederung voraus, zumal als jeit der 
Berührung mit dem Orient die Bedürfniffe jich zu erweitern und 
zu verfeinern begannen. Die Spezialifirung der Arbeit aber und 
die Befriedigung erweiterter Bedürfniffe ließ fi um fo leichter 
ermöglichen, je zahlreicher die Arbeitskräfte waren, die dem olxo: 
zur Verfügung ftanden.*) Und zwar mußten dieje Arbeitäfräfte 
dauernd mit dem Hauje verbunden, d. h. fie mußten wo möglich 
Sklaven oder Hörige jein. Nur jo konnte man einzelne techniſche 
Verrichtungen, wie das Mahlen des Getreides, die Belorgung 
des Viehes, die Beitellung des Aders, das Weben, Spinnen u. ſ. w., 
Einzelnen für ihr ganzes Leben übertragen und fie für Diejen 
Dienit beſonders ausbilden. 

Daher zeichnet fich die Homeriiche Gutswirthſchaft, ähnlich 
wie die germanijch-mittelalterlihe, durch ein auffallendes llber- 
gewicht unfreier Hausdiener aus. Die Organe der autonomen 
Wirthichaft des urzos, die vixeraı, find wefentlich Unfreie, auf 
denen eben damals fajt die ganze Arbeit des Haufes laftete. Neben 


1, Od. 4, 24. 

) W. u T. 2.540 f. 

>) Tas jtattlihe Gehöfte des Eumäus 3. 8. iſt von den Sklaven jelbit 
erbaut 14,5. 

*) Dies verfennen alle diejenigen, die ſich — wie Vüchſenſchüß (Veitg 
und Erwerb im griechiſchen Altertum‘, Guiraud u. A. — keine Mare Bor: 
jtelung von der wirthichaftlihen Autonomie des olxos gebildet haben. Bgl. 
dagegen Bücher a. a. C. S. 2275. 





232 R. Pöhlmann, 


unfreien Organe des olxog führten, welche wenigitens einem Theile 
derfelben die Möglichkeit jozialen Aufiteigens gewährte. Durch 
die Entwidlung des gartenmäßigen Anbaue® und durch Die 
Erweiterung der Bedürfnifje des Herrenhofes war die Wirthſchaft 
de3 olxog vielfach zu einer Differenzirung der Produkte fort 
geichritten, welche e8 wünfchenswerth machte, bei gewiſſen Spezial- 
fulturen an die Stelle des Eigenbetriebes mit Sklaven und Lohn⸗ 
arbeitern eine Betriebsforn zu jegen, weldje den Arbeiter an dem 
Gedeihen der Pflanzungen perfönlich intereflirte und dadurch 
deren Ergiebigfeit fteigerte. Damit hängt e8 offenbar zujammen, 
daß wir neben den auf dem SHerrenhofe wohnenden Unfreien 
auch behaufte Unfreie (servi casati nach mittelalterlicdem Rechts 
ausdrud, finden, denen bejtimmte Theile des Herrenlandes zu 
jelbftändiger Bewirtgichaftung überlaffen waren; wie 3. B. dem 
Sklaven Dolios, der mit jeiner zahlreichen Familie einen Weinberg 
bewirthichaftete.!) Eine Erjcheinung, die genau fo im germanijchen 
Mittelalter wiederfehrt, wo es auch gerade die gartenmäßigen 
Kulturen find, die vineae dominicae, die in diefer Weile an 
unfreie Snechte übertragen wurden. Leider gibt das Epos feine 
Auskunft über die Bedingungen der Übertragung Allein diefelben 
find gewiß feine anderen geweſen, al3 unter den ganz analogen 
mittelalterlichen Verhältniſſen. Um das Intereſſe des Kolonen 
an dem ebenjo bedeutenden, wie leicht zeritörbaren Kapital zu 
verbürgen, welches die perennirenden Stulturpflanzen, WBeinftöde, 
Ol- und Feigenbäume, jowie die Hülfsanlagen, Terrajjen, Pfähle, 
Gehege u. |. w. repräfentirten, wurde der Ertrag zwiſchen Herr 
und Kolon getheilt. Es iſt das Syſtem des Theilbaues), wie . 
e3 ſich in einem naturalwirtbfchaftlichen Zeitalter von jelbit 
ergab und uns daher auch in Hellas gleich in den Anfängen der 
beglaubigten Gefchichte entgegentritt, jo 3. ®. bei den Theilbauern 
oder „Sechstlern“ (#xr/uogo:)?) des attifchen Grundadels und 
7) Odyff. 4, 736: vgl. 24, 387. 

®) ber die Bedeutung ber Weintultur für die Entwidlung bes Theil⸗ 
baues vgl. Inama⸗Sternegg, D. Wirthſchaftsgeſch. 1, 366, und Lamprecht, 
D. Wirthſchaftsleben 1 (2), 907 fi. 

2) So genannt ofienbar deöwegen, weil fie ein Sechſtel (nicht fünf 
GSedjftel!) des Ertrage® an den Grundherrn abgaben, wie ſchon Ariftoteles 





234 R. Pöhlmann, 


ſich der Kulturmenſch der Neuzeit nur ſchwer eine rechte Vor⸗ 
ftellung machen fann.') Die Selbftgenügfamfeit des olxos ift 
jo jehr Princip der ganzen Wirthichaft, daß ſich — und 
Perſonen fürſtlichen Standes gelegentlich zu gewö 

arbeit herbeiliegen, ja in ſolcher Selbithülfe eine gewifje Genug: 
thuung fanden. So ſehen wir in der Jlias einen Sohn des 
Troerfürjten bejchäftigt, junge Baumzweige abzujchneiden, um 
ich jelbft einen Wagenftuhl zu flechten °); ein anderer, Paris, 
hat ſich — allerdings unter Mitwirkung Eundiger Bauleute — jeine 
Wohnung jelder erbaut.*) Die Freier auf Ithafa, die dod) über 
ein zahlreiches Dienftperjonal verfügen*), jehen wir Arbeiten, wie 
das Abhäuten von Thieren und fonjtige Vorbereitungen zum 
Mahlen perjönlich übernehmen.) Die Stiere, auf deren Häute, 
fie beim Spiele vor dem Haufe lagern, haben fie jelbjt gejchlachtet.") 
Etwas ganz gewöhnliches ift ferner die Betheiligung an landwirth⸗ 
ſchaftlichen Gefchäften, z. B. an der Beaufjichtigung der Herben.”) 
Der greife Fürjt Laertes ift in allen Zweigen der Gartenbeftel- 
lung woblerfahren, wenn auch natürlich die Art und Weife, wie 
er ſich's auf jeinem Ländlichen Hofe jauer werden läßt, in jeiner — 
bejonderen Lage begründet ift.®) Diejelbe landwirthſchaftliche — 
Kenntnis darf Odyfjeus ohne weiters bei den ftolzen Edelleuten — 
vorausjegen, die ihm die Gattin umwerben. Allen Ernjtes S 
fordert er in der Freierverſammlung den, der ihm jeine Bettler — 
rolle vorgeworfen, zum Wetttampf in der Arbeit des Schnitters — 





Bal. 8. Bücher aa. O. ©. 18. 

vJi 21,37. 

9) a... 6,314. 

+) Im Gefolge derer von Dulichion erſcheinen ſechs Diener Od. 16, 248, — 
die von Ithata bringen zwei fertige Köche mit (a. a. D. 258). 

>) 2,300. 323; 17,182; vgl. aud 7,5 von den Brüdern Naufitans, — 
welche die Maulthiere ausipannten, mit denen fie von der Wäſche zurüdtam, — = 
und jelbjt die Gewänder in's Haus trugen. 

°) 1,108, 

N) &o finden wir Il. 5, 313 Anchiſes bei den Herden, 20,188 Ineas, —“ 
11,106 die Söhne des Priamos (auf dem da), 6, 421 die fieben Brüder — 


der Andromace. 


”) 24, 244 fi. 





R R. Pöhlmann, Aus dem helleniſchen Mittelalter. 


Searkung ihrer Stellung in Staat und Geſellſchaft zu gewinnen 
"XI. 

Nenn ſelbſt in dem Sdealbild, welches das Epos von der 
ssererlichen Welt entwirft, das wirthſchaftliche Moment fo ſtark 
eroortritt, wie viel mehr muß dies noch in der Wirklichkeit der 
U gewejen fein! Jedenfalls war es der energijchen Arbeit an 
der Entwidelung und Steigerung der wirtbichaftliden Kräfte 
gang wejentlich mitzuverdanfen, daß die Edelhöfe eine jo hervor 
wugende Bedeutung für das gefammte nationale Leben gewannen. 
Durch fie wurde der Adel befähigt, die lebendigen Kräfte der 
Rution überhaupt in feinen Dienft zu ziehen, wie und das be 
ſonders deutlich in der Entwidlung der Volksepik entgegentritt, 
die ja aufs Engſte mit dem hHerrichenden Stande verwuchs, 
überall fein Leben, fein Empfinden, feine Sitte widerjpiegelt.!) 

Auch Hier zeigt fich derjelbe als eine fiegreich aufftrebende, 
zur Überwindung aller anderen jozialen Faktoren berufene Macht. 
Während auf feinem Dajein der volle Sonnenglanz der 
bomerifchen Dichtung ruht, ift von freien Bauern nirgends die 
Rede. In den Gleichnifjen, auf dem AchilleusSchilde u. ſ. mw. 
überall nur große Herden, große Landbeſitzer! Ebenſo liegt die 
an ergreifenden Momenten ohne Zweifel reiche Geichichte des 
Untergange® der ©emeinfreiheit, auf deren Trümmern fich bie 
ritterlihe Welt des Epos erhob, völlig im Dunkeln. Genug, 
wenn es gelingt, diefen tragischen Prozeß wenigitens in feinem 
allgemeinen Verlauf und in feiner geichichtlichen Notwendigfeit 
zu verjtehen! 


1) S. meinen Auffag: Zur gefhichtlihen Beurtheilung Homer’s in 
diejer Zeitfchrift 73, 396 ff. 








238 P. Bailleu, 


waren in Preußen nationale Interejfen und nationale Empfins 
dungen emporgefommen, die mit denen im Weiche noch jich ber 
rührten, keineswegs zufammenfielen. Sein nationale Interefle 
fnüpfte fich jegt an einen Krieg, bei dem nicht Deutichland und 
Frankreich um die Rheingrenze, jondern Ofterreih und Frankreich 
um den Befig Belgiens zu kämpfen jchienen. Preußens territoriale 
Intereſſen wiejen eher nad) Oſten, wo die augenfcheinliche Ber: 
jegung der polnifchen Republif die volle Kraft des preußiſchen 
Staates in Anjpruch zu nehmen drohte. Im Volke, wie in der 
Armee, bei Deiniftern und Generalen gab es eine Unzufriedenheit, 
die bei dem ungünftigen Verlauf des Krieges und infolge ber 
Streitigfeiten mit Ofterreich ſich zu einer fait allgemeinen’ Miß— 
ſtimmung und zu dem lauten Auf nach Frieden fteigerte. 

In dem SKabinetöminifterium Preußens, dem die Führung 
der auswärtigen Angelegenheiten oblag, fanden diefe Stimmungen 
und Anfichten einen entichloffenen Vertreter in dem Freiherrn 
v. Alvensleben; er hatte das Bündnis mit Ofterreich von Anfang 
an befämpft und pflegte feiner Abneigung gegen die fortgefegte 
Theilnahme an dem Kriege mit Frankreich bei jeder Gelegenheit 
rüdhaltlofen Ausdrud zu geben. Won feinen beiden Kollegen 
war der Träger der friderizianiichen Tradition, der alte Graf 
Ssindenftein, wenn auch mit größerer Zurüdhaltung, im Weſent⸗ 
lichen doch derjelben Überzeugung, und jelbjt Graf Haugwitz, der 
als Freund Ofterreichs in dag Minifterium eingetreten war, bes 
gann allmählich die Verbindung mit der Koalition zu verurtheilen 
und die Beendigung des Strieges herbeizuwünſchen. Auch der 
Staatsmann, der, ohne dem Kabinetsminifterium anzugehören, 
in den Fragen der auswärtigen Politif oft von enticheidendem 
Einfluß war, aud) Marquis Lucchefini hätte Preußen gern aus 
den Verwidlungen im Weften gelöjt gefehen, um im Often mit 
deſto jtärferem Nachdrud eingreifen zu können. Vollends im 
Generaldireftorium rief Alles nach Frieden, nicht bloß, wie natür- 
li, Struenjee, Werder, Blumenthal, die Finanzminijter, die aus 
ihren Kaſſen alles Geld mehr und mehr jchwinden ſahen; felbft 
ein Mann wie Woellner hat wiederholt jeine Stimme für Be 
endigung des Strieges erhoben. 





240 P. Ballleu, 


Anderen jeines Volfes. Eine Trennung von dem Reiche und 
von Djterreich, dem cr durch Verträge verpflichtet war, wider 
ſprach jeinem Ehrgefühl; der Gedanfe an ein Abkommen mit den 
„Königsmördern“ vollends war ihm widerwärtig. 

Zu diejen fich befämpfenden Stimmungen und Anfichten, 
in deren Widerftreit jich der Krieg ſchwächlich fortbewegte, traten 
nun im Frühjahr 1794 noch andere Momente hinzu, die gegen Die 
Fortjegung des Krieges am Rhein mit voller Schwere ind Ge 
wicht fielen und deren Einwirkung ſich auch der König nicht 
ganz entziehen fonnte. Sn Polen brach ein Aufftand aus, der 
die Mobilifirung eines preußiichen SHeered von 40000 Dann 
nothwendig machte, dejjen Oberbefehl der König jelbit, nicht 
ohne Widerftreben, übernahın. Damit wurde dem Krieg am 
Rhein vollends jeder vorwärts drängende Impuls entzogen; es 
tauchte jelbit Ichon der Vorſchlag auf, die 20000 Dann Hülie 
truppen, die Preußen auf Grund des Wllianzvertraged den 
Ofterreichern zur Verfügung gejtellt hatte, nad) dem Dften zurüd- 
zunehmen. Ein andere® Moment von größter Wichtigkeit war 
die Finanzlage Preußens. Sie ift in ihrer Bedeutung für die 
Vorgeihichte des Friedens von Baſel noch wenig gewürdigt ') 
und darf Deshalb hier etwas ausführlicher behandelt werben. 

Schon im Sanuar 1793 hatten zuerft in Frankfurt a. M., 
dann in Berlin zwilchen Struenjee, Blumenthal und SHeinig, 
unter Zuziehung von Woellner und Schulendburg, Berathungen 
jtattgefunden, um die Höhe der Ausgaben für den Krieg feſti⸗ 
zuitelen und die Mittel zu ihrer Aufbringung zu erwägen. 
Dean berechnete, daß der Krieg bisher etwa 13 Millionen ge 
foitet habe, daß für das laufende Jahr etwa 18 Millionen er: 
forderlich) jeien, weldye durd) die vorhandenen Beſtände gebedt 
werden fünnten, hielt e8 aber gleichwohl für rathſam, nad) außer 
ordentlichen Hüljsquellen rechtzeitig jich umzufehen. Blumenthal 
empjahl eine Anleihe bei der furmärfiichen Landichaft, Die gern 
dazu bereit gemwejen wäre; Struenſee, der das einheimijche Geld 


) Am meiften, fo viel ich jehe, von Philippſon, Geſchichte des preukifchen 
Staatsweſens, Bd. 2, 3. Kap. 





242 P. Bailleu, 


Sahren des fiebenjährigen Krieges nic erhört war, trat fchon 
1793 ein: es fam, namentlih in Schlefien, zu Unruhen unter 
Bauern, Webern und Handwerlern, bei denen die Regierung 
bald übermäßige Strenge, bald unzeitige Nachſicht zeigte. 

In diefer Nothlage machte es fich als ein ernfter Übelſtand 
geltend, daß ein wirkliches Finanzminijterium in Preußen nicht 
beitand. Der Minifter, der das Zoll und Acciſeweſen ver: 
waltete und auch die Anleihen vermittelte, Struenjee, war nicht 
der Dann, jolcher Schwierigfeiten Herr zu werden. Bei aller 
jeiner gründlichen wiſſenſchaftlichen Bildung in Staats und 
Volkswirthſchaft, entbehrte er der drängenden Lage gegenüber 
thatkräftiger Entſchloſſenheit ebenjo wie jchöpferijcher und urſprüng⸗ 
liher Gedanfen. Ein vortrefflicher Bankier, jobald es fih um 
fleine Geldoperationen oder um Anleihen von wenigen Millionen 
handelte, verjagte er völlig, wo es galt, für die Aufgaben einer 
neuen Seit neue Hülfsquellen aufzufinden. Der Gedanke an 
neue Steuern, vollends an Papiergeld, erichredte ihn. Schon 
im Juli 1793 verzweifelte er daran, für die Fortſetzung dee 
Krieges im nächſten Jahre mehr als einige Millionen durch An» 
leihen herbeijchaffen zu können; unter lebhaften Klagen über die 
Noth des Staates wiederholte er nur immer von neuem jeinen 
dringenden Wunſch nad) Frieden und nad) Rüdfehr des Königs 
und der Truppen, die allein wieder alles gut machen könnten.!) 

Nicht glüdlicher oder ergebnisreicher waren die Erwägungen, 
die gleichzeitig im Schoße des Kabinetäminiiteriums über bie 
Mittel zur Fortfegung des Krieges angejtelt wurden. Graf 
Hangwitz fchrieb feinen Kollegen, „er werde die Vorjehung jegnen“, 
wenn man feinen dritten Feldzug zu führen braudhe; aber mit 
einem Hinweis auf die Verträge mit England-Holland und Djter- 
reich und beſonders mit Rußland über Polen meinte er jeufzend, 
der König werde fich der jerneren Theilnahme am Kriege nicht 
jüglich entziehen fünnen. Sein Kollege Alvensleben wollte gar 
nichts dabet finden, wenn man jich einfach) vom Kriege zurüd- 
ziehe; von Literreic), jagte er, jei nichts zu fürchten, und gegen 


1) Struenjee an den König, 5. u. 26. Juli 1793. 





244 B. Bailleu, 


freundlichjt zu danken; über die Vorfchläge zur Herbeiichaffung 
von Geldmitteln ging er mit einigen höflichen Wendungen hin- 
weg, ohne fie weiter in Erörterung zu ziehen.!) 

So blieb nichts übrig, als wiederum zu auswärtigen An⸗ 
leihen jeine Zuflucht zu nehmen. Zunächſt genehmigte der König 
eine abermalige Anleigde in Frankfurt (7. Oftober 1793); es 
wurde ein Mißerfolg, nur die erſte Diillion wurde raſch ge 
zeichnet, langjam ging noch eine zweite ein, dann, bei der un- 
günftigen Wendung des Krieges und aus anderen Urſachen, 
hörten die Zahlungen gänzlih auf. Noch geringeren Erfolg 
hatte die Ausschreibung einer Anleihe in Holland (4. März 
1794): es wurden zwei Millionen gezeichnet, aber jelbjt davon 
nur eine gezahlt. Ebenſo mißlangen auch alle Verſuche, von 
Dfterreich und dem deutfchen Reiche Geld oder wenigitens Ber- 
pflegung der im Felde jtehenden preußijchen Truppen zu erlangen. 
Andrerjeitd wurde die Dedung der laufenden Heeresausgaben 
um jo ſchwieriger, al8 auch ſchon Rüdzahlungen auf die im Jahr 
zuvor in Frankfurt aufgenommene Anleihe fällig wurden. Die 
Verlegenheit ftieg fo hoch, daß der Rückmarſch der preußiichen 
Truppen vom Rhein offen angekündigt wurde. 

In diejer Noth ergriff König Friedrich Wilhelm II. mit 
lebhafter Freude den Vorfchlag Englands, ihm die Fortjegung 
des Krieges durch Subfidien möglich zu machen. Am 19. April 
wurde im Haag ein Vertrag unterzeichnet, in welchem England außer 
einer namhaften Summe für die feldmäßige Inftandjegung der 
preußijchen Armee eine monatliche Subfidie von ca. 150 000 Pfund 
(300000 Thaler in Gold) vorläufig vom 1. April bis zum 
Schluß des Jahres 1794 zuſicherte. Die Fortführung des 
Krieged am Rhein war damit freilich zunächſt ermöglicht. Allein, 
vom König jelbjt abgejehen, war die Genugthuung über den 


ı) Denfichriften und Berichte von Sted 22. Mai u. 16. Juni 1798, 
Haugmwig 28. Juni, Alvensleben 30. Juni u. 2. Juli; Konferenz am 15. Juli; 
Berichte beider Minifter 29. Juli, Antwort des Königs 12. Auguſt 1798. 
Am 16. Juni jchreibt Sted an Haugwig: „Das Ende bed unglüdlichen 
Krieged wäre immer eine Wohlthat, welche Dero Minifterium am meißten 
verberrlihen würde.“ 





246 P. Bailleu, 


Anſprüche an ihn jtellen und die Schuld jedes Miblingens ihm 
aufbürden, nicht zum wenigjten aber auch über jeine eigenen 
Offiziere, die „bei der geringften Verlegenheit unter taufend Ber 
denfen fleinmüthig werden” und mit Ausnahme Blücher's jede 
Entjchloffenheit vermiffen laſſen. Wunderliche Selbittäujchung 
des alten Feldmarſchalls! Er ſelbſt war von allen der zug 
baftejte, von allen der unentichloffenite. „Wäre es möglich“, 
ichrieb er jeinem König, „aus Chagrin zu fterben, jo würde id) 
wohl der erfte jein.” Er begnügte fich jegt nicht, in jeinen 
Briefen unabläffig auf Frieden zu dringen und ſelbſt um die 
Ermädtigung zur vertraulichen Anknüpfung mit den Feinden zu 
bitten; mit feiner Genehmigung wurde durch jeinen Adjutanten 
Major Meyerind und durch den General Graf Kaldreuth unter 
Bermittelung eine Kreuznacher Weinhändlers Namens Schmerz 
eine geheime Unterhandlung mit den Feinden eingeleitet, angeb- 
lih zur Auswechjelung der franzöfiichen Kriegsgefangenen, die 
den Preußen läftig fielen, thatjächlich zur vorfichtigen Anbahnung 
einer wirklichen Friedensverhandlung.!) Lebhafte Unterftügung 
fand Möllendorff hiebei nicht bloß an dem Minijter Schulenburg, 
der in Frankfurt a. M. die Verpflegung der Armee leitete und 
jeine frühere Mitwirfung bei den dfterreichiichen Verträgen 1791 
und 1792 jegt durch verdoppelten Eifer für den Frieden gut 
machen zu wollen jchien; auch die Kabinetsminiſter in Berlin 
hatten feinen jehnlicheren Wunſch mehr, als die unerträgliche 
Laſt des franzöfischen Krieges endlich abzufchütteln. Am 28. Juli, 
eben unter dem Eindrud „verzweifelter“ Berichte Möllendorif's, 
beantragten fie bei dem König die Ausfertigung einer Vollmacht 
für Hardenberg, der im tiefſten Geheimnis eine Unterhandlung 
mit den Franzoſen zunächit über einen Waffenitillitand, dann 
aber aud über einen allgemeinen oder bejonderen Frieden an 
fnüpfen ſolle. Selbſt Graf Haugwitz, der den Vertrag im Haag 
unterzeichnet hatte und dem Gedanfen eines Separatfriedens nod) 
wideritrebte, Ichrieb doch: „Frieden müſſen wir haben und auf 


) Zur Ergänzung der früheren Darjtellungen von Sybel, Hanke, 
Sorel u. X. vgl. jept die Attenftüde in den Papiers de Barthelemy, 
Bd. 4 u. 5. 











248 P. Bailleu, 


am Rhein bei jeinen Truppen, mit denen er „Gutes und Bdies 
zu theilen“ für jeine Pflicht Hielt, jelbit wieder Alles in's rechte 
Geleis bringen zu fönnen. 

Aber der langjame Verlauf des polnischen Feldzugs ent- 
jprach mit nichten den Erwartungen des Königs. Unter den Ent» 
behrungen in dem verwüſteten Yande, den Mangel an anregender 
Gejellicyaft, den Verdrießlichkeiten aller Art, litten dag freubloje 
Gemüt und die ohnehin erjchütterte Gejundheit des Königs, und 
in dem Anfchwellen feiner Füße zeigten ſich jchon die Anfänge 
der Krankheit, die ihn wenige Jahre jpäter hinwegraffen jollte. 
Es mag damit zujammenhängen, daß er den Entichluß zu dem 
Sturm auf Warſchan nicht faſſen konnte und fich zur Aufhebung 
der Belagerung entichied, dem unrühmlichen Rüdzug aus der 
Champagne einen gleich ruhmlojen Rüdzug aus Polen hinzu⸗ 
fügend. Den König traf diefe neue Enttäufchung ſchwer, und 
es jcheint, als ob die Vorftellungen Luccheſini's, der bei dem 
Marih von Warſchau nach Breslau beitändig um ihn war, 
jegt wenigitend vorübergehend größeren Erfolg hatten al8 vorher. 
Der König ſelbſt veranlapte, daß zur Verſtärkung der Truppen 
in Polen Ufterreih um das vertragsmäßige Hülfscorps von 
20000 Dann angegangen wurde; er war aud) nicht mehr da- 
gegen, daß im Falle einer Ablehnung die gleiche Zahl preußifcher 
Truppen vom Rhein abberufen werde. Luccheſini jelbjt erwartete 
bereit3 nach dem Rhein gefandt zu werden, um dort Mittel und 
Wege für den allmählichen Rüdtritt Preußens von der Koalition, 
oder wenigitens für einen Waffenftillitand vorzubereiten. Aber 
jolche Gedanken entiprangen nur vorübergehenden Anwandlungen 
einer trübjelig hypochondriſchen Stimmung: in Breslau ange 
langt, wurde der König in Kurzem wieder anderer Anſicht. 
wollte von Frieden und Waffenſtillſtand nicht? mehr hören umd 
ſchickte Quckhefini auf feinen Poſten nach Wien.?) 


ı) Die beſte Schilderung der Stimmung des Königs bei dem Rückzug 
von Warſchau gibt Qucchefini in einem Briefe an feine israu: Pouvons-nous 
redresser ces fautes? Oui. Le voulons-nous? Cosi, Cosi. Y r&ussi- 
rons-nous avec nos demi-volont6s? Je le souhaite beaucoup et l’espäre 
un peu moins. En renoncant & la guerre de France, tout est redresse 





250 P. Bailleu, 


erforderlich wären. Dem König fchien die hiernach verfügbare 
Summe um jo mehr hinreichend, als das Überfriegstollegium 
ihm verjicherte, daß man mit noch nicht 6 Millionen alle Koften 
des Krieges bis zum Jahresſchluß werde beitreiten fünnen. Er 
verfügte darauf fofort, daB die Magazine für den Feldzug de 
Sahres 1795 in Stand gejegt würden, was Manjtein mit Mühe 
auf die zwei Monate Januar und Februar einjchränfte Cs 
war vergeblich, daß der Verwalter des Staatsſchatzes, Blumen 
thal, den Möllendorff ausdrüdlich dazu aufgefordert hatte, unter 
lebhaftem Appell an jein „wohlthätiges® Herz“ in den eindring 
lihiten Worten ihn abermals bejchwor, „an dem Frieden zu 
denfen“ (2. Okt.). Ungleich willkommener flangen dem König 
die Nachrichten aus dem Weiten, wo eine Anzahl von Reich“ 
jtänden ſich zu jelbjtändigen Anftrengungen aufzuraffen jchienen 
und durch ihre Vertreter in Wilhelmsbad über einen neuen 
Fürſtenbund und die Aufitellung einer Landmiliz beriethen. Dem 
Zandgrafen von Heflen-Kaffel, einem der eifrigiten Förderer dieſer 
Beitrebungen, ließ der König durch Hardenberg in Worten wärmiter 
Anerfennung feine freudige Theilnahme verfichern. Auch Rady 
richten anderer Art, aus Frankfurt, wo er 1!s Jahre früher jo 
glüdliche Tage verlebt hatte, haben, wie es fcheint, das Verlangen 
- des Königs nach dem Rhein gejteigert. Von der Abberufung 
der 20000 Dann war nicht mehr die Rede: vielmehr flog bald 
die Kunde durch das Reich, dak König Friedrich Wilhelm jelbit 
wieder an den Rhein fommen und den Oberbefehl über jeine 
Truppen übernehmen werde. 

Eben indem aber die friegerijchen Neigungen des Königs in 
neuer Stärke erwachten, traten im Weiten wie im Oſten Ereig⸗ 
nifje ein, welche jeine liebiten Wünjche vernichtend durchfreuzten. 
Zunächſt geſchah, was die Miniſter in Berlin ſchon immer be 
fürchtet hatten und was nad) der Lage der Dinge am Rhein 
nichts ausbleiben fonnte: am 5. Oktober lief aus London ein 
Bericht des preußiichen Gejandten Jacobi ein, nach welchem Pitt 
unter lagen über die mangelhafte Erfüllung de Haager Ber 
trages durd) Preußen die bevorjtehende Sufpendirung der Sub 
fidien in Ausſicht geftellt Hatte. Am nächiten Tage kam aus 





252 P. Bailleu, 


England, meinte, daß man allerdings, auch wenn die Hülfs⸗ 
gelder weiter gezahlt würden, wohl 15 oder 20000 Mann werde 
abberufen müſſen, begnügte fich aber vorläufig, den Feldmarſchall 
Möllendorff zu ermächtigen, bei dem Zurückweichen der Ofterreicher 
auch jeincrjeit3 über den Rhein zurüdzugehen (8. Oft.). 

Die Kabinetsminifter, erfreut über die Genehmigung der 
vorgeſchlagenen Erklärung an die Engländer, bemerften doch jehr 
wohl die zögernde Unentfchloffenheit des Königs, und Alvens⸗ 
leben insbejondere drang bei feinen Kollegen auf neue energijche 
Borftellungen. Ein zweiter Bericht Jacobi's mit der amtlichen 
Erklärung Pitt's, daß das englifche Miniſterium die Zahlung 
von Subfidien an Preußen nicht länger verantworten fönne, 
gab dazu einen willflommenen Anlaß. Am 9. Oftober trugen 
die Minifter dem König noch einmal die Qage der Dinge vor, 
die allen Zweifel ausjchliegende Erklärung Pitt's, das unaufhalt- 
ſame Zurückweichen der Ofterreicher, die eben an der Roer eine 
neue Niederlage erlitten hatten, die Gefährdung der Stellung 
der preußiichen Truppen; fie |prachen ihre Erwartung aus, daß 
der König dem Feldmarſchall nunmehr beitimmte Weifung geben 
werde, fich mit allen jeinen Truppen auf das preußifche Gebiet 
zurüdzuziehen.*) 

Es ijt zweifelhaft, ob das Minijterium diesmal mehr Erfolg 
gehabt Hätte, wenn nicht der Mann, deſſen Hand bei allen 
großen Wandlungen der preußiſchen Politik unter König Friedrich 
Wilhelm II. fo bejtimmend eingegriffen hat, wenn nicht Biſchoff⸗ 
werder mit jeinem mächtigen Einfluß ihm zu Hülfe gefommen 
wäre. In den eriten Jahren der Regierung war fein Einfluß 
auf den König, der in dem General den vom Orden der Rojen- 
freuzer ıhm bejtimmten Führer und Berather verehrte, ichlechthin 
enticheidend gemwejen; im Jahre 1793 war infolge feiner Ber- 
beiratung mit der Gräfin Pinto eine Entfremdung eingetreten, 
und der Oberſt Manjtein, den Haugwitz unterjtüßte, hatte ihn 
zeitweije au8 der unit des Königs verdrängen fünnen. Schon 


— — — —— — 


1) Berichte Sacobi’8 vom 26. und 30. September, Denfichriften und 
Aufzeichnungen der Kabinetdminifter vom 7. u. 9., Schreiben ded Könige an 
die Minifter und an Möllendorii vom 8. Oktober. 





254 P. Baillen, 


jeine Gejundheit zerjtört, feine Willenskraft gebrochen hatten und 
ihn gerade jegt ſchmerzhaft heimjuchten, war er vor dem Drängen 
aller jeiner Rathgeber zurüdgewichen und hatte mit innerlichem 
Widerjtreben jene Befehle über den Rüdmarjch feiner Truppen 
erlafien. So unbeftimmt fie waren, fie ſchienen ihm immer noch 
zu weit zu gehen. „Gott weiß,“ jo jchrieb er an die vertraute 
Freundin, der er jeine Sorgen rückhaltlos auszuſchütten pflegte, 
„Gott weiß, wie nahe mir der Rüdzug geht und wie er mir 
zuwider iſt.“ Der Freiherr v. Alvensleben, der in feiner Ungeduld 
über dies zögernde Widerjtreben des König! in einer umfang- 
reihen Denkfchrift abermals die Unmöglichkeit der Fortſetzung 
des Krieges und die dringende Nothivendigfeit des Friedensſchluſſes 
vorgeitellt Hatte, erfuhr eine ernite Abweiſung. „Ich werde 
mic) wohl hüten“, antwortete ihm der König, „bei einer Unten 
handlung mit der Nationalverfammlung voranzugehen; durch 
einen jolchen Schritt würde ich Vertrauen und Achtung in Europa 
einbüßen, es wäre eine meinem Charafter widerjprechende Nieder 
trächtigfeit (bassesse), und ich verleugne alle Diejenigen, die jich 
unteritehen, meinen Namen bei Berhandlungen mit der Ber 
jammlung zu gebrauchen“ (20. Oftober). Sorgfältig, zu nicht 
geringem Verdruſſe jeiner Miniiter, pflegte er trog des Vertrags 
brucche® die Beziehungen zu den Seemächten und ließ immer 
wieder andeuten, daß er einer Verjtändigung über das ein« 
getretene Zerwürfnis mit England keineswegs abgeneigt ſei. Als 
vollends nad) der Niederlage Kosciuszko's bei Maciowice (10. Oft.), 
weldye eine rajche Beendigung der polnischen Unruhen in Ausjicht 
jtellte, die Vertreter der Seemächte in Berlin mit neuen Anträgen 
erichienen, zeigte der König die bedenflichite Neigung darauf eins 
zugehen, und e3 bedurfte der ganzen Gerchidlichfeit der Miniſter, 
ihn wenigiten® bei der SSorderung feitzuhalten, daB vor allen 
weiteren Berhandlungen England erjt die rüdjtändigen Subjidien 
auszuzahlen habe. 

Gemächlich zogen inzwijchen die preußiichen Truppen über 
den Rhein, wenig beläjtigt von den in adhtungsvoller Entfernung 
vorjichtig Folgenden Feinden; langjam rüjtete ſich Hohenlohe mit 
dem Hülfscorps zum Abmarſch nad) dem Diten, wo fi) der Krieg 





256 P. Baillen, 


Möglichkeit des Friedens in Verbindung mit der Beichügung bes 
deutichen Reiches und einer großartigen Stellung überhaupt 
eröffneten. 

Schon am 13. Oftober hatte Struenjee abermals die Aujs 
merfjamfeit des Königs auf die wachſende Finanznoth gelenkt, 
indem er zugleich die Lage als jo verzweifelt darftellte, daß er 
den König bat, aus dem Staatsrath eine Kommiljion zu bilden, 
welche die in der Nothlage erforderliden Maßnahmen berathen 
und dem Könige Vorjchläge machen könne. Der König ging 
jogleih darauf ein: eigenhändig ernannte er zu Mitgliedern 
der Kommilfion, neben Struenjee, für das Generaldireftorium 
Werder, für das Juſtizminiſterium Goldbed, für das auswärtige 
Miniiterium Alvensleben, für die Militärverwaltung General 
major Geujau. Die — bisher ganz unbelannten — Berathungen 
diefer Kommilfion und ihre Ergebnifje find für die Borgefchichte 
der Bafeler Verhandlung, mehr noch für die Beurtheilung der 
damaligen Lage des preußiichen Staated überhaupt, von jolcher 
Bedeutung, dab wir ihnen hier eine eingehendere Würdigung 
widmen Dürfen.?) 

Die Kommilfion begann ihre Verhandlungen am 16. Oftober 
mit einer Prüfung der Bedürfniffe und Mittel für den Reft des 
Sahres 1794. Was fich dabei herausjtellte, war wenig erfreulich, 
aber doch nicht geradezu hoffnungslos. Zur Dedung der außer 
ordentlichen Kriegsbedürfnijfe, die auf nahe an 6 Millionen an 
geichlagen waren (j. S. 250), verfügte man noch über 4,6 Millionen, 
zu denen Struenjee durch verjchiedene Kleine Finanzmaßregeln 
nod 200000 Thaler beichaffen zu fönnen hoffte. Den dann 
bleibenden Fehlbetrag von etwa 1 Million dachte man theils durch 
eine Anleihe in Frankfurt, theild, auf Geuſau's Anregung, durch 
Eriparniffe in der Militärverwaltung aufbringen zu können, fo 
daß für die Fortjegung des Krieges bis Ende 1794 immerhin 
Dedung vorhanden fchien. Nachdem man hierüber dem Könige 
vorläufig Bericht eritattet (18. Oft.), ging man an die ungleich 





1) ad) den Manualakten der Kommilfion, die zwar feine Protofolle, 
aber die gemeinfamen Berichte an den König in verichiedenen Entwürfen und 
zahlreiche Gutachten der einzelnen Mitglieder enthalten. 





258 P. Baillen, 


Grunditeuer erhöht würde, was in dei meilten Provinzen nur 
die Bejiger adeliger Güter :treffen könnte. Überhaupt aber wollte 
er, daß jeder „Befiger eines adeligen Dominii zur Kontribution 
gezogen werde“. Man könne in der Mark die Ritterpferdauflage 
verdoppeln, in Schlefien und Preußen von der beitehenden Steuer 
einen Donatsbetrag außerordentlich erheben. Der Bauernitand 
müfje jedenfall verichont bleiben. Für die Städte empfahl er 
eine Erhöhung der Acciſe (unter Ausichluß von Brot, Bier, 
Branntwein und Fleiſch), deren Ertrag er auf etiva 278000 Thaler 
berechnete. Diefe Vorjchläge ftießen bei allen Mitgliedern der 
Kommiſſion auf den lebhafteften Widerſpruch. Bon den Natural 
lieferungen erwartete bet der jchlechten Ernte niemand etwas, 
ebenjo wenig von einer freiwilligen patriotiichen Kriegsſteuer. 
Die Erhöhung der beftehenden Steuern überhaupt befämpfte 
Werder mit dem Hinweis auf das unausbleibliche „Geſchrei der 
Nation”, namentlich des „größeren und reicheren Theiles“; gegen 
die ſtärkere Heranziehung des Adels erinnerte er an deſſen Brivi- 
fegien und Aſſekuranz; mindeitens, wandte er ein, müßten die 
Stände gehört werden, die fi dann vielleicht jogar noch zu 
größeren Opfern verltchen würden. Den entichiedeniten Gegner 
aber fand Struenjce in Alvengleben. 

Alvensleben warf Struenjee vor, daß er jeit feinem 
Eintritt in dag Minifterium nur auf eine Gelegenheit warte, 
den Adel der Steuerpflicht zu unterwerfen. Sehr eingehend erw 
örterte er die Schwierigkeiten einer Aufhebung der Steuervor 
rechte des Adels, die Verwirrung bei Erbtheilungen, Lehnsab⸗ 
findungen, Auszahlung des Kanons, die Gefährdung der land- 
ihaftlichen Kreditſyſteme; er erwartete geradezu den Bankrott 
zahlreicher adliger ;zamilien. Denn der preußifche Adel, betonte 
er, jei arm, da er jeine Söhne in der Armee bi8 zum Kapitän 
erhalten müfje; erſt möge man die Offiziere fo bezahlen, daß 
fie von ihrem Solde leben fünnten, dann würde der Adel Steuern 
zahlen. Für den Thron und die privilegirten Stände Frank⸗ 
reichs habe der König den Krieg angefangen; follte er nun 
Preußens bevorredhtigte Stände ebenſo drüden, wie der Konvent 
die Privilegirten gedrüdt, die Bankiers aber geichont habe? 











262 B. Bailleu, 


auf denen der alte preußiiche Staat bisher geruht hatte, Militär 
und Finanzen, zu zerbrödeln begannen und den Staat mit der 
Laſt feiner neuen Aufgaben nicht mehr zu tragen vermochten. 

Sehr begreiflih nun, daß die Kommilfion, die das Ergebnis 
ihrer Vorfchläge im günftigften Falle auf einige Millionen an- 
ſchlug, dem König ihren Bericht ſelbſt ald „niederjchlagend“ be: 
zeichnet hat. Site ging aber noch weiter: fie meinte, daß bei Aus 
führung ihrer Vorſchläge fich wahrjcheinlich noch mehr Schwierig- 
feiten berausjtellen würden, als man jett ohnehin vorausſehe; 
ſie hielt fich deshalb verpflichtet, mit um fo größerer Entjchieden- 
beit den König um Wiederheritellung des Friedens vor allem 
im Weiten zu bitten, wo die Fortſetzung des Krieged ganz un⸗ 
möglic) geworben jei. Die Worte der Kommiſſion find in mehr 
als einer Hinficht merfwürdig genug, um bier vollitändig wieder: 
holt zu werden. Sie lauten: „Unjer patriotifcher Wunjch, der 
ji) mit unverrüdter Treue und Aufopferung gegen Ew. K. M. 
verbindet, geht dahin, daß Höchitdiejelben dem Staat und den 
bis jegt jo glücklichen Unterthanen den zur allgemeinen Wohlfahrt 
und Glüdfeligfeit jo notwendigen Frieden unter zweckmäßigen 
Bedingungen je cher je lieber zu verjchaffen geruhen mögen. 
Wir find überzeugt, daß Ew. K. M. Höchſtſelbſt nicht? jehnlicher 
wünſchen, al3 die Wiederherjtellung von Frieden und Ruhe und 
verhoffen daher in tieffter Unterthänigfeit, daß Ew. 8. M. es 
ung nicht als eine Einmilchung in fremde ung nicht zufommende 
Geſchäfte anjehen werden, wenn wir Höchjtdenenjelben die Ber 
jicherung geben, daß der Wunſch nach Frieden und äußerer jo 
wohl als innerer Ruhe der allgemeine und berrichende Wunſch 
des ganzen Volkes ift, das Ew. 8. M. mit wahrer Treue er 
geben iſt und Höchftdiejelben mit verdoppelter Treue verehren 
wird, wenn Höchitdiejelben bald diefen Lieblingswunſch der Nation 
in Erfüllung bringen fönnen. Wir müfjen nach der ftrengiten 
Wahrheit hiebei bemerken, daß vorzüglich) die Nation gegen den 
tranzöfiichen Krieg gejtimmt ift und daß jie weit eher einige 
außerordentliche Laſten zu übernehmen bereit fein wird, wenn 
bloß davon die Rede wäre, die polniihen Unruhen zu 
dämpfen.“ 





264 B. Baillen, 


Am 21. Oftober Hatte der Prinz von Berlin aus gebeten, 
dem König jeine Aufwartung machen zu dürfen; Friedrich 
Wilhelm Iud ihn nach Potsdam, wo am 25. in Sansjouci eine 
Zujammentunft ftattfand. Was zwiſchen beiden dort beſprochen 
wurde, darüber fehlt es Leider an zuverläjjigen Nachrichten: nur 
vermuthen können wir, daß die Lage des Staates, die Notk 
wendigfeit und Möglichkeit eines Friedensſchluſſes mit Frankreich 
erörtert wurde. Es jcheint ſelbſt, daß der Prinz bereits den 
Grafen Golg, den jpäteren Friedensgeſandten in Bafel, als 
Unterhändler vorgejchlagen hat. Gewiß ijt, daß der Prinz nur 
wenige Tage jpäter, am 29. Oftober, durch Vermittelung 
Struenjee’3, dem König eine Denkichrift Üüberfandte, in welder 
er die Anfnäpfung einer geheimen Verhandlung mit Frankreich 
in Bern empfahl, zunädit um zu erfahren, ob Frankreich den 
Frieden wolle und ob es Preußen als Vermittler mindejtens für 
das Deutiche Reich und für Holland zulaffen werde. Als Grund» 
lagen der weiteren Verhandlung bezeichnete der Prinz: Die 
Schonung der weitfäliichen Provinzen Preußens, Anerkennung 
der Erwerbungen in Bolen, Sicherung Baierns gegen Dfterreich. 
Zum Unterhändler empfahl er, ohne den Grafen Golg zu nennen, 
aber deutlih) auf ihn hinweijend, einen Mann, der in den Ge 
ihäften erfahren ſei, gut franzöfiich verjtehe und bereits einige 
Zeit in Frankreich gelebt habe.) 

Diefem Eingreifen de Prinzen Heinrich ift für die Ent 
ſchließung des Königs zur Anfnüpfung mit Frankreich damals 
wie jpäter immer eine enticheidende Bedeutung beigemefien 
worden *); wie denn auch der König ſelbſt durch Äußerungen 
und Verhalten, in diefen Tagen wenigitene, dem Prinzen für 


werder beftätigt auch der öſterreichiſche Geſandte in Berlin, Fürit Reuß; 
Beriht vom 4. Februar 1795 bei Beißberg 5, 97. 

1) Schriftwechſel des Prinzen Heinri mit dem König und Struenſee, 
und Denfichrift vom 29. Oftober im Kgl. Haudardiv. Mertwürdig, dab im 
der Dentichrift die Zufammentunft in Sansjouci mit feinem Worte berührt wirt. 

”) Am 1. November fchreibt Struenfee an Prinz Heinrih: „Em. Königl 
Hoheit Haben in diefer äußerſt delifaten Sade die Bahn gebrochen und zuerſt 
den feiten Entſchluß bewirkt, dem Krieg am Rhein wo möglid ein Ende 
zu machen.” 





266 P. Bailleu, 


fönne“ (19. Oft). Es waren die geheimen Verhandlungen mit 
Frankreich, die Möllendorff jegt dem König zu enthüllen dachte. 

Meyerint Hat jpäter in Bajel mit großer Genugthuung 
erzählt, wie gnädig der König ihn in Potsdam empfangen — 
wahrjcheinlich bereit? am 24. Oftober —, wie freundlich er jeine 
Mittheilungen auch über Schmerz, „der das Eid gebrochen“, 
aufgenommen habe. ZThatfächlich hatte feine Sendung in doppelter 
Hinfiht vollen Erfolg. Noch am 25. Oktober erließ der König 
den Befehl an Möllendorff, zwar die 20000 Mann unter Hohen» 
lohe nun „unverzüglih* abmarjchiren zu laſſen, die übrigen 
Truppen aber am rechten Rheinufer vorläufig feitzuhalten. Neben 
den politiichen und militärischen Gründen, die Möllendorff hiefür 
geltend gemacht hatte, wirkte auf den König, jo jcheint es, auch 
die ihm nahe gelegte Beſorgnis, daß fonft nichts Die Dfterreicher 
Clerfayt’3 verhindern fönne, eines Tages in Baiern einzurüden. 

Noh an demfelben Tage, oder unmittelbar darauf, fiel bie 
Enticheidung auch in der Frage der franzdfischen Verhandlung.) 
Meyerind hatte dem König nicht nur verfichert, daß die Franzoſen 
jelbft eine. Verhandlung über Auswechjelung der Gefangenen 
wünjchten und dafür die Schonung der preußifchen Provinzen 
am Rhein in Ausſicht ftellten; er betheuerte auch, daB das 
ganze Reich aus der Hand des Königs den Frieden zu erhalten 
verlange, daß insbejondere Kurmainz dazu in aller Form die 
Anregung geben werde. In der That Hatte Kurfürit Karl 
Friedrich, auf Dalberg's Anrathen, eben in Regensburg beantragt: 
da es fich zwijchen dem Neiche und Frankreich doch hauptſächlich 
um den weftfäliichen ‘Frieden handele, jo möge man Schweden, 





y Bur Chronologie: Am 24. Oktober war Meyerind in Rotödam 
(nad) Zinzendorf's Bericht bei Haflel, Kurſachſen und der Bafeler Friede, 
Neues Archiv f. ſächſ. Geſchichte 12, 204 erft am 25.); am 26. Prinz Heinrich 
in Potsdam, Befehl zum Berbleiben der Truppen am Rhein, Manſtein 
benachrichtigt Luccheſini von Meyerind’d Ankunft, der Verhandlung über 
Gefangenenauswechſelung und der Möglichleit einer preußiſchen Vermittelung 
für das Reich; 26. Bericht der Finanzkommiſſion; 27. Schreiben des Königs 
an Haugmwig über die Eendung Weyerind’3 nad Bafel; 28. Haugmwig in 
Potsdam (Sybel 3*, 274); 29. Dentichrift des Prinzen Heinrich. Am 
2. Nov. war Meyerind wieder in Frankfurt a. M. (Tagebuch Harbenberg’s). 





268 P. Baillen, 


jeine Entjihlieguug wurde die Ausſicht auf einen allgemeinen 
oder wenigſtens deutichen Frieden, bei dem er jelbit die eriehnte 
Rolle des Friedenzfüriten jpielen zu können fich Ichmeichelte. 

So viel wir fehen!), baute jich dem König die Friedensaktion, 
zu der er jest fchritt, in drei Stufen auf. Zunächſt die vor 
bereitende Unterhandlung durch Meyerind, der die Bereitwilligkeit 
Frankreichs zum Frieden ermitteln, gleichjam den Boden prüfen 
jollte, welcher die preußijche zsriedenspolitif tragen würde. Dann 
eine preußiich- franzöfiiche TFriedensverhandlung in aller Form, 
wofür der König ſchon damals den Grafen Golg in Ausſicht 
nahm. Endlich ein Friedenskongreß nicht bloß für das Ddeutiche 
Reich, jondern womöglich für alle friegführenden Mächte, unter 
Bermittelung Preußens und unter Theilnahme Luccheſini's, irgendwo 
in der Nähe des Rheins, wohin der König dann Doch noch jelbit 
zu fommen dachte. Ich wicderhole: e3 war zweifellos nur die 
lodende Ausſicht auf dies legte und höchite Ziel, die den König 
zu dem eriten Schritt der Annäherung an Frankreich beitimmte, 
dasjelbe Ziel, das der preußifchen Bolitit noch ein volles Jahr 
lang, bis in den Herbit 1795, vorfchweben follte. Und man age 
nicht, Daß es jo ganz chimäriſch geweien wäre. Auf das Reich 
beichräntt, hätte eine preußiſche Friedenspolitif, bei der wachjenden 
Friedensſehnſucht in Deutichland wie in Frankreich, unter ziel⸗ 
bewußter und cnergiicher Führung wohl Ausjiht auf Erfolg 
haben fünnen. König Friedrih Wilhelm freilich, als fühle er, 
daß jeine Kräfte ihn vor Erreichung des Zieles verlaffen würden, 
hat gleid) damals die glänzenden und ihn bezaubernden Ausſichten 
auf jein großartiges Friedensamt zweifelnd jelbjt als „Luftjchlöfier“ 
(chäteaux en Espagne) bezeichnet. 

Zunädjt geichah, was der König angeordnet, in ‘Formen, 
dic dem perjönlichen Charakter diefer ganzen Politif und der 


) Der König an Haugwig, 27. Oktober (in deſſen Nadlab); Manjtein 
an Luccheſini, 25. u. 30. Oktober. Wir würden über die Anfichten und 
Abjichten des Königs zuperläffiger unterrichtet fein, wenn defien eigenhänbiges 
Schreiben an Luccheſini (une longue lettre raisonnee) vom 3. und 4. Ron. 
erhalten wäre; immerhin lajien ſich aus Luccheſini's noch vorhandener Ant⸗ 
wort Rückſchlüſſe auf den Inhalt jenes Schreibens ziehen. 





270 P. Bailleu, 


würden? Andrerſeits, wenn man die Neutralität auf das rechts 
rheinifche Deutjchland beichränfte, würde man nicht Damit die 
Abtretung der überrheiniichen Lande für den künftigen Frieden 
in Ausſicht ftellen und fich bei Kaiſer und Reich dadurch mik- 
liebig machen? Unter verdrießlichen Klagen über „die vielen 
Hinderniſſe, die fich feinen beiten und heilſamſten Abfichten hindernd 
in den Weg jtellten“ '), hielt e8 der König eben deshalb für noth 
wendig, auf alle Möglichkeiten ſich finanziell vorzubereiten. Er 
genehmigte die Anträge der Finanzkommiſſion auf Ausschreibung 
einer inländischen Anleihe und Prägung von Kreuzern und 
Groſchen (S. 260), und gab den Auftrag, bei dem Landgrafen 
von Heſſen-Kaſſel wegen eines Darlehns anzufragen. 

Eine neue Steigerung erfuhr dieſe friegeriihe Stimmung 
des Königs noch durch die Wendung der Dinge in Polen, die 
jeinen Rathgebern fo oft zu friedlichen Mahnungen Anlaß gegeben 
hatten. Eben Hatte der König die Vorjchläge jeiner Minifter und 
Generale gebilligt, wonach Preußen bei den Verhandlungen über 
die Theilung Polens den Anſpruch auf die Weichjelgrenze und 
bejonders auf die Palatinate Krakau und Sendontir gegen Oſter⸗ 
reich unnachgiebig feſthalten jolle?), als in Potsdam ein Major 
Suworow's eintraf mit der Nachricht, daß Warſchau von den 
Ruſſen mit ſtürmender Hand erobert ſei. Erleichtert athmete der 
König auf. Vergeſſen war, daß er eben Forderungen in Polen 
erhob, welche die Gefahr eines Bruches mit Rußland und Oſter— 
reich in fich fchloffen. Wozu brauchte er noch Truppen in Often? 
Ohne langes Bejinnen, aus eigenjtem Antriebe, jandte er an das 
bei Fulda angelangte Corps Hohenlohe’8 einen Feldjäger mit dem 
Bejehle ab, jogleih Halt zu machen, und an Möllendorff die 
Weiſung, dieje Truppen wieder am Rhein in Luartier zu legen 

i; Denkſchriften des Prinzen vom 2. und 6., Schreiben des Könige vom 
11. November. Die im 5. Bande von Ranke's Hardenberg nach undatirten 
Kopien veröffentlichten Denficriften des Prinzen haben in den Originalen 
folgende Daten: S. 49 (Expos6 sur la guerre et la paix) 1. Febr 17%; 
S. 56 (Projet d’instruction) 21. November 1794; S. 72 (Projet d’instruc- 
tion pour le comte de Goltz) 26. Januar 17%. 

2) VBgl. Sybel 34, 276. 

















Riteraturberidt. 


La loi de l'histoire, constitution scientifique de l'histoire. Par 
J. Strada. Paris, Felix Alcan. 1894. 246 ©. 


Das vorliegende Buch ift ein Theil des philofophifchen Syſtems, 
da3 der Bf. in zahlreichen, zum Theil umfafienden Werfen feit Jahr⸗ 
zehnten niedergelegt Hat; er nennt feine Philoſophie die des „methos 
diſchen Imperſonalismus“ und erwartet von ihrem Durddringen das 
Heil Frankreich und der ganzen Welt. ef. ift es nicht gelungen, 
fih die grundlegenden Werke Strada’3 zu verfchaffen, Robert Flint 
erwähnt den Autor und fein Syſtem in feiner Historical philosophy 
in France u. f. w. (1893) gar nicht, daher muß ſich die Beurtheilung 
auf dag vorliegende Buch an ſich beichränten. Obwohl St. meint, 
Augufte Comte weit Hinter jich zu laſſen, fteht feine Geſchichts— 
philofophie durchaus auf dem Boden der Comte'ſchen Anſchauung. 
Der gefammte Verlauf der Geſchichte ift nach feiner Anficht beitimmt 
duch die Art und Weije, wie jich die Menichen zu den umgebenden 
konkreten Objelten, den Thatjachen, verhalten. Died Verhalten durch⸗ 
läuft im Fortgange der Kultur drei Stufen: die des Fideisme, die 
des Rationalisme, endlid; die des Impersonalisme methodique, 
Auf der erjten ijt die Richtſchnur des Verhaltens (le criterium in- 
faillible) der Glaube an die perjönliche Autorität von weltlichen und 
geiltlihen Gejeßgebern, Autokraten, Prieitern, Propheten; auf der 
zweiten wird in langem Kampfe gegen jened der fubjeltive Verſtand 
zum Criterium infaillible gemadt; auf der dritten endlich gelangt 
man zu dem wahren Criterium, indem man mit der von St. emt- 
dedten wahrhaft wifjenjchaftliden Wetbode des Impersonalisme 
überall die unumftößlihen Thatſachen und die Gejege, Die nichts 























284 Riteraturberidt. 


er liefert aber auf alle Fälle den Beweis, daß Außsftellungen an den 
Arbeiten Underer, die v. G. in Recenſionen madte, immer auf umfafien- 
den Kenntniſſen und ihm eigenthümlichen Unfichten beruhten, die er fi 
durch felbftändige Unterfuchung ſelbſt auf den abgelegenften Gebieten 
erarbeitet hatte. Für jeine umfaflende Gelehrfamleit, von der aud 
der letzte Band der Heinen Schriften wieder Zeugnis ablegt, gab eb 
überhaupt diefe Grenze nidht. Adolf Bauer. 


The history of Sicily from the earliest times. By E. A. Froeman. 
Vol. IV. Edited from posthumous Mss. with supplements and notes 
by A. J. Evans. Oxford, Clarendon Press. 18%. 561 ©.') 


Über die Eigenart dieſes Werke habe ich mid) bei Befprechung der 
drei eriten Bände (69, 298 ff.) bereit3 geäußert, bier ift vor allem die 
erfreuliche Thatjache feitzuftellen, daß die Vermuthung, e8 werde infolge 
des Todes des Bf. ein Torfo bleiben, durch den eben erfchienenen Band 
und die in Ausficht gejtellten weiteren hinfällig if. Der Schwieger: 
john des verewigten Vf., der durch feine numismatifchen Yorfchungen 
bekannte U. 3. Evans, hat in defien Nachlaß genügended Material 
gefunden, um in dem vorliegenden Bande die Herrichaft des älteren 
und jüngeren Dionyfos, die Gejchichte des Dion und Timoleon, ſowie 
das Emporfommen und Regiment des Agathokles zufammenzufaflen: 
ein nächfter Band ſoll die römische Eroberung der Inſel, ein weiterer 
die normanniſche enthalten. 

Freeman's hinterlaſſenes Manuffript war jedoch nicht lüdenlos 
und enthielt fo gut als feine Anmerkungen; nur die Stellen waren 
bezeichnet, an denen der Vf. folhe anzubringen beabfichtigte. €. Hat 
die Lüden durch die entjprechenden Abfchnitte aus %.'8 kürzerer Dar 
ftelung der Geſchichte Siciliend, die in der Sammlung Story of the 
Nations erſchienen ift, außgefüllt und nur an ganz wenigen Stellen 
ſich genöthigt gejehen, einen oder mehrere verbindende Süße dem 
Texte einzufügen. Dagegen find die zahlreihen Anmerkungen umd 
die ald Supplemente bezeichneten Exkurſe faſt ausfchließlich fein Wert. 
Bon %. rühren nur die acht ald Appendiced bezeichneten Exkurſe am 
Schluſſe ber. 

Die Darftellung ift infolge dieſes Verfahren? bald ausführlid), 
bald furz, das Wejentlichite allein enthaltend, je nachdem fie aus 5.3 


ı) Bon einer deutſchen Überfegung des Wertes durd) Bernhard Lupus 
ift foeben der 1. Band (Leipzig, Teubner) erſchienen. 

















2% Literaturbericht. 


Texte und Münzlegenden, während ſie die Inſchriften ausſchließt; 
daß die Brauchbarkeit des Buches durch dieſe Trennung des epi⸗ 
graphiſchen Materials von der übrigen Überlieferung in bedauerlicher 
Weiſe beeinträchtigt wird, iſt R. gewiß nicht eutgangen, offenbar find 
hier äußere Gründe, vor allem der Umftand, daB Bangemeifter's 
Sammlung der germanifhen Anjchriften immer noch außfteht, 
mächtiger geweſen, als innere Erwägungen. Un Vollftändigfeit läßt 
die Sammlung, abgejehen von der erwähnten Lüde des Planes, 
nicht8 Wejentliche8 vermiffen; die Anordnung der einzelnen Stellen 
richtet fi) in Abſchnitt 1—12 nad der Zeitfolge der Ereigniffe, in 
13 und 15 nad) der chronologiſchen Abfolge der Schriftiteller, in 14 
ift jie eine ſachliche: unvermeidliche Inkonſequenzen werben durd 
da8 doppelte Regiſter der Autoren und der Gegenftände unſchädlich 
gemadt. Zu tadeln ift, daß für die Wiedergabe ber Terte nit 
immer die beiten und neueiten Ausgaben zu Grunde gelegt find; fo 
fehen 3. B. die beiden Stellen aus Frontin's Strategemenfammlung 
6, 17 und 18 (Front. 2, 3, 23 und 2, 11, 7) bei Gundermann ganz 
anderd aus al8 bei Dederih, dem R. folgt, und insbefondere ergibt 
fih, daß an der zweiten Stelle die Handichriiten nicht Ubiorem, 
jondern Cubiorum bieten; aud für Athenäus mußte Kaibel jtatt 
Meinefe, für Appian und Herodian Mendelsjohn ftatt Bekker benupt 
werden. Unverſtändlich geblieben find mir die Ermägungen, auf 
Grund deren R. den griedifhen Schriftjtellen eine lateinifde 
Überjegung beigegeben bat: ich glaube, daß denjenigen Benußern de 
Buches, die Strabo oder Caſſius Dio nicht im Urtext lefen können, 
mit einer Verdeutſchung befjer gedient geweſen wäre. 
G. Wissowa. 


Geſchichte der chrüitlichelateiniihen Noefie bis zur Mitte des 8. Jahr 
bunderts. Bon M. Manitius. Stuttgart, Cotta Nachf. 1891. X, 518 & 


Die Beiprehung eined guten Buche? fann man ohne Schaden 
ein paar Jahre anftehen lafjen, denn man wird beim häufigen Ge 
brauche immer mehr trefflihe Seiten an ihm entdeden und auch als 
letzter Rejerent den Leer noch auf verborgene Vorzüge aufmerkſam 
machen fünnen. Anders bei einem jchlechten Buche. Hat man de, 
wie es mir in diefem Falle begennet iſt, theil® wegen Überhäufung 
mit andern Wrbeiten, theild aus Unlujt die übernommene Necenfion 
von Jahr zu Jahr hinausgeſchoben, fo fann e8 einem begegnen, daß 
man das Bud, fchon gerichtet findet und nur die Gerechtigkeit des 





292 Riteraturberidt. 


fie aber nicht angefehen zu haben, da er fie ſonſt dod wohl kaum 
unter „Allgemeines“ angeführt und den von Burſian benußten cod. 
Monac. 6412 saec. X nicht unerwähnt gelafien haben würde; daß 
die Bemerkung ©. 294, 5 über den profodijchen Gebrauch von idolum 
falſch iſt, Hätte ihm ein Blick in Burſian's Text gezeigt. Bei Dra⸗ 
contius wird zwar die bahnbrechende Arbeit W. Meyer's über die 
Berliner Centones der Laudes dei mehrfach mit gebührendem Lobe 
angeführt, aber an der Spitze des Paragraphen werden die Hand⸗ 
ſchriften in einer Weiſe citirt, die völlige Unbekanntſchaft mit den 
Ergebniffen von Meyer's Unterjuchung verräth; denn neben dem 
alten Bruxellensis der Laudes dei wird der nad) Meyer's Nachweis 
wie alle anderen Handſchriften aus ihm abgefchriebene Urbinad 
genannt, zwiſchen beiden ſteht der Vatic. Reg. 508, der nicht bie 
Laudes dei fondern da8 andere Gedicht, die Satisfactio, enthalt; 
für die Profangedichte wird neuere Literatur, aber nicht die einzige 
Handichrift angeführt: es ift völlig unerfindli, melden Nuben eine 
fo kopfloſe Handfchriftencitirung ftiften fol. Ähnlich werden die 
Handfchriften der beiden getrennt überlieferten Gedichte des Priscian 
©. 356 ohne Sonderung aufgeführt, von dem Gedicht de laude 
Anastasii imperatoris fehlt die editio princeps von ©. L. Endlicher 
(1528), von der die angeführte im Bonner Corpus scriptorum 
historiae Byzantinae abhängig ift; von der periegesis die in 
E. Müller's Geographi graeci minores 2, 190 ff.; hätte Bf. diefe 
eingefehen, fo würde er wohl nicht vergeflen haben zu bemerten, 
daß dies Gedicht die Überfegung der erhaltenen griechifchen reoımnax 
des Dionyſios ift. G. Wissowa. 


Quellen und Forſchungen zur Geſchichte der Abtei Reichenau, heraus 
gegeben von der badiichen hiſtoriſchen Kommiſſion. IL: Die Chronik dei 
Gallus Ähem, bearbeitet von Karl Brandi. Heidelberg, Winter. 188. 
XXVIIL 216 S. 

Dem Hift. Zeitichr. 67, 537 befprochenen eriten Theil dieſer 
großen Publifation folgt jegt die verjprocdhene Ausgabe der Reichen: 
auer Chronik des Gallus Ohem, beforgt von Karl Brandi, demfelben 
jungen Hiftorifer, der ſich durch feine Bearbeitung der Reichenauer 
Urkundenfälſchungen ein nicht geringes Verdienft erworben hat. Die 
jelben Vorzüge, welche jener Arbeit nachzurühmen waren, gelten aud 
von diejer: die Edition ift mit großem Aufwand von Sorgfalt und 
Akribie bergeitellt, die Unterfuchhung der Handichriften und Quellen 
auf breiteiter Grundlage aufgeführt. 





294 Literaturberidit. 


lihen Plane jollte da8 Urkundenbuch bi8 zum Jahr 1526 geführt 
werden, und der Heraudgeber glaubte damals, diefen Stoff in zwei 
Bänden unterbringen zu können. Über der 1890 erjchienene zweite 
Urkundenband (vgl. H. 3. 72, 127 ff.) reiht nur bis in das Jahr 
1400, und bei gleichartiger Weiterführung hätte es, wie der Heraus 
geber jebt meint, noch zweier umfangreicher Bände bedurft. So 
wird denn die Urfundenpublifation als zu weit führend abgebrochen; 
gewißermaßen als Neitlieferung erjcheint in dem vorliegenden Bande, 
abgejchen von beiläufig untergebradhten Stüden, noch eine kleine 
Urkundenfammlung aus den Jahren 1401—1430. 

Die Monumenta, welde der Band vorführt, jind meiſt alte 
Belannte; jo die Chronik des Kirfchgarter Mönche, die Lebend 
beſchreibungen Burkard's und Edenbert’3 und die verfchiedenen Wormſer 
Aufzeichnungen aus dem 13. Jahrhundert. Doch jieht man fie darum 
nicht minder gen bier vereinigt, zumal da einige darunter durch 
eine Neubearbeitung nur gewinnen konnten. Für die Aufzeichnungen 
aus dem 13. Sahrhundert und was fi daran angeichloffen Hat, 
war dem Herausgeber die Unterfuhung A. Köſter's (vgl. 9. 3. 64, 
489) von Nuten. Den Sammelband, aus weldem Köfter die von 
ihm zuerjt genauer geichiedenen bürgerlichen, geijtlihen und diverſen 
Notata ableiten will, glaubt B. (S. XXX) gefunden zu haben 
in einem 1497 vom Worniſer Stadtichreiber vorgelegten Coder, von 
welchem es heißt: „Die alt cronic unjern vorfarn durch die pfaff⸗ 
heit ubergeben ... derjelben chroniden fein drey einer handtichrifft 
des orts, der ein biſchoff ein, das domcapittel die ander und wir 
burgermeifter und rate die tritt haben, gleych geitalt, eind gebends, 
einer groffe und eins buchſtabens.“ Won Intereſſe ift eg, daß der 
Etadtihreiber unter Angabe der Folien Stellen daraus anführt, jo 
daß man einigermaßen Einblid gewinnt, wie die verfchiedenen Auf 
zeichnungen auf einander folgten. Was der Band an Quellen Neues 
bringt, gehört wefentfich den 15., einige8 auch dem erfien Viertel 
des 16. Jahrhunderts an. ES find zu nennen die Auszüge ans 
Wormjer Rathsbüchern, eine um 1500 verfaßte Denkichrift über die 
Verteidigung der Stadt Worms in Kriegsläuften, die Tagebücher des 
Bürgermeiſters Reinhart Nolt von 1493 bis 1509 und die Befchreibung 
des Einrittd Biſchof Johann’d von Talberg 1483. Die Nolp’jchen 
Zagebücdher lagen leider nur in einer mangelhaften, 1714 aus einer 
Uffenbach'ſchen Abichrift gefertigten Kopie vor. Der Herausgeber 
bat den ſprachlich jtarf entitellten Tert „überall auf die alamannifd 





296 Literaturbericht. 


Lehrbuch der Kirchengeſchichte. Von W. Möller. 3. Band: Reformation 
und Gegenreformation. Unter Benupung des Nachlafles von W. Möller be 
arbeitet von Guſtav Kaweran. Freiburg i. Br. n. Leipzig, 3. C. 8. Mo 
(B. Siebed). 1894. 440 ©. 

Diefer Band umfaßt die Zeit vom Beginn der Reformation biß 
zum Jahre 1648, während ein 4. Band die Geſchichte bis zur 
Gegenwart fortführen fol. Es war vorauszufehen, daß eine folde 
Theilung notwendig werden würde, und diejelbe ijt mit großer Freude 
zu begrüßen. Freilich Hat diefe Erweiterung zur Kehrſeite, daß fie 
die Ausfichten auf eine allgemeine Verbreitung dieſes vortrefflichen 
Lehrbuchs im Kreiſe angehender Theologen vermindert hat. — Nach 
den Mlittheilungen des Vorwort haben wir wejentlich Kawerau als 
den Verfaſſer dieſes 3. Bandes anzufehen. Scwerlid Hätte man 
einen geeigneteren Bearbeiter dieler Periode finden können. Denn 
jeine befannte Vertrautheit mit derjelben bat es ermöglicht, daß der 
Lejer über den Stand der Forſchung zuverläjlig unterrichtet wird 
und ein anſchauliches Befammtbild empfängt. Während der 2. Band 
zu mandjerlei Wünſchen in Bezug auf Stoffauswahl und Une 
ordnung Anlaß gibt, befriedigt die Lektüre dieſes 3. Bandes jaft 
ausnahmslos. Es ijt nur fraglich, ob (vgl. ©. 55 ff.) die Heraus⸗ 
bebung einer myſtiſch-revolutionären Gruppe neben den ſchwärmeriſch⸗ 
anabaptijtiichen Kreiſen (5. 57 ff.) auf der einen und der Bauern 
revolution (S. 59 ff.) auf der anderen Seite empfehlenswerth ift, 
und nicht vielmehr bloß zwei Bewegungen zu unterjcheiden find, die 
der Schwarmgeifter und die der Bauern (vgl. die Zerreißung Münzer's 
S. 55 und 61). Taß die Heinen Kircyenparteien auf der Grenzſcheide 
zwilchen Proteſtantismus und Romanismus von K. unter den Ber 
grift „die akatholifchen Gruppen” zufammengefaßt werden (S. 394 ff.), 
ift geeignet, irrige Vorſtellungen über die Bejchaffenheit derfelben zu 
erzeugen. Denn nur für die Utraquiſten ift die Bezeichnung zutreffend. 
Die Waldenjer Itanden zwar urjprüngli auf dem Boden ded mittels 
alterlichden Katholizismus, aber wurden, wie der Verfaſſer mit Recht 
S. 395 bemerkt, durch die Reformation zu einer evangeliichen Kirche. 
Was aber die Wiedertäufer betrifft, jo iſt der Nachweis ihres Fefl- 
haltend gewiſſer Stüde der mittelalterlichen Auffajjung vom Staat 
und bürgerliden Leben nicht ausreichend, fie als katholiſches Gebilde 
zu charalterijiren. Denn erjt der Berührung mit der reformatorijchen 
Gedankenwelt verdantten ſie ihre Entitehung und ſtets fühlten fie fi 
mehr von der evangeliichen ald von der römischen Kirche angezogen. 





298 Literaturbericht. 


geholfen hatte (Lanz 1, 385) gepfählt wurde, wie der ſpaniſche Ges 
landte in Rom am 25. Mai 1531 dem Kaifer mittheilt (Simancas 
Estado leg. 853 fo. 45). Weitere Briefe Balbi's dürften daher nicht 
erhalten fein, wie 9. meint (©. 6). Uber der fpanifche Geſchicht⸗ 
ſchreiber Ocampo bemerft in feinen Aufzeichnungen, daß Unjang 1542 
am faiferliden Hoje in Valladolid ein Gejandter des Soft weilte 
(Escurial. Cod. II. V. 4 fol. 175), wie damals in Europa der Perſer⸗ 
ſchah genannt wurde. Und diefe Gefandtfchaft wird die ziweite Sendung 
Karl’ (©. 6) veranlaßt haben. Es jcheinen alfo die Beziehungen 
Karl's V. zu Perſien nie abgebrochen worden zu fein. 
J. Bernays. 


Doktor Wenceslauß Lind von Coldig, 1483—1547. Nach ungedrudien 
und gedrudten Quellen dargeftellt von Wilhelm Reindell. Criter Theil: 
Bis zur reformatoriihen Thätigfeit in Altenburg. Wit Bildnis und einem 
Anhang, enthaltend die zugehörigen Documenta Linckiana 1485—1522. 
Marburg 1892. 2% S. 

Daß der treffliche Auguſtiner Wenceslaus Lind aus Goldip, 
der Nadyjolger des Johann von Staupi im Generalvilariat feiner Kon- 
gregation, der nachmalige Prediger in Altenburg und Nürnberg, eine 
Lebensbejchreibung verdient, wie manche andere Leute zweiten und 
dritten Ranges aus jener Zeit fie gefunden haben, wird niemand 
beitreiten. Daß ein ſolches biographiiches Denkmal aber zwei Bände 
umfafjen müßte, wird außer dem Vf., der die Bedeutung feines Helden 
ſtark überfhägt und 3. B. geneigt iſt, in ihm nächſt Luther den 
eriten Prediger der Reformationgzeit zu ſehen, ſchwerlich ein Kenner 
zu behaupten wagen. Der Bf. hat, was rühmend anerfannt werden 
muß, feine Mühen und Koſten gejcheut, um neued archivaliiche 
Material zufammenzubringen, ohne dod großen Erfolg gehabt zu 
haben. Bon den am Schluß des vorliegenden Bandes abgedrudten 
oder verzeichneten Briefen und Dokumenten dürften — vielleicht ab 
gefehen von den aus dem Altenburger Archiv ftammenden — Die 
meisten fchon befannt oder ſchon von Undern verwerthet worden fein, 
und nicht immer hat der Vf. diefen Thatbeftand und die Eitate Anderer, 
die ihn zum Abdrud der betreffenden Quellenftellen veranlagt haben, 
angegeben (3.8. ©. 255 vgl. mit Th. Kolde, Deutjche Auguftinerkongt. 
©. 272, ferner 250 vgl. ebendaf. ©. 356 ꝛc.). Auch die Erwartung, 
daß meine Ausführungen über Lind durch die Spezialforfchung weient- 
liche Berbejjerungen erfahren würden, bat fich leider nicht erfüllt. 
Natürlich feblt es nicht an danfendwerthen Ergänzungen im einzelnen, 





300 Riteraturbericht. 


Der zweite Aufjag „Sranzöfifche Zejuiten al8 Gallitaner” (S. 59—119) 
enthüllt eine Epifode in der Gefchichte der Orden, welche für defien 
Stellung zur Kurie außerordentlich charakteriftifch ift. Ludwig XIV. 
hatte durch Edikte von 1673 und 1675 dem fogenannten Regalien 
recht eine Ausdehnung gegeben, welche jcharfe Protefte Innocenz XL 
bervorrief. Aber die franzöfiichen Sefuiten übten als Beichtväter 
des König auf Die Befegung der von diefem abhängenden geiftlichen 
Stellen einen fo großen Einfluß aus, daß fie der päpitlicden Ent⸗ 
ſcheidung offene Oppojition entgegenjegten. R. zeigt jodann, mie 
die berühmten gallitanifchen Artikel, welche nicht ohne Mitwirkung 
des Sefuiten La Chaife zu Stande gefommen waren, in den erften 
Sahrzehnten von den franzöfifchen Jefuiten ganz und gar nicht bes 
kämpft worden find, fondern geradezu der erſte Anlaß ihres Streites 
mit dem General Gonzalez wurden. Ihre von Ludwig XIV. unter 
ftügten Emanzipationdbejtrebungen gingen jo weit, daß der Plan, 
für Frankreich einen von dem General unabhängigen Vorſteher zu 
wählen, ernſtlich betrieben wurde; freilich feheiterte er an der Stand 
bajtigfeit Alerander’3 VIII Noch im Jahre 1761 Haben ji 116 
Sejuiten feierlich zu den gallifanifchen Kirchenfreiheiten bekannt, doch 
ohne dadurd, wie fie hofften, dem Verbot ihred Ordens vorzubeugen. 
— Der Berfammlung von Bourgfontaine im Jahre 1621, auf welder 
die Häupter der janjentftifchen Partei die Zerſtörung der katholischen 
Religion bejchloffen haben jollen, ijt die dritte Studie (S. 120—168) 
gewidmet. Daß die ganze Erzählung eine boshafte Erfindung der 
Jeſuiten geweſen iſt, Steht feit. Trotzdem wird fie, wie der Bf. höchſt 
lehrreich zeigt, biß auf den heutigen Tag wiederholt und hödhitens 
ihre Unficherheit zugeitanden. — „Der faliche Arnauld. Eine Illu⸗ 
jtration des Satzes: der Zwed heiligt die Mittel“ ift Gegenftand der 
vierten Unterfuhung (S. 169—195). Mehrere Profefloren oder 
Pfarrer in Douai und Yournai, welche in dem Verdachte des Janſe⸗ 
nismus jtanden, wurden im Jahre 1698 in Hinterliftiger Weiſe mupfti- 
fizirt. Durch Briefe, welche Antoine U. unterzeichnet waren und die 
Empfänger zu der Meinung bringen mußten, fie feien von Antoine 
Arnauld gejchrieben, ließen die Genannten zu einer Korrefpondenz 
ji verleiten. Bu fpät erfannten jie, einem Mitglied oder Helferk 
belfer der Geſellſchaft Jeſu — die Perfönlichfeit, welche die Sade 
einfädelte, ift nie ermittelt worden — ihre vertraulichen Belenntuifle 
gemadht zu haben. Es ijt faum befremdlih, daß die Verwerflidäkeit 
de3 ganzen Verfahrens von jejuitiiher Seite niemals zugegeben worbes 





302 Literaturbericht. 


Geſchick führt. Faſt jedes der 21 Kapitel bringt und eine Fülle neuen 
Detaild, mandje rücken den gefammten Verlauf in ein neues Lidht, jo 
befonders das 17. Intereſſant jind die Mittheilungen über die erften 
Projekte zur Theilung der jpanifchen Erbſchaft (S. 328—331 u. fpäter), 
beadhtendwerth auch der Nachweis geringer Glaubwürdigkeit, die den 
bisher fait maßgebenden Berichten Gremonville’8 über den Kaiſerhof 
zulommt. Bor allem aber ift e8 die vom Bf. verfuchte neue und ab» 
mweichende Würdigung der Perjönlichleit und Politik Kaifer Leopold's, 
die unjere Aufmerkjamteit in Anſpruch nimmt. Jene einfeitig ab« 
ſprechende Beurtheilung der öſterreichiſchen Politik, die, durch Droyſen 
inaugurirt, lange Beit geherriht hatte, ift zwar ſchon in dem bes 
deutenditen neueren Werk über den Zeitraum, in Erdmannddörffer's 
Deuticher Gefchichte, aufgegeben worden. Pribram geht noch weiter. An 
mehreren Stellen ſucht er einige bisher ftet3 getadelte Entjchließungen 
Leopold’8 nicht nur als Ausflüſſe feineg — wie er ſelbſt mehrjad 
zugibt — ſchwachen Charakters zu entjchuldigen, fondern geradezu als 
Gebote der Stantöflugheit zu rechtfertigen. Die kritifchen Punkte find 
hier die Jahre 1668 und 1671, wo Leopold fi) gegenüber dem 
franzdfifchen Vorgehen in den Niederlanden, ftatt zum Widerjtande, zu 
Verträgen beſtimmen läßt, die ihn zur Neutralität verpflichten und 
ihm überdied einen Theil der zmweifello® nur ihm gebührenden Erb⸗ 
ichaft entziehen. Die Rechtfertigung dieſks Verhaltens iſt Br. nad 
meiner Anjicht nicht völlig gelungen. Er bleibt und den Nachweis 
icyuldig, warum dasſelbe, was 1673 möglich und Heiljam war, 2 Zahre 
früher den Ruin Ofterreich8 hätte herbeiführen müffen. Die veränderte 
Lage im Orient, die er ad Grund anführt, ift gewiß zu berücjichtigen, 
aber jollte da3 Argument völlig überzeugen, jo mußte e8 deutlicher aus⸗ 
geführt und mit genaueren thatſächlichen Angaben gejtügt werden. Alles 
in allem genommen gewinnt man aus Pr.'s Darjtellung erit vollends 
den Eindrud, daß das Ofterreich Leopold's I. vor der Zeit Eugen's von 
Savoyen — der Vorwurf trifft ebenjo ſehr und wohl noch mehr die 
Minifter, ald den Herrſcher — in der verhängnisvollen Epoche Lud⸗ 
wig's XIV. weder über die drohende Politit des Gegners, noch über 
die zu befolgende eigene Haltung fi flar geweien ijt und Deshalb 
jo oft in kritiihen Momenten nur einen halben oder gar feinen Ent- 
ſchluß gefunden hat. Literreih war fid, um im Stile der Zeit zu 
fprechen, jeiner ratio status nicht bewußt. Der Einzige aber, der vor 
dem Prinzen Eugen die gleiche Idee in Wort und Schrift unabläflig 
vertreten bat, eben Lijola, er hat — dies ijt der Eindrud, mit bem 


Schulweſen. 303 


wir von dem Buche ſcheiden — die verdiente Stellung und Beachtung 
nicht gefunden, fo da die giftige Bemerkung des Venetianers nur zu 
begründet erſcheint, die Fürften glaubten die Treue ihrer Diener 
entjprechend zu belohnen, wenn fie den Leichen Weihrauch ftreuten. 
Mir fcheint, gerade die Behandlung Liſola's ift das ftärkite Argument 


gegen i . 

treffend als oſterreichiſchen Landesheren charafterifirt, der ſich erit in 
‚weiter Linie auc als Kaifer fühlt. Immerhin hält dieſer Oſterreicher 
aud mit vielen bloßen Territorialfürften feiner Zeit den Vergleich 
ſchlecht aus. 

Daß neben diejer allgemein hiftorifchen Seite des Buches die 
perſonlich⸗ biographiſche oft ftärfer zurücktritt, als dem Lejer lieb ift, 
liegt in der Natur des Stoffes und des Helden, von dem außer jeiner 
diplomatiſchen nur noch Spuren einer regen ſchriſtſtelleriſchen Wirf- 
jamfeit befannt find, die bei Pr. gebührend zur Geltung kommt. Der 
Mann hat zu wenig Perfönliches an ji, als daf fein Biograph 
mehr als das Bild der Gejchäfte bieten könnte. Doc wäre es viele 
leicht zu vermeiden gewejen, daß man z. B. im 9. und 10. Kapitel 
(vor dem Frieden von Oliva) den Helden auf jo fange aus den Augen 
verliert, wie dort geichieht. Der Stil des Bf. iſt nicht immer 
, feine Ausdrudsweife mitunter ermüdend; doch wäre es uns 
dankbar, deswegen, wie wegen anderen Einzelheiten, den unzweifel- 
haften Werth des Buches herabzufegen, das, einen bedeutenden Stoff 
in gründliche Verarbeitung darbietend, die Kenntnis einer wichtigen 
Epodpe der europäifchen Geſchichte nicht unbeträchtlich vertieit. 

Haller. 


} 


Geſchichte des deutſchen Voltsjhullehrerftandes. Bon Konrad Fiſcher, 
Seminarleher. 2 Bde. Hannover, Karl Meyer (G. Prior). 1892/83. VI, 
353 u. 458 ©. 

Das Buch iſt dem Wunjche des Vf. entiprungen, aus der Be— 
trachtung des Entwidlungsganges, den der deutſche Volksſchullehrer⸗ 
fand genommen, eine Harere und unbejangenere Erkenntnis über die 
von den Vollsſchullehrern in der Gegenwart zu erjtrebenden Biele 
heranreijen zu lafjen. Als jolde betrachtet 5. die Hebung der Bil 
dung des Voltsſchullehrers, die Verbejjerung jeiner Einnahmen und 
jeiner gejellichaftlichen Stellung, jowie die Durchführung des aus— 
ſchließlich jtaatlihen Charakters der Vollsſchule und einer fachmänni— 
ſchen Schulaufficht. 








806 Kiteraturberidht. 


wird, doch hätte ſich an cerfreulicheren Erfceinungen mehr zufammen 
ftellen lajien. Dahin gehört u. a. die Thatſache, daß unter ben von 
1772 bi8 1798 in Weftpreußen entftandenen 750 Landſchulen jich 173 
auf adeligen Gütern befanden. Daß bäuerliche Gemeinden nicht ges 
rade entgegenfommender fich zeigten, als der Adel es zu thun pflegte, 
darüber gibt Vf. ausreichende Belege. Aus alledem zieht er den 
Schluß, daß die Schule am beiten ald Staatsſchule gedeiht. 

Unfer Schlußurtheil über fein Buch geht dahin, daß wir mit 
unferer Anzeige deſſen Leſerkreis ermeitern möchten, denn niemand 
wird ed ohne mannigfache Belehrung und Anregung aus der Hand 
legen: es jtedt tüchtige Arbeit darin, und ed offenbart jich darin ein 
redlicher Charakter, der ſich Achtung erwerben muß. 

C. Rethwisch. 


6. ©. Gervinns’ Leben, von ihm jelbit. 1860. Mit vier Vildnifen 
in Stahfftih. Leipzig, Wild. Engelmann. 1893. XVI, 48 S. 


Die Selbftbiographie von Gervinus umfaßt nur die Jugendjahre 
185 bi etwa 1835, obgleich das legte Kapitel zeitlich etwas darüber 
hinausgreift. Der äußere Verlauf des Lebens in diefen dreißig Jahren 
ließe jich in wenigen Worten wiedergeben und ijt in der That ohne mıerl- 
würdige, erwähnenswerthe Zufälle. Wie es bei der jtarf refleftirenden 
Natur von G. nit Wunder nehmen fann, iſt die Betradhtung umd 
Beobachtung fait ausjchlieglich auf die innere Entwidlung gerichtet; 
die äußeren Ereignijje werden kurz angedeutet, bilden nur die Wende 
punfte, erjcheinen meiſt al3 Ergebniffe innerer Erfahrungen und Er⸗ 
lebniſſe. Deren aber weiß der jcharfe Beobachter jeiner jelbit in Fülle 
zu erzählen; eine Kämpfernatur, entwidelt er Geift und Charakter in 
hartem Ringen mit jich ſelbſt und ſchonungslos, mit einer faft bis 
zur Schroffheit gediehenen Wahrheitäliebe erzählt er dieje ſchweren 
Kämpfe, aus denen er jchließlid) Doch als Sieger hervorging. 

Das Buch bietet feine leichte, feine behagliche Lektüre; felbft der 
Schilderung der Jugendjahre fehlt der fröhlihe Schimmer, in dem 
jie jonjt dem rüdblidenden Manne erjcheinen. Mit wenig rende 
blidt er auf die Schulzeit zurüd; troß aller Schwärmerei und poetis 
ihen Neigung tritt er, unberathen und ungeleitet, in eine Buchhand⸗ 
lung, nad kurzem Verweilen in ein Waarengeſchäft. Er ſucht ja in 
der Selbitichilderung der Lehrjahre in der Kaufmannſchaft nad Mög⸗ 
(ichfeit auc ihnen gute Seiten für feine Entwidlung abzugewinnen, 
fhwingt ih togar zu einem Panegyrifus auf den Kleinhandel auf, 











810 Kiteraturbericht. 


bat einmal das tiefjinnige Urtheil gefällt: „man muß T. nehmen als 
Ganzed, wie er iſt, oder ihn gar nicht nehmen“. Das iſt num 
glüdlicherweife faljh: denn man muß ihn nehmen. Aus dem Wege 
fann diefem Buche doch feiner von und gehen: bejcheiden wir uns 
aljo, und unbefangen an ihm zu erfreuen — denn es iſt das ſchönſte 
hiſtoriſche Erbauungsbuch, dad unjer Volk bejigt — und überdies, 
nad hundert Seiten hin recht viel aus ihm zu lernen. 

Man darf wohl jagen, daß der neue Band der biöher fchönite 
von allen ift. Das Augenleiden, unter dejjen dumpfem Drud er ge 
jchrieben worden ift — die VBorrede klagt darüber — merkt man ihm 
wahrlich nicht an: feine Spur der Erlahmung wird auf dem weiten Wege 
fihtbar. Den Gegenjtand bildet die Zeit von 1840 bis 1848; „König 
Friedrich Wilhelm IV.“ ift diefes „fünfte Buch“ überfchrieben. Wieder 
find die Schäge vornehmlich des Berliner Archivs in weiten Umfange 
herangezogen, vielerlei Ergänzungen dem Bf. von danfbaren Lejern 
mitgetheilt worden, die Literatur der Zeit in all’ ihren Richtungen 
bi3 hinab zu einer Fülle von Zeitungen hat er durchgemadt, all» 
mählich beginnen auch feine eigenen Erinnerungen hörbar mitzufpredyen ; 
bejonders in den Porträt der Männer, die damals hervortraten und 
zum Theile noch heute am Leben jind, erfennt man ſie leiht. Der 
Stoff, der dieſem Bande zu runde liegt, ijt außerordentlich groß. 
2. bat mit überlegener Herrſchaft ein Kunſtwerk aus ihm gebildet, 
wie es jo einheitlich zugleih und lebensvoll jelbit ihm nod 
nirgend gelungen iſt. Inſofern iſt der Band, als literariſches 
Ganzes, durchaus neu und mit keiner früheren Darſtellung des Zeit⸗ 
raumes vergleichbar. Sein hiſtoriſcher Inhalt freilich iſt minder 
nen. Die entſcheidenden Thatſachen dieſer 8 Jahre kannte man bes 
reits vor T. vollſtändiger und genauer als die des vorhergegangenen 
Vierteljahrhunderts; eine eigentlich überraſchende Neubegründung 
unſerer Kenntnis war bier nicht zu erwarten. Auch in der Geſammt⸗ 
auffafjung weit T. hier von den beiten feiner Vorgänger nidt 
wejentlih ab. Auch jet bleibt die meifterhafte Inappe Überſicht 
Sybel's bejtehen. Aber einmal erfährt bei T. jede einzelne Gruppe 
von GEreignifjen eine Menge von Bereicherungen, Berichtigungen, Er⸗ 
Härungen, und vor allem: die Gejamnitheit des deutichen Daſeins der 
Beit erſcheint — auch inhaltlid” — hier zuerft in umfaflendem, alljeitig 
und voll ausgeführtem Bilde. 

Seine leitenden Züge zeichnen ſich fharf ab. Die 40er Jahre 
find erfüllt von erregter öÖffentlider Bewegung, fie iind politifch, fte 





32 Literaturbericht. 


monarchiſchen Gewalt in den Mittelſtaaten“); weiter vorn ſind ſie 
ſchon einmal behandelt worden, aber nur inmitten 
der „die Parteiung in der Kirche“ ſchildert: dort ſind die Südſtaaten 
dem Berichte über den Ultramontanismus, Sachſen dem über ben 
Deutfeitatholigismus angereift. Die geifteßs und wirkhfchaftsgeiihte 
lichen Kapitel umfafjen natürlich ganz Deutſchland, — 
T. von Preußen aus und ſchließt er mit Preußen. 
ſandtſchaftsalten find viele 
ſtaaten entnommen. Auf der einen Seite iſt nun, und nicht ganz mit 
Unrecht, darauf hingewieſen worden, daß ber große Aufſchwung 
nationaler Empfindungen, der auch nad) T. dieje Jahre wejentlic 3 
harafterifict, Doch, umd befonders in feinen außerpreußifchen Negungen, 
nicht jo ausdrücklich und jo eingehend verjolgt wird, wie man es = 
gerade im diefem Werfe erwarten möchte. Andrerſeits muß man — 
ebenjo ftarf betonen, daß manche Einzelzüge, die in den früheren — 
Darftellungen über Gebühr Hervortraten, erſt hier innerhalb einer — 
wirklich das Ganze und aud) die realen Gewalten alljeitig beri—— 
fichtigenden Erzählung ihren richtigen Plah und das ihnen doch mur zu— 
tommende Maß von Wichtigkeit angewiejen erhalten; ich denke babe 
an die Parteiverſammlungen der ſüdweſtdeutſchen Liberalen. Und wieder 
muß man dem unerfreulichen Mipverjtändnis entgegentreten, als lieg 
diefer Zurücdrängung früherer einfeitiger Urtheile und liege de 
Keitit, die T. an den Mittelftaaten übt, Feindjeligfeit oder Gerng— 
ihägung den nichtpreußiſchen Stammen gegenüber zu Grunde. De 
niemand umfaßte wohl bisher die Individualität unferer Stämme 
mit jeinerent Verftändnis und wärmerer Liebe, als diefer alte Td— 
feind des Partikularismus; und bei den Schwaben, die fid, wenn ide 
nicht irre, beſonders empfindlid; gezeigt haben, ſcheint mir der AUrg— 
wohn am wenigten begründet zu fein. Es iſt von jeher drollig zu 
beobachten geweſen, wie in den Necenfionen (und das Vorwort ei 
4. Bandes verrät, auch in perjönlichen Zufchriften) der Ton durc 
brach, „daß wohl alles Übrige zu billigen, aber die Heimat ee 
Todelnden ſchlecht behandelt fei". Der Ref. glaubt fid von diefen 
Groll wie von kritiſchem Hodmuthe frei, wenn er num doch LT 
undanfbare Amt auf ſich nimmt, in einem raſchen 
die der inneren Geſchichte gewidmeten Theile des 5. Bandes hier un 
dort eine Frage zu äußern und eine Lüde anzudeuten. 

In den Abfehnitten über das Kirchliche Leben nimmt X. fe 
rüdhaltlos jeine perfönlihe Stellung — die ſich mit feinem der Parti—— 








314 Literaturbericht. 


auch die neue literariſche Bewegung in ihren internationalen Zuſammen⸗ 
hang hineingeſtellt werden müßte, wie er hier nur für die bildenden 
Künſte konſtatirt wird, die T. als die „weltbürgerlichen“ der von 
Natur „nationalen“ Poeſie entgegenſetzen möchte. Und vielleicht 
könnte der Realismus jener Tage überhaupt doch noch genauer bes 
fchrieben und enger begrenzt werden. 7. ſelber hat wohl in den 
vierziger Jahren zuerft eine „realiſtiſche“ Kunſt fennen gelernt, wie 
jie eben damal8 emporkam. Aber wie fremd ijt und diefer Realismus, 
jelbjt derjenige der Freytag'ſchen Jugenddramen, längſt geworden! 
Wie zahm und von wievielen älteren Elementen durchdrungen er in 
diefen feinen Anfängen nody war: dieſe rechte literariihe Eigenart 
des fünften Jahrzehnts fcheint mir T. nicht ganz mit jener dad Ber 
fondere treffenden Kraft plaſtiſcher Charafterijtit herausgearbeitet zu 
haben, die ihm fonft überall eigen ift. — Die Mufif findet in dem 
Sefammtplan feines Werkes offenbar an fpäterer Stelle ihren Bla. 

Eingehend ift (Kap. 6) „Wachsſsthum und Siechthum der Volks⸗ 
wirthichaft” beſprochen. Für das Wefen von T.’3 Geſchichtſchreibung 
it dieſer Abjchnitt vielleicht vor allen bezeichnend. T. will das ges 
jammte Leben feines Volkes, aud) das wirthſchaftliche und joziale, 
duritellen, aber er geht nicht von diejem eigentlid) aus: der Staat, der 
perfönliche Gedanke, die perſönliche That liegen ihm doch näher, er ift 
und bleibt, im weitejten Sinne, politifher Hiftoriter. Das Kapitel — 
trefflic aufgebaut — ift feinem Hauptinhalt nad) Gejchichte der 
Wirthſchaftspolitik (Zollverein, Eifenbahnen, Bankweſen). Bon ihr 
entwirft es ein jarbenreiches, prächtige und werthvolles Bud, an 
dein man fich freuen muß; überall jind dabei Züge der allgemeinen 
Politik (Rußland, Ofterreih), England) eingewoben: da8 England 
Cobden's wird dharakterijirt, fein Einfluß auf das deutfche Leben, der 
Kampf von Schußzoll und Freihandel, dann wieder daß innere Treiben 
der preußischen Finanzverwaltung, die Wirkſamkeit Rother's geichildert. 
Von der Gewerbepolitif diefer Jahre!) ift dagegen, wenn ich nicht 
irre, nicht die Rede. Der Schluß des Kapitels ift dem Kommunismus 
gewidmet, der Entwidlung der fozialen Zuſtände Dagegen nur ein 
verhältnismäßig enger Raum (S. 506—512), und was dort über den 
Umſchwung der Lebendgewohnheiten, die Entfaltung von Kapitalismus 
und Proletariat, die Enteignung des Landvolfed gejagt wird, ift 
wuchtig und eindrudsvoll, aber man fpürt leicht, daß es weder land» 


1) Bgl. 3.8. Schmoller, Kleingewerbe ©. 82. 











818 Literaturbericht. 


bewegte Leben der Sturmjahre breit und anſchaulich umfaßte, die 
in „der ſtarken Perſönlichkeit des Erzählers“ den zerſplitterten Er⸗ 
eigniſſen die erforderliche Einheit verliehe und die nothwendige troit- 
loſe Unfruchtbarkeit der zwifchen der Paulskirche und einem Friedrich 
Wilhelm IV. Hin- und bergetriebenen nationalen Beftrebungen nicht 
nur ftreng nachwieje, jondern zugleich durch die reiche Kraft ihrer 
Daritellung fünftlerifchy überwände Nur T. kann uns diefe Geſchichte 
geben. Die Fortjegung feines Werkes, die Kleiner erſetzen fünnte, iſt 
und, wenn man es fagen darf, faft noch wichtiger, als was wir 
bereit3 von ihm befigen. Erich Marcks. 


Chartularium universitatis Parisiensis sub auspiciis consilii gene- 
ralis facultatum Parisiensium ex diversis bibliothecis tabulariisque 
collegit cum authenticis chartis contulit, notisque illustravit Hearicas 
Denifle, Ö. P., in arch. apost. sed. Rom. vicarius, acad. Vindob. et 
Berol. socius, auxiliante Aemilio Chatelaln, biblioth. universit. in 
Sorbona conservatore adiuncto. Tomus III ab anno MCCCL usque 
ad ann. MCCCLXXXIV. Parisiis 189%. XXXVII, 777. Großaquart. 

Auctarium chartularii univers. Parisiensis... ediderunt Henricus 
Denifie..., Aemilius Chatelain. Tom. I. Liber procuratorum nationis 
Anglicanae (Alemanniae) ab anno MCCCXXXIH usque ad annum 
MCCCCVI. Parisiis 1894. LXXVII, 992 &. (Spalten). Großquart. 

Sınmer reicher entfaltet jich die wiſſenſchaftliche Thätigfeit auf 
den Gebiete der Geſchichte gelehrter Bildung und der Univerjitäten. 
Zahlreihen Matrikelveröffentlihungen reihen ſich die Publikationen 
anderer Iniverjitätdaften und der Univerjitätdurfunden an, fo dab 
unfere Kenntnis von der Berfafjung und dem Beſuche der Univerfitäten 
des Mittelalter8 beträchtlihe Bereicherung erfährt. ine der bes 
deutendjten dieſer Publikationen, das Urkundenbuch der Univerfität 
Paris, des in Deutſchland in Mittelalter allein „hohe ſchuole“ ges 
nannten studium generale, hat legthin einen gewaltigen und wichtigen 
Schritt vorwärts gethan. Bon dem im Jahre 1889 begonnenen großen 
Unternehmen find im vorigen Sahre zwei Bände erſchienen. Nach— 
den: der erite Band, außer einer pars introductoria (von 1163 an) 
in 55 Nummern, die Urkunden von 1200 bis 1286 in 530 Nummern 
gebracht hatte, und die erjte Hälfte des 2. Bandes, die den Zeitraum 
bi8 zum 21. Auguſt 1350 umfaßt, dem erjten im Jahre 1891 gefolgt 
war, wurde die Reihenfolge unterbrochen und Die zmeite Hälfte des 
2. Bandes, die die collegia saecularia von 1286 bis 1350 enthalten 
jollte, für jest zurücdgelegt, um al8bald den 3. Band, der die wichtige 











822 Riteraturberidht. 


einer Bejprechung der Acta nationis Germanicae universitatis 
Bononiensis (Berlin, Reimer, 1887) aus. Nun, dieſer Wunſch üt 
überreih erfüllt, wennſchon das Pariſer Prokuratorenbuch der Artiften 
einen anderen Charalter hat, als jene drei Jahrhunderte umfafjenden 
Bolognejer Alten. Der vorliegende Band umfaßt die Jahre 1333 
bi8 1406, zwei andere follen bis zum Jahre 1492 reihen, und dann 
follen die Profuratorenbücder der natio Gallicana und der natio 
Picardorum folgen, die einzigen, die außer dem Buche der deutſchen 
Nation erhalten find, aber nur Theile ded 15. Jahrhunderts ent⸗ 
halten. — Die Ausgabe beginnt mit den Memorabilia nationis, 
einer umfangreichen Einleitung der Herausgeber, die in 16 Kapiteln 
den Inhalt des Bandes zuſammenfaßt und zuerit von dem Namen und 
den Siegel der Nation handelt. Im Yahre 1367 fommt für die natio 
Anglicana zum erſten Male der Name der natio Alemanniae vor und 
gewinnt immer mehr Verbreitung, bis er 1442 fait gänzli an die 
Stelle des alten tritt. Mit der Beichreibung ded großen Nationds 
fiegeld fünnen wir und nicht völlig einverjtanden erklären, denn es 
fcheint nicht zmeifello8 zu fein, daß die im oberen Abjchnitte dar⸗ 
geitellten Figuren wirklich den die Jungfrau Maria frönenden Chriſtus 
bezeichnen. Die Memorabilia zählen jodann die Länder auf, aus 
denen die Nationdgenofjen ftanımen: das Neich, Ungarn, Böhmen, 
Polen, Schweden, Dänemark, Norwegen, Schottland, England, Irland, 
YAquileja und Livland, die nah) Kap. 3 eigene Provinzen innerhalb 
der Nation bildeten. Kap. 4 zeigt, wer Mitglied der Nation war, 
nämlich) die Artijten, und zwar in der Regel jo lange, bis fie einen 
Grad in einer anderen Fakultät erreichten, un theologien est de 
la faculte des arts, jusqu’& ce quil ait le bonnet sur la teste 
(1406); die einem Möndsorden angehörten, waren nicht in der 
Nation. 14 Jahre mußten diejenigen alt fein, die Baccalare wurden, 
die magistri 21; viele jedoch waren beträchtlich älter, manche blieben 
jehr lange in der Nation, jo 3. B. Konrad von Rutershoven länger 
als 35 Jahre. Nachden wir dann die Profuratoren, Rektoren, 
Eraninatoren und Pedelle ald Beamte der Nation und deren Ges 
bäude, die scholae, fennen gelernt haben, erklärt der folgende Ab- 
ichnitt (7) die Bezeichnungen für die Öraduirten in der Artiſten⸗ 
tafultät, determinantes: die nad vollendeten Baccalareramen die 
putirt und die dabei aufgeworfenen ragen endgültig entjchieden, 
determinirt, haben; licentiati: die den nächſt höheren Grad erlangt 
haben, und die incipientes: die die erſte Magifterleftion lefen. Nach⸗ 





324 Literaturbericht. 


bringende Thätigkeit. Die Geſellſchaft wird jenen ſonderbaren hiſto⸗ 
riſchen Geiſt von ſich fernzuhalten wiſſen, der in dem neuen Buche 
des Herrn Joſeph Reinach, La France et l’Italie devant l’histoire?), 
fein Weſen treibt. Hier lefen wir: Die anderen Böller haben Stalien 
gegenüber als Eroberer, al3 Unterdrüder im politiiden und geiftigen 
Sinn, gehandelt. Frankreich dagegen jah in Ktalien ftet3 das Vater⸗ 
land des antifen Rom, ja gewifiermaßen une soeur latine. Chaque 
fois, que l’äme de l’Italie s’endort, c’est la France qui la reveille. 
Frankreich begeht nur den Fehler, daß e8 die Hoffnungen der Staliener, 
die ed erweckt, nie ganz erfüllt, jondern auf halbem Wege ftehen bleibt. 
Man würde fi) nicht wundern, wenn der franzöfiihe Autor feinen 
Sag für die Entwidlung der letzten 100 Sahre, jeit Bonaparte, auf- 
geitellt hätte; man würde auch nicht ohne Intereſſe feinen Ausführs 
ungen über die franzöfiich- italienische Politit im 17. und 18. Jahr⸗ 
hundert folgen. Uber fein Sat ſoll gelten von den älteften Beiten, 
ſeit es Franzoſen gibt, feit Karl dem Großen (!), von dem die Idee 
der Italia una e libera jtamınt.?) Sch denke mir, daß jeder ſach⸗ 
fundige Franzoſe die fünf eriten Kapitel des Reinach'ſchen Buches 
nur mit Ropffchütteln lefen wird. 

Die Geſchichte der franzöfiihen Anſprüche auf italieniſche Throne 
iit befannt genug. Wenige dagegen willen, daß um die Mitte bes 
14. Jahrhunderts ein Italiener Anſpruch auf die Krone von Frank—⸗ 
rei erhob. Der nacgeborene Sohn des drittlegten Capetingers, 
Ludwig's X., ſoll von einigen treuen Hofleuten vor den Nadjitellungen 
der Gräfin von Artois dadurd) gerettet worden fein, daß man 
ihn mit dem Kinde eines Guccio Baglioni aus Siena vertaufchte. 
Der Prinz wuchs in Siena in der Verborgenpeit auf, ward dann 
entdedt, von manchen, fo vom Tribunen Cola Nienzi, anerfannt und 
endigte nach einem abenteuerlichen Leben in der Gefangenjchait des 
Königs von Neapel. Diefe Kaſpar Haufer-Gejchichte ift in einer an- 
geblich von dem Prätendenten ſelbſt verfaßten Schrift niedergelegt. Seit 
längerer Zeit unterfuchte Curzio Mazzi die Überlieferung ihres Textes 
und ihre hiſtoriſche Glaubwürdigkeit, veröffentlichte aber bis jet nur 
ein kleines Bruchſtück aus derjelben nebit einigen fulturgefchichtlichen 


1) Bari, F. Alcan. 1893. 244 ©. 

», TI a donc fait de l’Italie un royaume, sinon autonome, du 
moins independant.... Ainsi, pour la premiere fois dans l’histoire, 
apparait l’idee qui sera celle de l’unite de !'Italie, maltresse d’elle-m&me. 





326 Literaturbericht. 


beſonderen Dank der Hiſtoriker verdient, indem er die drei proven⸗ 
zaliſchen Gedichte zum erſten Mal kritiſch herausgab, überſetzte und 
äußerft ſorgfältig kommentirte.) Als Beilage gibt er eine kultur⸗ 
geſchichtlich werthvolle Zufammenftellung über die Beziehungen der 
Meontferrat und Malajpina zu den Troubadours, dazu Geſchlechté⸗ 
tafeln der beiden fürftlichen Yamilien. Der Werth diefer Publikation 
bleibt beitehen, wenn aud die chronologifche Firirung der drei Briefe, 
wie fie der Bf. im 1. Kapitel unternimmt, fi” wohl nur theilweife 
halten läßt. Nach feiner Unficht find es drei verjchiedene Gedichte, 
von denen das eine vor Auguft 1194 in Oberitalien, die anderen 1204 
und 1205 im Orient entftanden. Dagegen hat kürzlich R. Zenter?) mit 
guten Gründen eine andere Auffaſſung verjuchten, wonach die drei 
Tiraden ein einheitliche8 Ganze bilden und gleichzeitig im Jahre 1205 
verfaßt ſind. 

Man hat e8 dem ritterlichen Charakter de Markgrafen Bonifaz 
immer zur Ehre angerechnet, daß er die Vormundfchaft über feinen 
jungen Verwandten Thomas I. von Savoyen, die ihm deſſen Vater 
Humbert III. übergab, nicht zur Vergrößerung feiner eigenen Macht 
benußte, ſondern feinem Schützling Half, die gefährdete Etellung 
jeine8 Hauſes wieder zu retten. Zur Mündigkeit gelangt, bat dann 
Graf Thomas eigene Wege eingejchlagen und im engen Anſchluß an 
die Faiferlicde Politif eine feine Nachbarn weit überragende Höhe er- 
reiht. Die Gejhichte diefer Regierung (1189—1233) und derjenigen 
feines Nachfolger bis zum Jahre 1263 erzählt C. Alberto di Ger- 
bair-Sonnaz.?) Ter 1. Band des Werkes ijt bereit 1883 erichienen 
(vgl. 9. 3. 52, 557 f.). Ter und vorliegende 2. Band theilt Die 
Vorzüge des 1., hat aber die Mängel desſelben in nody höherem 
Grade. Die deutjche Literatur der legten zehn Jahre ift überhaupt 
nicht benußt. Man wird dies freilich dem verdienten Verfajler, der 
jeit langer Zeit als diplomatiicher Vertreter Staliend in Sofia den 
Centren abendländiſcher Wiſſenſchaft entrüdt ift, nicht zu hoch anrechnen. 





1) Die Briefe des Zrobadord NRaimbaut de Baqueirad an Bonifaz L, 
Markgrafen von Monferrat. Hallea.©., M. Niemeyer. 1893. VIIL 140 ©. 
Ein volljtändiges Namendverzeihnis und 5 Kartenſtizzen find beigefügt. 

2) Bu den Briefen des Raimbaut de Vaqueiras, Zeitichr. j. Rom. Philol 
18 (1894), ©. 195 fi. 

2) Studi storici sul Contado di Savoia e Marchesato in Italia 
per C. Alberto di Gerbaix-Sonnaz di St. Romain. Vol. DI. Torino- 
Roma, L. Roux e C. 1893. VII, 355 S. 











330 Riteraturberidtt. 


Epoche liegen, da Franz von Aſſiſi das geiftige Leben feines Volkes 
mit einen tieferen Inhalt erfüllte. 

Seine Wirkung lag mejentli in der Perfönlichleit. Schon vor 
ibm und vor Waldes Hatten Arnold von Brescia und die Batarener 
da8 Wort von der „armen Nachfolge Chriſti“ ausgeſprochen. Es 
war fon ein Schlagwort im Munde jener politiihen Parteien 
gewejen, die unmittelbaren Untheil haben an den fommunalen An« 
fängen von Mailand und Rom. 

Den fchon jo oft dargeitellten Anfängen der fommunalen Selbft- 
jtändigfeit in diejen beiden Städten hat Biufeppe Paolucci eine neue 
Unterfuchung gewidmet.) Er hofit auf diefem Wege den Schlüfiel 
zu finden zur Frage des Urſprungs der italienischen Kommunen über: 
haupt. Denn Mailand und Rom gelten ihm als die beiden Typen 
de8 urjprünglichen fommunalen Lebens, eine Aufjajlung, gegen die 
fih mandes einwenden läßt. Im erften Theil, l’origine del comune 
di Milano, führt der Vf. eine ſchon früher?) von ihn dvorgetragene 
Anſicht über die Entjtehung des Comune von Mailand weiter aus 
und begründet fie durd) jorgfältige Interpretation der drei Mailänder 
Chroniſten. Dabei jegt er ji in zum Theil jcharfer Polemik mit 
feinen Vorgängern auseinander, von Giulini, Leo und Segel bis 
Pawinsky und Anemüller.?) Über die legte zufammenhängende Lars 
jtellung de3 Gegenjtandes durch R. Bonfadinit) geht er kurziveg zur 
Tagesordnung. Paolucci zeigt, wie in den Kämpfen der Pataria 
das Volk gegenüber dem Adel, der die fimoniftifchen Priefter befchügt, 
eritarkt, wie es die Edlen allmählich dur fein Gewicht, feine Zahl. 
die Verbreitung der neuen Ideen erdrüdt. Leider verjagen die 
Quellen gerade für die fritiichen Jahre, in denen der zuerft faiferlid 
gefinnte Erzbifhof Anfelno da Rode und der größere Theil dei 
Adels ji) vor der Bürgerfchajt demüthigte. Aber es läßt fich doch 
erlennen, wie aus einer ungeordneten Volksregierung, deren 
der Erzbifchof ift, nach zwei vergeblihen Anläufen, endlich 1114 das 
durd) die Volksverſammlung dargeitellte Comune jich bildet, und bald 
darauf, jedenfall vor März 1117, in den Konfuln ſich eine regelmäßige 


1) L’origine dei comuni di Milano e di Roma (secolo XI e XI). 
Palermo-Torino, C. Clausen. 1892. VI, 205 ©. 

?) Storia d'Italia dalla caduta dell’ Impero Romano. Vol L 
Palermo 1889. ©. 148, 

*) Ich vermijje unter den angeführten Arbeiten die von Handloile 

*) Le origini del comune di Milano, in: Gli Albori della vita 
italiana. Milano, Frat. Treves. 18%. ©. 117 ff. 





W Literaturbericht. 


werden mitgetheilt, freilich nicht — was wenigſtens bei den älteren 
wunſchenswerth geweſen wäre — im Originaltexte, ſondern durch 
uͤderſichtliche Inhaltsangaben in franzöſiſcher Sprache. Kurze hiſtoriſche 
Einleitungen gehen jeweils voraus. Un der Spitze des Ganzen ſteht 
eine ſehr gut geſchriebene Abhandlung, die über die Lage der Arbeit 
in Rom, die Borgeijhichte!) und Geſchichte der Genoſſenſchaften, 
idre adminiftrative und fiskaliſche Abhängigkeit, den Charakter ber 
Statuten im allgemeinen orientirt. Das Werk ift eine Yundgrube 
für die innere Geſchichte Roms vom 13. bi8 zur Schwelle des 
19. Jahrhunderts. — Ein werthvolles bibliographijche® Hülfsmittel 
der gejammten römischen Lofalgefhichte im Mittelalter und der Neu- 
zeit bietet jich jeßt in dem Werke, dad aus dem Nachlaß Francesco 
Serroti’8 (f 1887) mit Zuſätzen von Enrico Celani herausgegeben 
wird. Der erfchienene 1. Band?) enthält die Storia ecclesiastico- 
eivile, unter welchem Zitel die Geſchichte der Kirche im allgemeinen, 
die der religiöjen Körperichaften, des Papſtthums und der einzelnen 
Räpfte, der Konklaven und endlid) der Corte e curia zujammen- 
geraßt find. Abſolute Bollftändigleit Tann von einer derartigen 
Bibliographie billigerweife nicht erwartet werden. 

Dean bat im Auflommen des Konſulats das äußere Zeichen der 
„italieniihen Städtefreiheit“ gejehen und demnach auch den Urfprung 
jener Snititution da gejucht, wo eine freiheitlihe kommunale Ente 
widlung ſich darbot, d.h. in Toskana und Oberitalien. Umſo anf 
fallender war die Behauptung Hand v. Kap-herr’3°), daß dad Kon⸗ 
julat in Süditalien — in byzantinischen Einrichtungen wurzle 
(Meerestonjulat), Nachdem dann zunädft Robert Davidfohn von 


1) Die Worte des Titels depuis la chute de l’empire romain 
erweden falſche Hoffnungen. Über die Entwidlung vor 1265 erfahren wir 
nicht® neued. Der Bf. hätte aus den Bemerkungen von Üremer in ben 
Bött. Gel. Anz. 1892 ©. 724 fi. und Kehr in dieſer Zeitſchr. 71,158 Fi. 
Nugen ziehen können. 

*) Bibliografia di Roma medievale e moderna, opera postuma di 
Francesco Cerroti accresciuta a cura di Enrico Celani. Vol. L Storia 
ecclesiastico-civile.e Roma, Forzani e C. 1893. XI ©. u. 604 Sp. — 
Zwei weitere Bände follen zum Gegenftand haben: La topografis, la storis 
artistica e i monumenti, ber 4.: La storia civile e municipale e la 
storia fisica del suolo, del Tevere e della Campagna romana. 

2) Bajulus, Podestä, Consules in: Deutih. Ztihr. f. Geſchichtswiſſ. 
5 (1891), 21 fi. 





334 Literaturbericht. 


Früher als die Meereskonſuln, ſchon um die Mitte des 12. Jahr⸗ 
hunderts, treten neben den Consules communis die consules merce- 
torum auf. Die Entwidlung dieſes Amtes in Piſa unterſucht Schaube 
in einer weiteren Abhandlung !), anfnüpfend an eine Urkunde von 
1159. Zunächſt ift e8 ein Staatdamt und, wie dad Meerkonſulat, 
in Händen der Wriftofratie, feine Aufgabe die Überwachung des 
Handelsverkehrs, zumal auch der großen Piſaner Meſſe. Aber die 
Mercatores erringen jchließlih (1190? 1200?) das Recht der freien 
Konfulmahl; die richterlihe Kompetenz ihrer Konfuln wird erweitert, 
ihr Ordo fommt an Bedeutung dem Ordo maris nahe. 

Nur dadurch, daß ſolche Kollegien von unbedingt fachverftändigen 
Männern über die faufmännifhe Standedehre wachten, daß das 
Gemwohnbeitöreht von den Zunftgenofien ftreng gewahrt wurde, ift 
in diefen Zeiten der Öffentlichen Unjicherheit ein ausgebehnter Handeld 
verkehr möglich gewefen. Hefte Handelsgejellichaften, auf längeren 
Zeitraum zum Betrieb bejtimmter Geſchäfte gegründet, finden ſich 
fhon im 13. Jahrhundert (Gerdi, Bardi). Ein Theil der socü 
vertrat die Intereſſen der Gejellihaft an auswärtigen Plätzen. Man 
begreift, daß in dem fo ſich entwidelnden Verkehr das bequeme 
Zahlungsmittel der Tratte (lettera di pagamento) raſche Verbreitung 
fand. Sie ift aus der regelmäßigen kaufmänniſchen Korrefpondenz 
naturgemäß erwachſen. Schon 1291 herrſcht ein lebhafter Tratten 
verkehr zwiſchen Zlorenz, Rom, England und den Champagner 
Meſſen. Schaube?) ift zu der Anficht gelangt, daß die Rechtsgültig⸗ 
feit diefer privaten Zahlungsbriefe bereitd im 13. Jahrhundert an- 
erfannt worden jei, während Goldſchmidt dies erft für das 14. an 
genommen hat. Bei diefer Entwidlung fchreitet Florenz, Toskana, 
voran. In dem bier herrjchenden ungemein Iebhaften ®eldverfehr 
bildet ji) der Gebrauch des Wecjjelbriefd und zugleich die Stellung 
der vereidigten Makler am jchnelliten aus, während an andern Orten, 
3. B. in Genua, nod) die umjtändlide Mitwirkung des Rotars beim 
Wechſelgeſchäft üblich ijt. Ein ähnliches Verhältnid beobachtet Schaube 
auf einem anderen für die Gefchichte ded Handeld- und Seeverkehrs 
wichtigen Gebiete, dem des Verſicherungsweſens.) Die Genueien 





1) Die pijanifhen Consules mercatorum im 12. Jahrhundert. Jtfcr. 
f. Handelsrecht 41 (1893), 2 fi. 

») Einige Beobadjtungen zur Entjtehungsgeichichte der Tratte. Ziſcht. 
der Savigny-Etiftg. f. Rechtsgeſch. 14, 1 1893 (germ. Abtb.), 111 ff. 

3) Der Übergang vom Berjicherungsdarlehn zur reinen Verſicherung 
Jahrbücher j. Nationalötonomie u. Statijtit 61 (3. 3. 6, 1898), 481 fi. 





336 Literaturbericht. 


noch heute in großem Anſehen ſtehenden Kreditinſtituts ift hier mit 
umfafjender Benußung der jienefer Archive von Narcijo Mengozzi in 
vier großen Duartbänden bearbeitet. Dean hat das Thema möglich 
weit gefaßt. Den Ausgangdpunft bildet nidht die Gründung bes 
Monte pio und de8 Monte dei Paschi von 1569 und 1624. Ver 
ganze 1. Band tft vielmehr der Vorgeſchichte von 1200 bis 1555 
gewidmet und enthält zahlreihe Mittheilungen von allgemeinen 
Intereſſe über den ältejten Betrieb des Bankgeſchäfts in Siena, die 
Stellung der Juden, S. Bernardino, die finanziellen Beftrebungen 
der Stadt, ihre Schuldenverwaltung und ihre erjten öffentlichen 
Kreditinftitute. In diefen Zufammenhang werden und auch bie 
politiihen Wandlungen deutlicher, die Siena bid zum Sturze der 
Republik durchlebt Hat. 

Viel früher als die Städte Toskana haben die norditalienijchen 
ihre Freiheit verloren. Schon glei) nad Beginn de 13. Zahır 
hunderts bereitete jich im öſtlichen Oberitalien die Tyrannis vor. 
Die inneren Kämpfe in Verona haben dazu am meisten beigetragen. 
Unſere Vorſtellung von den Veronejer PBarteiverhältniffen, wie fie tih 
in den ziwanziger Jahren des genannten Jahrhunderts geitalteten, it 
eine wenig flare. Auch Walter Lenel vermag in feinen „Studien 
zur Gefhichte Paduas und Veronas im 13. Jahrhundert“ ?) den 
Schleier nicht völlig zu heben. Immerhin gibt er eine fehr am 
nehmbare neue Erklärung für die Partei der „Vierundzwanzig“, in 
denen man biöher eine Vertretung der Popolanen gejehen hat. Er 
identifizirt fie nämlich mit jenen Adeligen, die laut Bericht der Vero⸗ 
nejer und Baduaner Quellen im Jahre 1225 vom Grafen von 
S. Bonifazio abfielen und mit deſſen Feinden, den Montecdıi, 
gemeinfame Sadye machten. Der Graf wurde verjagt, Ezzelin IIL der 
Weg zur Madıt gebahnt. In den folgenden Wirren hat nad L. die 
lombardijche Liga eine vorfichtige Vermittelungspolitif eingehalten, 
die in der Gründung ded „Sonderbunds“ von 1231 gipjelt, ſchließ⸗ 
lich aber den Übertritt Ezzelin's und damit Veronad zum Kaijer 
nicht verhindern fann. — Ber Schwerpunft liegt im erjten Theil 
1891. 11 u. 310 S. Vol. U: Ricostituzione dei monti di Piotà e dei 
Paschi (1555 —1624). Ebenda. 1891. 10 u. 823 S. Vol. III: I monti 
dei Paschi e di Pieta riuniti (1624—1642). Ebenda. 1892. 6u. WTE. 
Vol. IV: I monti di Pieta e dei Paschi, espansione lenta e laborioss 
della loro attivitä (1643—1787,. Ebenda. 1898. 10 u. 544 ©. 

1, Straßburg, Karl J. Trübner. 1893. IV, 86 ©. 





338 Literaturbericht. 


Faba!) geben Zeugnis von der Betriebſamkeit, Die bei den Vertretern 
dieſes Baches herrſchte. Sie find uns zugleich werthvolle Urkumden 
der Rulturgefchichte im meiteften Sinne. Carl Sutter. 


Lettere e documenti del Barone Bettino Ricasoli, pubblicati 
per cura di Marco Tabarrini e Aurelio Gotti. Vol. VIII. Firenze, 
Successori Le Monnier. 1893. 


Der neue Band der Sammlung -von Ricaſoli's amtlicher und 
privater Korreſpondenz begreift die kurze, aber inhaltvolle Zeit vom 
Suni bis Oftober 1866, vom Ausbruch des Krieg bis zum end 
lihen Friedensſchluß. Mit dem Zage der Striegderklärung war 
Ricafoli, ald Mann bes allgemeinen Vertrauens, wieder an die Spipe 
der Regierung getreten. Die preußiſche Allianz war das Werk der 
vorigen Regierung geweſen, wir erfahren über fie nichts Neues, wie 
denn auch die widhtigiten der in diefem Bande mitgetheilten Brieie 
und Depejchen bereitd früher gedrudt find. Dies gilt namentlid 
von dem lehrreichen Berichte des Gejandten Nigra an den Prinzen 
von SavoyensCarignan dom 23. Juni, der die Beweggründe ber 
Bolitif Napoleon’d mit wünjchenswertheiter Deutlichleit im Zufammer 
bang entwidelt, und von dem Briefe Ricafoli’d an Nigra vom 9. Zuli, 
worin die Verlodung Napoleon’3 zum Treubruch, zum Abjall vom 
preußifchen Bündnis in den entjchiedenften Uusdrüden als ehr: und 
treuwidrig zurüdgewiejen wird. Die perfetta solidarietä fra i due 
governi alleati blieb unverrüdbar die Richtſchnur feiner Politik 
Leider iſt die Korreſpondenz von preußifcher Seite ſehr lüdenhait 
mitgetheilt, während dad Verhältnis zu Frankreich fi von Tag zu 
Tag verfolgen läßt. Es war dod nidht bloß moraliihe Gewiſſer⸗ 
baftigkeit, wenn Nicafoli die öſterreichiſch-franzöſiſche Lodung zurüd⸗ 
wies; es wirkten jtarfe politiide Gründe mit. Sein patriotijcher 
Stolz empfand die Zumuthungen des franzöfiichen Protektors, unter 
defien Aujpizien auch das preußifche Bündnis abgefchlojfen worden 
war, auf unmuthigfte, er hoffte mitteljt des Kriegs die Befreiung 
von diejen drücdenden Feſſeln; auch konnte ed nicht im Intereſſe 
Italiens jein, felbjt wenn ihm Venetien jicher war, durch Rücktritt 


Aulturgefhichte im 13. Jahrhundert. Freiburg i. Br. und Leipzig, Alad 
Verlagsbudhhandl. von J. C. B. Mohr (Paul Siebed!. 189. 128 ©. 

ı Agofto Gaudenzi veröffenılichte im Propugnatore, N. S. IH (18%; 
1, 287 fi., 2, 345 ff. die Summa dictaminis; ebenda V (1892) 1, 86 fl, 
2,58if.: Dietamina rhetorica; ebenda VI(1893) 1,869 ff; 2, 373 fj.: Epistole. 

















344 Literaturbericht. 


verſtändlich; doch beſchränken ſie ſich diesmal auf ein Minimum; ſo 
etwa ©. 121 Zuminghen für Zumjungen, oder ©. 123 Brunius für 
Bruyninx. Trot aller biefer Einwände und Bemerkungen ift das Bud) 
intereflant und auch gut gefchrieben. Bf. verwendet mit Glüd An⸗ 
fpielungen auf moderne engliihe Verhältniſſe zur Belebung der Dar 
itellung und weiß dort, wo ihm der Stoff nicht über den Kopf wächſt, 
vortrefflid) zu jchildern. Ein gutes Regiſter fehlt ebenfalls nicht. 
O. Weber. 


Maria Joſepha Amalia, Herzogin zu Sadfen, Königin von Epanien. 
Bon Konrad Haebler. Dresden, W. Baenſch. 1892. 

Eine im Jahre 1889 in Begleitung des fächfifchen Prinzen 
Friedrich Auguft unternommene Reife nad) Spanien hat dem Bi. 
Unlaß und Gelegenheit gegeben, Materialien zu einem Leben3bilde 
der früh veritorbenen dritten Gemahlin Ferdinand’8 VII. von Spanien 
zu fammeln, dad zugleih Anſpruch darauf erhebt, ein Beitrag zur 
Geſchichte Spaniens unter der Regierung diejed Königs zu fein und 
die parteilich entitellte Gefchichte der jpanifchen Revolution in manchen 
Theilen zu berichtigen. Die Schilderung, weldye H. von dem Charalter 
Ferdinand's VI. entivirft, ift weit günftiger als die bei Baumgarten 
und Anderen; bejonderd hebt er deſſen Harmloſigkeit hervor und 
fchiebt alle Schattenfeiten desfelben auf die verderbliden Einflüfie, 
die in der Jugend auf ihn eingewirft Hatten. Jedenfalls erweiſt 
ſich aus den Briefen wie aus den in fpanifcher Sprahe an ihren 
Gemahl gerichteten Gedichten der jungen Königin die Angabe, als 
ob die Königin Joſepha an feiner Seite ein freudlofes, unglüdliches 
Leben geführt habe, als irrtHümlih. Kann auch von einem bemwußten 
Streben nach politiihem Einfluß bei ihr nicht die Rede fein, fo hat 
jie doch, befonder8 dur die Oppojition, welche jie der Camarilla 
machte, einen heilfanıen Einfluß auf das Regierungsiyitem ausgeübt, 
der freilich weder tief noch dauernd geweſen fein fann, da bie 
Schreckniſſe der Revolution ihre an ſich zarte Geſundheit erfchütterten 
und ihren Tod beichleunigten. Th. Flathe. 


Die Jeſuiten-Republik in Paraguay, eine Pombal'ſche Lügenfcrift. — 
Kurge Nahricht von der NRepublique, jo von denen R. R. P. P. der Gefell- 
haft Jeſu.... aufgerichtet worden... . Herausgegeben von Dr. H. Baum 
gartner. Wiener Neuftadt, Selbftverlag de8 Herausgebers. 1892. 107 ©. 


Ref. muß gejtehen, daß er nicht im Stande war, irgend eine 
Ausgabe des Originald der vorliegenden Ylugfchrift oder aud nm 





846 Riteraturberidt. 


Bedeutung haben, welche ihnen der Vf. in dem Titel feined Buches 
beizulegen jcheint. Nicht ebenfo gelungen ift der andere, gefchichtlid 
weit interefjantere Theil der Arbeit, die Biographie des Jacques be 
Rinierd. Sch bin erftaunt gewefen, daß der Vf. unter feinen Quellen 
gerade dasjenige Werk nicht aufführt, welches am eingehendften und 
gründlichften unter Benutzung eines noch weit reicheren Materials, 
als ed dem Bf. vorgelegen, die Geichichte der Regierung des Liniers 
und des Ubfalle8 von Bueno3-Ayres behandelt. Es ift dies die In- 
troduccion der Historia de la Republica Argentina von 8. 3. 
Lopez), worin allerdings ein wejentlid) anderes und minder günftiges 
Urtheil über Linierd gefällt wird Dadfelbe mag gewiß zu einem 
nicht geringen Theile von amerikanischer Selbftüberfhäßung beeinflußt 
fein, immerhin aber bleibt es bedauerlih, daß der Bf. zu der dort 
niedergelegten Auffafjung nicht Stellung genommen bat, um fo mehr, 
als Lopez die Vorgänge, weldye unter der Verwaltung von Liniers 
die Losreißung Argentiniens vorbereiteten, noch von mandyen Stand 
punkten aus beleuchtet, die dem Bf. entgangen zu fein ſcheinen. Frei⸗ 
li ift die Arbeit von Lopez felbit in der gelehrten Welt jo wenig 
befannt, ihre Lektüre jchon wegen ihre3 Umfanges jo wenig bequem, 
daß dem Bf. das Verdienſt nicht bejtritten werden fann, die Perſön⸗ 
lichkeit diefe8 Franzoſen in ſpaniſchen Dienjten weiteren Streifen be 
fannt gemadt zn haben; die Wiſſenſchaft dagegen kann nicht umhin, 
zu beflagen, daß die von Lopez entworfene Charakteriſtik durchaus 
nicht widerlegt und ein abjchliegendes Bild diefer interefjanten Per: 
ſönlichkeit noch immer nicht gewonnen ift. Haebler. 


Die Kunftdenfmale ded Königreich Baiern vom 11. 618 zum Ende dei 
18. Jahrhunderts. WBeichrieben und aufgenommen im Auftrage des gl. 
Staatsminifterium® des Innern für Kirhene und Schulangelegenheiten. 
1. Band: Die Kunftdentmale des Regierungsdbezirtes Oberbaiern. Bearbeitet 
von Guſtav v. Bezold und Dr. Berthold Riehl unter Mitwirtung anderer 
Gelehrter und Künftler Mit einem Atlas von 150—170 Lichtdruck md 
Photogravuretafeln. Lieferung 1.) Münden, of. Albert. 1892. 


Bon dem 1. Bande dieje auf eine Reihe von Tertbänden und 
Atlanten zu berechnenden Werles liegen dem Ref. nur drei Bogen 
und zehn Abbildungstafeln vor. Sie geben nad) einer kurzen Ein 
leitung, welche den Plan entwidelt und über die oberbaierifche Kunfi 


1) Buenod:Ayres 1888. 2 Bde. . 
2) Inzwiſchen find auch die Lieferungen 2—9 erfchienen. 





Notizen nnd Nachrichten. 


J 


Die Herren Verfaſſer erſuchen wir, Sonderabzäge ihrer in 
Seitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle 
berüdfichtigt wünfchen, uns freundlichfi einzufenden. 

Die Hedaltien. 


Allgemeines. 


Eine interejjante Zeitihrift verfpreden die „Biographiſchen 
Blätter”, herausg. von A. Bettelheim (Berlin, E. Hofmann u. &o.), zu 
werden, deren beide erfte Hefte uns vorliegen. Ein Efiay von U. Dove 
über „Ranfe’8 Verhältnis zur Biographie“ in der befannten 
etwas pretiöfen aber immer geijtvollen Weiſe des Verfafſers leitet bie 
mit den Jahren zunehmende Wbneigung Ranke's gegen biographiide 
Behandlungsmweife ſehr feinfinnig einerfeit8 au8 feiner Scheu vor dem 
geheimnisvollen und unbemwußten Leben des Individuums, das mur 
dem Dichter, aber nicht dem Forſcher ſich ganz öffne, ab und andrer⸗ 
jeit8 aus feinem Charakterzuge, die ganze individuelle Kraft einzujegen 
in der Betrachtung der hiſtoriſchen Welt, ein Charalterzug, der noth⸗ 
wendig zurüdwirten mußte auf die Art, wie er jene betradtete. Der 
jlahe Aufjag Ludwig Stein's, Zur Methodenlehre der Biographil, macht 
an ſich jelbit jein Wort recht zur Wahrheit: „Vielfach iſt es ja nur das 
geiitige Milieu, das im Philoſophen ala feinem typiihen Nepräfentanten 
denkt.” Wir erwähnen noh A. E. Schönbach's Aufſatz „Über ben bi» 
graphiihen Gehalt des altdeutihen Minnefanges“ (ijt geneigt, ihn nament- 
ih für die Frühzeit höher zu ſchätzen, wo der Minnefang, wie er meint, 
wejentlic von Minifterialen gepflegt wurde); einen für die Geſchichte ber 
Aufllärungsideen in ſterreich ganz interejianten Entwurf Joſef Schrey⸗ 
vogel's zu einer Wiener Hof- und Staatäzeitung (1796); eine Rede auf 
Sceffel von 3. Bernays und einen jehr anziehenden Nachruf ©. F. 
Knapp’? auf Georg Hanjien. Das zweite Heft enthält eine warm 





350 Notizen und Nachrichten. 


Unter dem Titel Bibliotheca geographica tft der 1. Band 
einer neuen Publikation erfchienen, die eine Überfiht über die auf dem 
Bebiete der Geographie erjchienenen Bücher, Aufjäbe und Karten gewähren 
fol, wie fie früher von der Gefellichaft für Erdkunde in Berlin im Anſchluß 
an ihre Zeitichrift gegeben wurde. Der Herausgeber O. Baſchin, Berlin W., 
Scintelplag 6, fordert zu Einjendung oder Namhaftmachung einichlägiger 
Arbeiter auf. 

Unter dem Titel: I campi Flegrei gibt 8. Annedino in 
Stalten eine neue tlluftrirte Tokalzeitfchrift, die der Geſchichte der Umgegend 
von Pozzuoli gewidmet ift, heraus. — Auch in Venedig erfcheint jeit kurzem 
eine neue Monatsſchrift: Nuove veglie veneziane (Preis jährlid 
12 Lire). — De Roſſi's Bullettino di archeologia cristiana wird fortgejeßt 
von feinem Bruder in Gemeinihaft mit E. Stevenfon und Dr. Marucdi 
unter bem Titel: Nuovo bullettino di archeologiacristiana 


In Madrid erfcheint feit März eine neue Monatsichrift: Historia 
y arte, beraußg. von Adolfo Herrera (Preis 35 Fres. jährlich). 


In Ehartres gibt der Kanonikus Mét ais unter dem Zitel: Archives 
historiques du dioc&se de Chartres eine neue, monatlih er 
jheinende Publikation heraus, die hauptſächlich zur Veröffentlichung de# 
betreffenden Urkundenmaterials beitimmt ijt (Preis jährlih 10 Fred.) 


Die Verlagsbuhhandlung von Leop. Voß in Hamburg hat das 1. Heft 
einer neuen Monateihrift „Die Handſchrift“ herausgegeben (Preis 
vierteljährlih 2 M.). Sie fol auch Hiltoriihe und kritiihe Beiträge zur 
Entwidlung der modernen Kurrentſchrift bringen. In der Hauptſache aber 
it e8 ein Irgan für die jog. moderne Graphologie. 


In jeinem Aprilheft 1895 Hat das Storrefpondenzblatt des Geſammt⸗ 
vereind 2c. eine neue Abtbeilung „Aus ben Mujeen“ eingerichtet, die, 
regelmäßig durchgeführt, eine nützliche Überficht über neue Funde zc. zu 
geben verjpridt. 


Zu der Frage: Brofefioren der Kulturgeihihte? nimmt nod 
K. Biedermann dad Wort in einem Heinen Artikel im Feuilleton der 
Nat.Ztg. vom 11. April, indem er jich zujtimmend zu dem Wunſche Stein 
hauſen's (vgl. 74, 527) äußert. Er madıt dafür beſonders geltend, daß 
neuerdings Schüler und Lehramtskan didaten in Kulturgeichichte geprüft 
würden, aljo au auf der Univerjität für den Unterricht in Kulturgefchidte 
gejorgt werden müſſe. Aber in den betreffenden Prüfungsreglements if 
doh nur eine auch die kulturgeſchichtliche Seite der Geſchichte berüd⸗ 
ſichtigende geſammtgeſchichtliche Behandlung gemeint, nicht ſpeziell „Kultur 
geſchichte“. 

In der Beilage der Münch. Allg. Ztg. vom 17. Mai gibt L. Wolf 
eine Beiprehung des Budes von C. Ammon: Tie Gejellichaftsorbunng 





352 Notizen und Nachrichten. 


In der Nähe der Liſcht-Pyramiden find von ben Franzofen Gautier 
und Jequier Ausgrabungen veranftaltet und namentlich eine Reihe von 
Statuen Ufurtefens I. gefunden. — Morgan hat in der Nähe der Dashur: 
Pyramiden eine Reihe fehr alter Maftabas (Gräber von Beamten 2c.), wahr 
ſcheinlich aus der 4. Dynaftte, aufgededt. Wbbildungen der neueren von 
ihm gefundenen Schmuditüde findet man im Graphic vom 4. Mai. Neben 
den großen Yunden De Morgan’8 bei Dashur find aud die von bem 
engliihen Egypt Exploration Fund bei Der el Bahri fortgefegten Aus: 
grabungen in der legten Saijon wieder ziemlich erfolgreich geweien. Der 
Zempel am Begräbnisplag der Königin Hatshepſu ift freigelegt und hat 
Architekturreſte und jonjtige Fundſtücke aus der 18. Dynaftte ergeben, darunter 
Nelieffrieg mit Darftellungen aus dem Leben und Lande des Königs vom 
Punt. Namentlih ift aber an derfelben Stelle auch ein ausgedehnter Be 
gräbnisplag aus fpäterer, koptiſcher Zeit (4. Jahrh. n. Chr.) gefunden, und 
auch aus diefer Zeit jind in den Särgen Papyrusrollen, Bronzen und 
Skulpturen zum Vorſchein gelommen. 


Ein hübſcher Artifel von &. Ebers in der Beilage der Münchenet 
Alg. tg. vom 29. März: „Wie das neue Ägypten gut madıt, was es en 
dein alten verſchuldet“, madt Mittheilung über den kürzlich erjchienenen 
1. Band der großen Yublifation, die auf Anregung De Morgan’d und unter 
Protektion des jegigen Chedive die Abbildungen ſämmtlicher noch erhaltenen 
(unbeweglihen) altägyptiſchen Denkmäler nebſt Inſchriften bringen ſoll 
(Catalogue des monuments et inscriptions de l'’Egypte antique). 
Zugleich gibt Verfaſſer eine Überjicht über die bisherigen großen ägyptiſchen 
Denfmälerpublitationen, die num durch da8 neue große Sammelwerk erjept 
werden jollen. 


Die Ztihr. für ägypt. Sprade und Alterthumskunde 32, 2 beginnt mit 
einem Nachruf für Brugſch von U. E(rman) und bringt dann eine nad» 
gelafjene Arbeit von Brugſch: Die Pithomitele (Publikation und Er: 
läuterung der Inſchrift). Im folgenden gibt 2. Borchardt eine Fortſetzung 
feiner Unterfuhungen „Zur Gejhichte der Byramiden“ (Bemerkungen über 
den Namen der dritten Pyramide bei Gizeh und zur Baugeſchichte der 
Knick-Pyramide bei Dashur). Endlich erwähnen wir als hiſtoriſch bemertent 
werth aus dem Heft noch einen Artikel von Ed. Mahler: Materialien zur 
Chronologie der alten Ägypter (hronologiſche Beſtimmung der Regierungb- 
zeit der Rameijiden, mit einer Überjichtstabelle der Anjäge für Amoſis bit 
Ranıjes VI. |1575—1198 v. Ehr.)). 


In Maspero's Recueil 17 1/2 veröffentliht AU. Moret einen Artikel: 
Une fonction judiciaire de la XIL dynastie et les chrematistes 
ptol&imaiques Antnüpfung diefer Funktionäre der Lagiden an Vorgänger 
in der 12. Dynaſtie. Aus demjelben Heft notiren wir noch zwei Artilel 
von 8. Maspero: Notes, sur differents points de grammaire et 





354 Notizen und Nachrichten. 


getreu abgedrudt; war es denn nicht möglich, diefe Schreiben bezw. eines 
berjelben nad dem Original aus den Alten bes Minifteriums zu geben? 
Ferner werben in geradezu ärgerliher Manier fat alle Heineren Verſehen 
oder Verſchreiben, als ob es ſich um alte Urkunden handelte, getreulich ab» 
gebrudt, mit einem «fo» dahinter („au8“ für „auch“, „fie“ für „Sie* x. 
In diefer verehrt verftandenen Akribie und in diefem Mangel an Urtheil 
über wirkliden Werth oder Unwerth der Stüde, man möchte jagen, in 
diefem Mangel an jeder Fühlung mit dem allgemeinen Geiſtesſsleben unferer 
Zeit, repräfentiren fi) die beiden diden Bände als rechter Typus für bie 
klaſſiſche Philologie unferer Tage. Das muß gegenüber überſchwänglichen 
Verherrlichungen, wie jie beijpieläweije Kammer in der Friedlaender' ſchen 
Feitihrift (vgl. die folgende Notiz) äußert, ofien gejagt werden. Bon 
Männern, beren Briefe an Lobed oder Lehrs mitgetheilt werden, find 
namentlih Joh. Heinr. Voß, Bottir. Hermann, Lachmann, Meineke 
und Ritſchl Hervorzuheben; daneben noch etwa Pindorf, Zumpt, Naud, 
Köchly, Haupt, 2. Preller, Zul. Schmidt, Fr. Zarnde; doch find die Briefe der 
legtgenannten, wie auch die meilten von ©. Hermann, nit von bejonberer 
Bedeutung, und vollends von einem jo langweiligen Manne, wie dem Philos 
logen Nitzſch, an deſſen gedrudten Werten wir ſchon mehr als zu viel haben, 
brauchten wahrlid nicht auch noch gleihgültige Briefe abgebrudt zu werden. 
Für Hiftorifer von Intereſſe find noch einzelne Briefe von 8. W. Nißſch. 
dem SHiitorifer, und U. v. Gutſchmid; dazu friihe, temperamentvolle 
Briefe an Lehr? von J. Horkel, dem Autor bed 1. Bandes ber Ge 
ſchichtſchreiber der deutſchen Vorzeit. In philologiſcher Hinſicht das 
Bedeutendſte der ganzen Publikation find die Briefe von Lachmann an 
Lehre, aus denen allerdings ſchon Einzelnes befannt war, die aber jept im 
Zujammenhang ein vollftändiges Bild von der Ausbildung der Lachmann⸗ 
ihen Anjichten über die homeriſchen Gedichte gewähren, eine höchſt bedeu- 
tende und willlommene Ergänzung zu feinen „Betradtungen“. Auch bie 
Briefe von Ritjhl und Meinete bieten manches Intereſſante. Endlich 
ein Brief wie der große von Joh. Heinr. Voß an Lobeck (Nr. 31) wiegt 
Tugende von andern auf. Aber um fo bebauerlidher ijt eben, ba diet 
wirklich Bedeutende in der Menge de3 Gleichgültigen verſchwindet. — Ein 
„Perjonenverzeihnig“, das fi verjtändigerweife nicht auf Berjonen 
beichränft, befchließt die Publikation. Erwünſcht wäre noch eine überfidyt 
lihe Zufammenjtellung der Briefiteller und der Adreſſaten ber Briefe 
gemejen. 


Zum 50jähr. Doltorjubiläum 8. Friedlaender's haben Freunde 
und Schüler ihm eine Feſtſchrift gewidmet (Leipzig, Hirzel, 1896. 554 &.. 
In einer längeren Abhandlung, die und daraus zugeht, behandelt 
Ei. Klebs: Tas lateiniihe Geſchichtswerk über den jüdiſchen Krieg, ben 
jog. Hegelippus. Bf. jtellt in eingehender linterjuhung des Inhalts und 
der Sprache jeit, dab wir das Werl weder ald liberjegung nod als 





356 Notizen und Nachrichten. 


de3 Großen. — Ed. Zarnde: Zur griechiſchen Kunjtproja iu Griechen 
land und Rom. — ®. v. Boigt: Quo anno Agrippa expeditionem 
Bosporanam fecerit (15 v. Chr. Beiprehung der Jahre 16—13 v. Ghr.). 
— €. Eihoriud: Zu den Namen der attiihen Steuerflafien. — €. Th. 
Fiſcher: Quaestionum Scylacearum specimen. — €. Thoſt: Ad 
papyros titulasque Graecos symbolae. — ©. Bodid: Zum Publicols 
de8 Plutarch. — €. Kyhnitzſch: De Jadis apud Dionem Cassium 
vestigiis. — M. Thiel: Eudoxeum (Benupung des Eudorus dur Bitrw 
vius mitteld einer Arat⸗Ausgabe. 


Einen Beitrag zur Vorgejhichte bed europäiſchen Familienrechts gibt 
3. Bernhöft in der Ziſchr. f. vergleihende Rechtswiſſenſchaft 11, 3 
in einem Aufjag über „Ehe und Erbredt ber griehifhen Heroenzeit”. 
Er betont namentlich da8 Vorkommen bed Erdienend ber Braut bei den 
Griechen wie bei anderen Völkern (Otbryoneus, Bellerophon, Eigfried x.). 
Die Frage ift nur, inwieweit dieje naturgemäß überall zu trefiende Form 
des Werbens als ein wirklicher Rechtsbrauch und allgemeinere Sitte zu be 
traten ift, und da ſcheint und Bf. in feinen Schlüffen zu jchnell zu jein. 
Auch fonft ijt er in feiner Verwertfung von Mythos und Sage! und in 
jeinen Vergleichen, jo betr. der BZigeunerehe, nicht vorfihtig genug und 
gelangt daher zu problematiihen Ergebnifien. Auf diefem Felde ſteht zu 
nächſt der von Bernhöft vernadläjfigten vergleihenden Sprachforſchung dat 
Wort zu, und nur in Anlehnung an ihre Ergebnifje können Unterfuhungen 
wie die bes Bf. Frucht bringen. 


Den größten Theil des neuen Heftes des Journal of Hellenic studie 
14, 2 jült eine höchſt bedeutſame Abhandlung von A. 3. Evans über 
feine Entdedung einer alttretijhden Bilderſchrift: Primitive picte 
graphs and a praephoenician script from Crete and the Peloponnese 
(mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen der bilderjchriftlidden Charattere). 
Dieſe Abhandlung wird grundlegend für die weitere Forſchung auf biejem 
Gebiet bleiben und ſich auc für die ethnographiſchen Anſchauungen über 
die alte Welt von Bedeutung ermweifen. Berfafler bdatirt die altkretiſche 
Bilderihrift bi zur 12. ägyptiihen Dynaftie (3. Jahrtauſend v. Chr.) 
zurüd und fchreibt fie mit Entſchiedenheit bereit8 der vorgriechiſchen Bes 
völferung zu, ein höchſt bemerkenswerthes Ergebnis. (Bgl. dazu auch einen 
Artikel von 2. Mariani in der Academy Pr. 1191.) — Wir erwähnen aus 
dem Heft de3 Journal noch eine mythologiiche Studie von A. G. Bather: 
The problem of the Bacchae und eine gemeinjdhaftlide Arbeit von 
Baton, Myres und Hid8: Three Karian sites: Telmissos, Karyanda, 
Tarampos (mit einer Juſchrift von Telmeſſos). 

Sn dem Gebirgsthale Kufuneri unweit Ikaria hat Profeſſor Richard⸗ 
jon vom amerikaniſchen ardhäologijchen Inititut Fragmente eined griedi- 
ihen Opferkalenders aus dem 4. Jahrhundert gefunden. 





358 Notizen und Nachrichten. 


Balaftes und Überreiten aus der legten Epoche mykeniſcher Kultur, noch 
bein Berfafler Werte der Minyer, die wahrſcheinlich den eindringenden 
Böotern zum Opfer fielen. Vgl. dazu F. Road in den Wittbeilungen bed 
athen. Inſtituts 19,4: „Urne“, gleichfalls eine lange Abhandlung über 
Gha, die aber in ihren Phantafien über die Minyer zu weit gebt). ES 
folgen in dem Hefte noch mehrere Injchriftenpublifationen: Inscriptions 
de l’eparchie d’Almynos (elf Nummern) von N. 3. Gtannopoulo®: 
’Eriygagai ix Avsias (34 Nummern) von X. S. Diamantaras; Inscrip- 
tiones duae musei Surutchaniani (in Beharabien) von B. Latyſchew. 
Endlih den Beſchluß maht eine Notiz von Th. Homolle: Nouvelles 
signatures du sculpteur Eutychides. 


Ein Aufjag von U. Köhler in den Sigungdber. der Berliner Alad. 
der Wiſſenſch. Nr. 25: Die atheniihe Tligarchte des Jahres 411 v. Chr. judt 
darzulegen, was über diefen Gegenitand aus ber 49. noA. zur Ergänzung 
und Verbefierung des thukydideiſchen Berichts zu gewinnen tft. 


In dem nachträglich audgegebenen Heft 12, 1894, der Fledeiſen'ſchen 
Jahrbücher findet fih ein Artilel von %. Sufemihl: Zur Politik des 
Ariftotele8 (gegen Wilamovig gerichtet, Über die Abfolge der Bücher der 
Politik, und über Pol. 2, 12 und das gegenjeitige Zeitverhältnid der Politit 
und ber Roliteia der Athener). — Aus demſelben Heft notiren wir noch ben 
Schlußartikel von H Pomtow's Fasti Delphici (überſichtstabelle über die 
Archontate der Amphiktyonendekrete und Nachträge) und Meinere Artikel 
von J. Mülleneiſen: Beziehungen zwiſchen dem Sonnenjahr und dem 
bürgerlichen Mondjahr der alten Griechen; von F. Reuß: Iſokrates“ Ban: 
egyrikos und der kypriſche Krieg (gegen G. Friedrich, vgl. unſere Notiz 74, 341 
und von U. Weidner und P. R. Müller: Zu Tacitus (theilwetje recht 
verfehlte Konjefturen:. — Aus dem 2. Heft ded Jahrgangs 1895 ber Jahr⸗ 
bücher ift nur eine metrologijche Unterfuhung von F. Hultſch zu notiren: 
Drei Hohlmaße der römischen Provinz Hgypten. 

Ein Nrtitel von M. Fränkel im Philologus 54,1: Das große Sieget: 
dentmal Wttalos’ des Erſten, wendet ſich gegen die Aufftelungen von 
9. Gäbler und hält daran jejt, daß da3 Denkmal den im Jahre 228 beendigten 
Krieg gegen Antiochus und die Galater, in welchem Attalos von Pergamon 
den Feind in jieben Schlachten befiegte, feiert. — In demielben Heft fe 
©. Brud feine Studien „Über die Urganifation der athenifhen Heliaiten: 
gerichte im 4. Jahrh. v. Chr.“ fort, indem er die Heliaftentäfelchen behandelt; 
€. Sudhaus gibt neue „Erkurje zu Philodem“, und R. Förſter pubfizirt: 
Anecdota Choriciana nova. Wir erwähnen endlid aus dem Heft noch 
Nrtitel von J. Bannad: Zu den Inſchriften aus Epidaurus (Kritik dei 
Werkes von P. Kabbadias: Fouilles d’Epidaure) und von R. Maſchke: 
Tas ältejte Fragment der römiihen Stadbtchronift ‚sc. aus dem Jahre 304 
bezw. 321 bei Plinius, Hiet. nat. 33, 6, 17 fi. durch Vermittelung bei 
Valerius Antias). 





8360 Notizen und Nachrichten. 


im vorliegenden Heft zunädjt von 1884 bis 1891, woran fi dann ein 
zweiter Artifel Über die Jahre 1892 und 1893 fchließen fol. 


Die Leipziger Studien 17, 1 enthalten eine umfangreiche Abhandlung 
von ©. Bockſch: De fontibus libri V et VI Antiquitatum Romanarum 
Dionysii Halicarnassensis quaestiones variae (Hauptquelle, theils birelt, 
theil8 indirekt, ift nad dem Berfafier Balerius Antias, aus dem auf 
Licinius Macer und eine dritte daneben von Dionys benugte Luelle 
bereit3 jchöpften). 

An den Wiener Studien 16, 2 wird von B. Vogt „Hypereides' erfte 
Rede gegen Athenagoras“ neu publizirt und erläutert. In demjelben Heft 
findet fi eine Miscelle von W. Kubitſchek: Die Tribus ber claudiſchen 
Städte (die mauretanifhen Neubürgergemeinden wurden in bie Duirine, 
die übrigen in die Claudia aufgenommen). 


Die von uns in den Notizen wiederholt erwähnten Artikel &. VBoilfier’s 
über l’Afrique romaine, die zuerft in der Revue des deux mondes 
veröffentliht wurden, find jetzt aud vereinigt in Buchform erfchienen: 
Gaston Boissier: l’'Afrique Romaine. Promenades ar- 
ch&eologiques en Algerie et en Tunisie. Paris, Hachette 
et Cie. 1895. 321 ©. Das Ganze gibt in angenehm ledbarer Yorm eine 
Überficht über das, was die Römer als Kolonifatoren und Kulturträger in 
Nordafrita geleiftet Haben und was die. neuere, namentlih franzöſiſche 
Forſchung für die willenfchaftlihe Rekonſtruktion jener Periode in ben 
legten Dezennien getan bat. Wir heben bier namentlich noch einmal den 
Abfchnitt Über die agrariichen Verhältnijie unter den Römern (les cam- 
pagnes) und die Darftellung der Ergebniſſe der Musgrabung ber alten 
Stabt Timgad hervor, über die eine befondere Bublikation in Paris augen» 
blidlih im Erſcheinen begriffen iſt (Timgad, une cit6 africaine sous 
l’empire romain. Paris, Leroux). Beigegeben find dem Buche je zwei 
Meine Pläne von Carthago und von Timgad. 


Sn den Melanges d’archeologie et d’histoire 14, 5 jegen ©. Gſell 
und 9. Sraillot ihre arhäologiihen Mittheilungen aus Wlgier fort: 
Explorations archöologiques dans le departement de Constantine 
(Algerie,, und zwar behandeln jie diesmal: Ruines romaines au nord 
des monts de Batna (Inſchriften, 64 Nummern, und Arditelturreite, mit 
zahlreichen Abbildungen und einer Karte). 


In der Revue archeologique 26, 1 veröffentliht Ph. Berger über 
das in Tripoli® aufgefundene neupuniihe Grabdenkmal (vgl. die Notiz 
74, 160) eine genauere Tarjtellung: Le Mausolee d’El-Amrouni, mit Abs 
bildungen des Reliefs und Facſimile der Inſchrift. 


Aus der Zeitſchr. f. Sozials und Wirthſchaftsgeſch. 3, 2 notiren wir 
den Anfang einer Abhandlung von U. Schulten: Die römiſchen Grund⸗ 





362 Notizen und Nachrichten. 


jcheinlih an die Theodora Komnena, die Nichte und Mätrefie des Kaiſers 
Manuel gerichtet). 


Aus dem neueiten Heft der Byzantiniſchen Zeitichrift 4,2 begnügen 
wir uns zwei Ubhandlungen zu notiren, von 8. Brädter: Eine vulgär- 
griehifhe Paraphraje der Chronik des Konſtantinos Manaſſes, und von 
J. Draeſeke: Der Möndh und Presbyter Epiphanios (lebte in der zweiten 
Hälfte des 8. Jahrhunderts). 


Bene Bäder: Mude, Horde und Famiilie in ihrer urgefchichtlichen 
Entwidlung. (Stuttgart, Ente) — La Ville de Mirmont, Apollonios 
de Rhodes et Virgile. La mythologie et les dieux dans les Argo- 
nautiques et dans l'’Eneide. (Paris, Hachette.) — $reeman, Geld. 
Siziliend. Deutiche Ausgabe von B. Lupus. L (Leipzig, Teubner.) — 
v. Holzinger, Lykophron's Alexandra, griech. u. deutſch. (Leipzig, Teubner.) 


Wömifh-germanifhe Seit und Mittelalter Bis 1250. 


Us Heft 210 der Sanımlung gemeinverftändliher wiſſenſchaftlicher 
Vorträge fit eine Heine Schrift von 3. Seiler erfhienen: Die Heimat 
der Indogermanen (Hamburg, Verlagsanitalt 1894, 36 S.). Berfafler 
wendet ji hauptſächlich gegen die Penka'ſche Hypotheſe von dem Urfiß der 
Indogermanen in Südffandinavien und fließt ſich felbjt im allgemeinen an 
Schrader an, nur daß er die Urheimat nicht in den Südoften, ſondern in 
die Mitte des europäijhen Rußland verlegt. In der Burüdweifung ber 
Penka'ſchen Hypothefe, die auch wenig Anhänger gewonnen bat, ftimmen 
wir ihm bei; aber jeine eigenen, wie überhaupt die neuerdings bevorzugten 
Hypotheſen von den Urfigen in Europa, halten wir für ebenfo unbewiejen. 


Über das von uns ſchon erwähnte, große Werk von P. und W. Sar⸗ 
rajin über die Wedda (H. 3. 72, 164) notiren wir nod eine eingehende 
Beiprehung von R. Keller im Biologiſchen Wentralblatt 15, 6 und 7: Die 
Wedda’3 von Ceylon und die fie unıgebenden Völkerſchaften; ein Werjud, 
die in der Phylogenie des Menſchen ruhenden Räthſel der Löfung näher 
zu bringen. 

Aus der Beilage der Münchener Allg. Ztg. vom 17. und 18. Wpril 
erwähnen wir einen Wrtifel von C. Hahn: Einiges über bie Lumpylen 
‚eines der Kaukaſusvölker, nach Ungaben eines von dem ruſſiſchen Antbropes 
logen Pantjuchow in Tiflis gehaltenen Vortrages. Geftreift wird aud bie 
Frage nad) der Herkunft der alten Kulturen Europas). 

Im Nineteenth Century 218 (Upril 1895) veröfientliht J. Preſt wich 
einen Artikel: The greater antiquity of man (sc. älter, al® Lyell meinte; 


nach dem PBerfaiier jept ohne Übertreibungen etwa auf 50000 Jahre zu 
berechnen). 





364 Notizen und Nachrichten. 


Eining a. d. Donau von 9. Arnold, mit guten Illuſtrationen von ®. Urtel 
(über die vor Jahren veranftalteten Ausgrabungen des Pfarrers Schreiner. 


In der Februarſitzung der Berliner Archäologiſchen Geſellſchaft war ein 
Vortrag von Dahm bemerfenswerth über von ihm gemachte Waffenfunde 
bei den Limesausgrabungen, wobei er fi) namentlich eingehend über bie 
Entwidlung des römiſchen Pilums äußerte. Vgl. ben ausführlichen Bericht 
in der Wochenſchr. f. Hafi. Philologie Nr. 16. — Eine Überfiht über bie 
Zimesausgrabungen gibt F. Haug im Korrefpondenzblatt des Gejammt- 
vereind Nr. 4: Bom römiſchen Grenzmwall. 


Im Globus Nr. 13 jegt G. Bancalarti feine umfihtig und forgfältig 
geführten, hausgeſchichtlichen Studien fort in einem Artikel: Das fübbdeutiche 
Wohnhaus „Fränkifcher” Form. Vgl. auch in Nr. 15 derſelben Wochenſchrift 
einen „Beitrag zur Hausforſchung“ von 3. Meſtorf. Über das wefſtfäliſche 
Bauernhaus veröffentlicht 3. B. Nordhoff einen Aufſatz im Maiheft von 
Weſtermann's Monatöheften. 


Da8 ganze neue Hejt der Weitdeutichen Btichr. 14, 1 wirb von einer 
umfangreichen, hauptſächlich auf injhriftlidem Material aufgebauten, anti» 
quariſchen Studie von A. v. Domaszewski eingenommen: Die Religion 
des römijhen Heeres. Wir müſſen uns bier darauf befchränfen, bie 
Eintheilung ber forgfältigen, ihren Stoff wohl fajt erſchöpfenden Abhandlung 
anzugeben: 1. Die dii militares und das Fahnenheiligthum. 2. Die dü 
peregrini, die Tagertempel der Hauptitadt. 3. Der Genius bes Kaiſers und 
die Heiligthümer ber principales. 4. Numina castrorum. 5. Das Ned 
ber Heeresreligion. 6. Die Heeresreligion Diofletian’d. 7. Die Heeres⸗ 
religion der dhriftlihen Kailer. 8. Die Heeresgötter der Republil. Ein 
Regifter und Abbildungen der in Betracht fommenden Skulpturen find dem 
Hefte angefügt. — Im Korrefpondenzblatt 14, 1/2 beipridt 9. Kelleter: 
Borlarolingifhe Bauten zu Aachen (namentlich Baſilika und Karlögruft), 
Kiſa den Kanal in der Budengaſſe in Köln und 8. Shumader: Gewand» 
nadeln mit Fabrifmarfe (in Ergänzung zu Drefie). Das der Ar. 3 des 
Korreipondenzblatte8 beigegebene Ximesblatt Nr. 14 enthält Berichte von 
Wolff, Shumader, Eidam und Kohl. 


Über da8 im vorigen Jahre in Friedberg aufgededte Mithraeum 
veröffentliht TH. Goldmann einen über den Fund genau beridytenden 
und zugleich die allgemeinen Kragen erörternden Artikel im Archip f. 
Heſſiſche Geſch. u. Altertpumstunde N. 5. 2, 1: Der Mithraskultus und bie 
Mitgracen in Friedberg (mit 2 Plänen im Tert und 2 Doppeltafeln im 
Lichtdruck. 


Über dag von uns im vorigen Heft erwähnte Denkmal vou Adamlliſſ 
bradite ©. E. Schmidt einen Heinen Aufjag in den G@renzboten 18% 





366 Kotizen und Radridten. 


„Da8 deutſche Nationalgefühl in feiner gefchichtliden (Ent 
widlung“ behandelt fnapp und anfprehend &. Liebe in einem Meinen 
Vortrage (Magdeburg, Niemann). 


„Unedirte Karolinger- Diplome“ aus franzöſiſchen Handſchriften. 
den ſog. Collections des Ardivs und der Nationalbibliothel zu Paris, 
über die Verfafler eine Überficyt gibt, publizirt U. Dopfc in den Mitt. 
des Inſtituts f. öſterr. Geſchichtsforſchung 16, 2, im ganzen zehn Nummern 
nebſt Fragmenten und Regeſten von brei weiteren Stüden und fünf 
Sälfhungen. — In den Kleinen Mittheilungen bdesjelben Heftes Hanbelt 
®. Bretholz: Über das 9. Kapitel der pannonifhen Legende des heil 
Methodius (bezieht fi auf eine Disputation in Mähren, wahrjcheinlid im 
Zahre 870), und 8. 5. Kaindl „Zu Cosmas“ betätigt die Annahme 
Loſerth's, daß Cosmas nicht der Autor der Versus de 8. Adalberto jein könne. 


Eine Miscelle von 2. Schmidt im Neuen Arhiv f. Sächſ. Geld. u. 
Altertdumst. 16, 1/2: Zur Geihichte der Dresdner Thietmar⸗Handſchrift, Hat 
weniger Interejje jür Thietmar, als für die Gelehrtengeſchichte des 16. Jahr 
bundert8, zu der Verfaſſer durch Veröffentlichung eines Reſkripts Kurfürft 
Auguſt's von Sadhfen vom 17. April 1563 einen Beitrag gibt. 


Sin der Revue numismatique 3, 13 veröffentlicht U. de Barthelemy 
einen kleinen Artikel: Note sur la classification des monnaies Caro- 
lingiennes (fie jind nicht nach den Regenten, neben denen auch die Grafen, 
Bifhöfe und Äbte das Münzrecht ausübten, fondern nad geographiichen 
Bezirken zu Hajfifiziren). 


Aus dem Archiv für da8 Studium der neueren Epraden u. Literatur 
94, 23 notiren wir einen Artikel von G. Schepß: Zu König Aifred’s 
Boethius (Nachweis der Benugung lateiniſcher Borgänger in König Alfred's 
Kommentar). 


Einen bemerkenswerthen Aufjag veröfientliht &. Kurth in ber Revue 
des questions histor. 114 (April 1895): La France et les Franca dans 
la langue politique du moyen Age. Berfajier jucht die Entſtehung und 
ben jpäteren Gebrauch dieſer Namen feitzuitellen und betont vor allem, 
dab diejelben mehr politiiche, al® ethnographiſche Bedeutung haben, daB 
aljo namentlich unter Franken keineswegs bloß Germanen zu verjtehen jeien. 
Gewiß ilt bei der Interpretation ded Namens „Franken“ aud ſtets die 
Möglichfeit des rein politiihen Gebrauchs in Betracht zu ziehen. Kurth 
iheint uns in feiner Auffaſſung aber entjichieden zu weit zu geben. 


In der Political Science Quarterly 10, 1 veröffentliät F. Zink: 
eijen eine Unterfudhung über The Anglo-Saxon Courte of Law (über 
das Hundertſchafts- und Grafihaftsgericht, ihre Kompetenz in Zivil⸗ und 
Strafjahen und ihre Zujammenjegung". 





368 Notizen und Nachrichten. 


„Geſchichte des ehemaligen Nonnenfloftere O. S. B. zu Traunkirchen in 
Oberöſterreich“ von feiner Gründung im 11. Jahrh. bis zur Aufhebung im 
16. Zahrh., mit einem Anhang von Urkunden und Regeſten (102 Rummern) 
und einem Nekrologium. 


Über reihe Funde von Handſchriften und Urkunden aus dem 18. bis 
16. Jahrhundert, die von Kowatſchewitſch und Stephanowitſch auf einer im 
Auftrage der jerbijchen Akademie unternommenen Forſchungsreiſe gemadıt 
wurden, findet ji) ein Bericht in der Beilage der Münch. Allg. Stg. vom 
27. März: Wiſſenſchaftliche Forſchungen in Altjerbien. 

In der Revue de l'Orient latin 2, 3/4 gibt H. Derenbourg eine 
franzöſiſche überſetzung der arabiſchen Autobiographie Oujamas’ (12. Zahrh.). 

Bene Bäder: Hodgkin, Italy and her invaders. V. VL (Oxford, 
Ularendon Press.) — ®üterbod, Der Friede von Montebello und bie 
Weiterentwidiung des Lombardenbundes. (Berlin, Mayer & Müller; — 
Janſen, Die Herzogsgewalt der Erzbiihöfe von Köln in Weitfalen. 
(Münden, Lüneburg. 4,60 M.) — Mitzſchke, Urkundenbuch von Stadı 
und Klojter Bürgel. L (1133—1454.) (Gotha, Perthes) — Brerholz. 
Geſch. Mährens. I, 2 (bis 1197) (Brünn, Winiker.). — F. Lot, Hariulf. 
Chronique de l’abbaye de St. Riquier. (Paris, A. Picard.) 


Späteres Mittelalter (12501500). 


Sn den Württembergifchen Bierteljahräheften für Landesgeſch. 3, 4 madı 
Pfarrer Bus!l „Mittdeilung über wiederaufgefundene Urkunden aus ben 
öfteren Bebenhauſen, Adelberg und PBfallingen” Es Handel: 
fih um 15 auf der fgl. Univerfitätsbtbliothel zu München wiederaufgefunbene, 
wäürttembergifche Urkunden aus dem 12.--15. Jahrhundert, von denen Bus 
Negeften gibt. Vier diefer Urkunden waren bisher nicht publizirt, und nad 
einer den Urkunden beiliegenden Notiz follen zwei davon für die Genen: 
logie der Hohenzollern von Bedeutung fein. 


An der Römifhen Quartalſchrift 9, 171 veröffentlit H. Finke and 
einem Codex des Soeiter Stadtarhivs eine fehr werthuolle Relation über 
dad Barijer Nationallonzil von 12% von köſtlicher Unmittelbartlen 
der Erzählung. 

The English historical Review Bd. 10 bringt in zwei Abthei⸗ 
lungen aus der Feder von W. E. Rhodes eine betaillirte Biographie bei 
Edmund von Lancajter, des Bruders von Eduard J., der mannigfache 
Scidjale hatte und eine Zeit lang Kandidat für die ficilifche Krone wer. 
Grundlage des Aufjages bilden die neueren Beröffentliungen ber Record 
('omission. 


G. Romano, ber jchon jo manchen wertvollen Beitrag zur Geſchichte 
des erſten Mailinder Herzogs Gian Galeazzo Bisconti (1378 — 1402: 





870 Notizen und Nachrichten. 


Zaganyi, Gefhichte ber Feldgemeinidhaft in Ungarn 
(Ungarifhe Revue 15, 1—2) ftellt, von der Gegenwart zurüdgebend, 
urkundlich feit, dab die Feldgemeinihaft in Ungarn im 18. Jahrhundert 
noch allgemein war, und zeigt, wie fie ſich als Graswirthichaft oder Nomaden⸗ 
feldgemeinfchaft beſonders in Siebenbürgen jtellenweije bis In unfer Jahr 
hundert hinein erhalten hat — eine fehr willtommene Ergänzung der Ge⸗ 
ihichte diefer Ackerbauſyſtems. 


Neue Bäder: v. Below, Landtagsalten von Zülih und Berg. L 
1400—1562. (Düfjeldorf, Voß.) — W. v. Langsborff, Johann Hus'. 
Ausgewählte Bredigten. (Leipzig, Fr. Richter) — Comba, Claudio di 
Torino. (Firenze, Libreria Claudiana.) — Ahrens, Die Wettiner und 
Kaijer Karl IV. (Leipzig, Dunder & Humblot. 4,40 M.) — Klintens 
borg, Geſch. der ten Brols. (Norden, Braams.) — Vogelſtein und 
Rieger, Seid. der Juden in Rom. I. (1420—1870.) (Berlin, Mayer 
& Müller.) 


Meformation and Gegenreformation (1500—1648). 


Auf Grund der Homilien des Predigerd Jobſt Clichtone (1472—1543) 
entwirft 9. Chérot in der Revue des quest. hist. (1895, April) einige 
furze Skizzen einzelner Gruppen der franzöfifhen Geiellihaft aus dem Uns 
fange des 16. Jahrhunderts (dad Boll, die Studenten, bie Geijtlichkeit). 


In der Revue des quest. hist. (1895, April) behandelt U. Jacquet 
einen franzöfiihen Staatsmann aus dem Anfang bed 16. Jahrhunderte 
Claude de Seyßel, der 1520 als Bilhof von Turin ftarb, nachdem er 
namentlid unter Ludwig XII. politiſch thätig gewejen war. Der beadhten® 
werthe Aufſatz beichäftigt fi) vor allem mit der Schrift Seyßel's: Grand’ 
Monarchie de France, in ber er jeine Anſichten vom Staate überhaupt 
und von den Aufgaben und Pflichten des franzöſiſchen Staates darlegt, 
weshalb auch der Verfafjer jeinem Aufſatze den etwas zu umfaſſenden Titel: 
Tas Nationalgefühl im 16. Jahrhundert gegeben hat. 

Eine ausführliche, gründliche Unterjudung über die Erpedition des 
Sebaſtian Cabot zum La Plata (1526/28) gibt Carlo Errara in 
den Archivio storico italiano (1895, 11. Eine Beſprechung und kritiſche 
Beurtheilung der Duellen geht der eigentlihen Darjtellung vorauf. 


Ein Aufiag von N. Paulus im Hilt. Jahrb. d. Görres⸗Geſellſchaft 
(16, 1} beidyäftigt ji mit verjchiedenen Punkten der Biographie Tepel’s. 
Ter erjte Theil gibt eine Unterſuchung über die frage, in weſſen Auftrage 
Tegel zu veridiedenen Zeiten den Ablaß verkündet Hat, und über feine 
Stellung zu der firdhlihen Lehre vom Ablaß. Der zweite Abſchnitt richtet 
ſich namentlich gegen den betr. Artikel in der Allgemeinen deutſchen Bio 
graphie und weiſt einige ſchon jeit langer Zeit gegen Tegel erhobene ſchwere 
ſittliche Vorwürfe als Hiltorifd) unbegründet zurüd, u. E. mit Red. 





312 Notizen und Nachrichten. 


In einer Marburger Difiertation von 1894 gibt E. Kleinwädter 
die erjten drei Kapitel einer größeren Arbeit über den Meger Reformationse 
verſuch von 1542/43. Die Abhandlung beruht auf ausgedehnten archivaliſchen 
Studien und zeichnet ſich durch Gründlichkeit und befonnene Kritik aue. 
Diefer erite Theil führt die Ereignifie bis zu dem Mißerfolg ber ſchmallal⸗ 
diihen Gefandtihaft an Metz (Ende September 1542). Ein Anhang be 
Ihäftigt fih mit einzelnen Bunkten der Meer Stadtverfafjung im 16. Jahr⸗ 
Hundert. Die volljtändige Abhandlung fol in kurzer Zeit erſcheinen. 


Auf jehr gründlichen Studien der bandichriftlihen und ber gebrudten 
Quellen beruht die Schrift von &. Boſſert, Das Interim in 
Bürttemberg (Halle, Niemeyer. 189%. Schriften des Bereind für 
Neformationdgefhichte Nr. 46. 47); jie gehört zu dem Beſten, was der 
Verein für Reformationsgeſchichte publizirt hat. Der Verfafler fchildert die 
Maßnahmen zur Durhführung des Interims in Württemberg, den Wider: 
itand dagegen und jeinen endlihen Fall; das legte Reſultat der ganzen 
Bewegung iſt nad ihm eine Schädigung ber fatholifden und eine Stärkung 
der proteftantifhen Kirche in Württemberg. 

Über das Eintreten Granvella’s für die Durchführung des 
Interims in Markgröningen beridtet ©. Boſſert nah einem bisher 
unbelannten Aftenftüde in den Württemb. Bierteljahräheften für Nandei 
funde (1894). 


Einen Beitrag zu ber Belagerung von Meg durd den Kaiſer im 
Jahre 1552 gibt E. v. Löffler in den Württembergiihen Vierteljahr 
beften für Landeskunde (1894) dur die Bearbeitung und Beröffentlihung 
der Berichte des Ulmer Geſandten Neder aus dem Feldlager vor Meg. 


„Eine Epijode aus den Leben des Pietro Strozzi”, feinen Auf 
ftandsverjud gegen die ſpaniſche Herrichaft in Oberitalien in ber erjten 
Hälfte des Jahres 1544, jchildert Kuigi Staffetti auf Grund handſchrift⸗ 
liher Quellen im Arch. stor. italiano (1895, 1). 


Zwanzig Briefe König Ferdinand's L an den Oberlandei 
hauptmann von Schleſien aus den fahren 1528-1560 veröffentlict 
C. Wutke im Korrefjpondenzblatt des Geſammwereins zc. 1894, 3 u. 4. 
Hr Inhalt betrifft u. a. die Stellung Ferdinand's zur Reformation, zu 
der Wiedertäuferbewegung, ferner Berfonalien über das Konzil von Trient, 
Mapregeln der Büchercenſur u. |. w. 


In Hortjegung feiner, der Wirthſchafts- und Verwaltungsgeichichte Weit 
deutichlands zugemwendeten Forſchungen beginnt &. v. Below in den Jahr 
büchern jür Nationalötonomie und Statijtik, 3. Folge, Bd. 9, die Entiteb- 
ung der Rittergüter in Jülich-Berg zu erörtern. Geftügt auf ein 
reiches, dem Verfaſſer wie wenigen vertrautes Altenmaterial, unterjucht er 
zunächſt mit der ihm eigenen @enauigfeit der VBegrifisbeitimmung die that 





374 Notizen und Nachrichten. 


über den Nheinübergang Guſtav Adolf's bei Oppenheim bemerkenswert. 
E3 wäre zu wünſchen gemwejen, daß das Guſtav Adolf» Jubiläum mehr 
Monographien diefer Art gezeitigt Hätte. 


Die Geihichte der franzöfiihen Kolonifation auf Madagaskar 
behandeln gleichzeitig D’Equilly in der Revue des quest. hist. (29., 1. April 
1895, jehr ausführli) und St. Andre in der Rev. d’hist. dipl. (9,2, furz 
und überfihtlih). Die erfte nachweisbare ſranzöſiſche Anſiedlung auf 
Madagaskar fand danach unter Ludwig XIH. ftatt, und unter ben beiden 
folgenden Herrihern wurden wiederholt Verſuche zu größeren Kolonifationen 
gemadt. Beide Autoren jtimmen darin überein, daß die Engländer den 
franzöfifhen Beſtrebungen mit allen Mitteln entgegenarbeiteten und ba 
daneben die Eiferfuht der Gouverneure von Ile de France (Mauritius) 
nicht wenig zu den Mißerfolgen beitrug. Auch im 19. Jahrhundert dauerte 
der Kampf mit Engländern und Eingeborenen fort, doch verhinderte die 
Unficherheit des heimiſchen Regimentes lange Zeit ein energiiche® Vorgehen, 
und im Jahre 1885 verzichtete Frankreich fogar auf einen Theil feines 
Broteftorates über die Inſel. 


Mit glorifizirender Tendenz, einzelnen Unrichtigkeiten, aber unter Be 
nußung nod nicht verwertbeter Familienpapiere ſchildert Froſſard das 
Leben des franzöſiſchen Marſchalls Zean de Gaſſion (16091647), der 
unter dem Namen eine® Barons von Hontand auch unter Guſtav Adoli 
eine Zeit lang als Oberjt gedient hat. (Bulletin historique de la socidte 
de l’'histoire du protestantisme francais 1895, 1.) 


Im Aprilbeft 1895 der English historical Review unterzieht Yirtb 
die Memoiren Eir Richard Bulftrodes’ Über die Negierung Karl’ I. und IL 
einer eingehenden quellenkritiihen Unterfuhung. Er weilt nad, daß ihr 
Herausgeber Nathanael Miit, der fie 1721 druden lieh, fie aus autobio- 
graphiihem Material, diplomatiihen Korrejpondenzen ꝛc. Bulitrodes’ zu 
jammengejtellt, aber auch mit allerlei fremden Einſchiebſeln aus Hijtorijchen 
Werfen verbrämt hat. 


Deue Bücher: Staebelin, Zwingli. II. (Bajel, Schwabe: — 
Joachim, Politit des letzten Hochmeiſters in Preußen, Wibredht von 
Brandenburg. III. (Leipzig, Hirzel.) — Wutke, Mertbuh ded Hans 
v. Schweinien. (Berlin, Stargardt.) — Battistella, I S. Officio e 
la riforına religiosa in Friuli. (Udine, Gambierasi). 


1648—1789. 


In der Scottish Review vom April 1895 beridtet W. O' Connor 
Morris weſentlich referirend über den 1894 eridhienenen 1. Band von 
(sardiners History of the Commonwealth and Protectorate, 
der die Zeit vom Tode Karl’3 1. bis zur Schlacht von Worcefter umifeht. 





376 Notizen und Nachrichten. 


Roſſel ihildert die Beziehungen der Herzogin Louiſe Dorothea 
von Sadhjen-Botha zu Voltaire hauptfählih auf Grund ihrer von 
Fräulein v. Dften-Saden verfaßten Biographie und der von Haafe in dem 
Archiv für neuere Sprachen und Literatur (1893 und 1894) veröffentlichten 
Briefe der Herzogin an Voltaire. (Nouvelle Revue, 1. April 1896.) 


Aus den Berichten des Grafen Stainville, fpäteren Herzogs von 
Choiſeul, während feiner Wirkſamkeit als Gejandter in Rom, gibt Andre 
Hallays in der Nouvelle Revue 1. Mai eine anmuthig zugeftugte Schil⸗ 
derung des diplomatiihen Debuts des jpäter fo einflußreihen StaatSmanns. 


Ein Schüler Delbrück's, Fr. Luckwaldt, bat es (Breub. Jahrbücher 
Mai 1895) verjudht, die Auffaſſung Lehmann's und Delbrüd’8 über den 
Urfprung des Siebenjährigen Krieges nad rüdwärts hin tiefer 
zu begründen dur den Nachweis, daB die Weitminfterfonvention von 
Friedrich Gr. nicht in defenfiver, jondern in offenjiver Abſicht abgefchlofien 
ift. Neued Material iſt nicht benutzt, die Indizien für die kriegerifhen 
Pläne des Königs, die Verfajler mit großem Scharfjinn herauszuſchälen 
ſucht, lafien fih auch mit der bißherigen Auffaljung vereinigen, und bes 
Verfaſſers Arbeit leidet fo fchließlih an demſelben „ichweren inneren 
Fehler“, den er feinen Gegnern vorwirft, daß fie „vorausſetzt, was erjt zu 
erweifen ijt“. Eine entfchiedene Ablehnung hat die Lehmann'ſche Hypotheſe 
neuerdings noch durh Ulmann in der Deutihen Revue (Mai 1896‘ er 
fahren. — Leider noch ohne Kenntnis des jetzt bei und entbrannten Streites 
beginnt Waddington als Vorläufer eines größeren Werkes in der Revue 
hist. (Mai-Suni 1895) eine Studie: Le renversement des alliancee en 
1756. Intereſſant tft namentlich) der Nachweis, dab es die naive Hoffnung 
der engliihen StaatSmänner beim Abſchluß der Weitminiterfonvention war, 
Preußen, Rußland und Öſterreich zu einem fontinentalen Friedensbunde 
unter einen Hut zu bringen. Friedrich's friedliche Abfichten bei der Weſt⸗ 
miniterfonvention gibt Waddington zu, aber durch jeine übereilte und un⸗ 
ehrliche Politik habe er ſich Frankreich Bertrauen veriherzt und dadurch 
den verhängnisvollen Bruch herbeigeführt. 


In Bd. 74, 180 Haben wir bereit8 darauf hingewieſen, dab in ber 
Revue des deux mondes eine neue Artifeljerie aus ber Feder des Herzogs 
von Broglie zu erjcheinen begonnen hat. Der Gegenftand, die Bündniſſe 
vor dem Siebenjährigen Krieg, hat dur den Streit um bie Lehmann'ſche 
Schrift an aktuellem Interefje gewonnen. Im Verlauf der Broglie'ſchen 
Taritellung findet fi manderlei, was der aufmerkſamen Beachtung werth 
ijt, wenn ſich aud) der von und angedeutete Charakter dieſer Ausführungen 
nicht verleugnet. Es wird auch darauf noch zurüdzufommen fein. 


Biacinto Temaria, La soppressione della Nunciatura ponti- 
tica in Piemonte nel 1753“, beleuchtet in interellanter Weile den Ehrgeiz 





378 Notizen und Nachrichten. 


Archivs zu Paris, die romantiihen Schidjale de Commodore Sibney 
Smith, des tapferen Vertheidiger® von St. Jean d'Acre, und feines 
Sekretärs John Wright, die, 1796 in franzöſiſche Hände gefallen, nad 
zweijähriger Gefangenſchaft durdy Emigranten befreit wurden. Wright, 1804 
abermals gefangen, endete 1805 im Temple wie Pichegru durch einen 
geheimnisvollen und nicht zweifeldfreien Selbitmord. (Correspondant, 
Ittober und November 1894.) 


Marquis Coſta de Beauregard veröffentlidt zwei Epijoden aus 
dem Leben des Grafen Auguſt de la Ferronays. Sn der einen 
fhildert er das Leben franzöfiiher Emigranten in Braunfchweig (1794), in 
der andern das Zerwürfnis zwiſchen Karl X. und jeiner Schwiegertochter, 
der Herzogin von Berry, nad deren heimliher Vermählung mit dem 
Grafen Luchefi und die Bemühungen de la Ferronays', die Eintracht unter 
den ezilirten Bourbonen (1833) herzujtellen. (Correspondant, November 
1894 und Sanuar 1895.) 


u. Böhtlingk's „altenmäßige Taritellung“ „Der Raftatter Ge: 
fandtenmord vor dem Karlsruher Schöffengeriht” (XHeidel 
berg, 3. Hörning, 18%, 112 S.) enthält hauptſächlich Mittheilungen über 
jeine Zänfereien mit der Direktion des großherzoglicden Generallandesardjivs 
in Karlöruhe, namentlih mit Archivrath Objer; Zäntereien, bei denen zur 
Aufhellung des „Rajtatter Gejandtenmordes” ſchlechterdings nichts heraus: 
kömmt. Auch wenn für die vor dem Schöfiengericht erörterten drei Punkte 
aus der Geſchichte diejed Ereigniſſes Böhtlingk's Auffajiung und Darftellung 
als richtig erwielen wären — was ich mindejten® für feine Behandlung des 
Zalleyrand’ichen Erlajje® vom 10. April 1799 nachdrücklich beitreite —, jo 
würde da8 an den allgemeinen Urtheil über Böhtling's Hypotheſe, das 
jeiner Zeit Wegele in dieſer Zeitichrift ausführlich begründet hat, nicht das 
mindejte ändern. Es bleibt dabei, daß Böhllingt für feine Anſicht von 
Debry's Schuld bisher nur „Vermuthungen, Möglichkeiten, Verdachtsgründe 
ohne „die Spur eines wirklichen Beweiſes“ beigebracht hat (S. 67), während 
für die Schuld der Literreicher fonjt jo weit auseinander gebende Forſcher. 
wie Enbel, Hüffer, Bivenot, mit guten Gründen und in jeltener Überein 
jtimmung fid) ausgeiprochen haben. Übrigens ift, wie id) beiläufig noch bemerken 
möchte, die von Böhtlingk wiederholt und jelbft in dem Immediatgeſuch an 
den Großherzog von Baden vorgetragene Behauptung, daß feine im Jahre 1883 
erichienene Schrift „Napoleon Bonaparte und der Raftatter Gefandtenmorb“ 
„gründlich todtgeſchwiegen“, „völlig unbeachtet geblieben jei” iS. 8 und 89) 
keineswegs ganz zutreffend; wenigſtens habe ich fie in den Mitth. a. d. Hi. 
Lit. in einer Beſprechung von ca. 1!/s Seite völlig ausreichend gewürdigt. 

P. B. 


In der Beitihr. f. Kit. u. Geſch. d. Staatöwilienichaften 3, 5. 6 ver 
öflentliht Rojin, als Ergänzung zu dem befannten ®erte Stölzel’s, 





380 Notizen und Nachrichten. 


Einen Beitrag zur orientaliſchen Frage liefert d'Avril in ber 
Revue des quest. histor. (29. Bd. 1. April 1895) mit der @efchichte der 
beiden Zandftrihe an ber bo8nifchen Küfte Klek und Sontorina. 


In einem interejianten, aber nicht jelten zum Widerſpruch reizenden 
Eſſay über das zweite Kaiſerreich (Correspondant 25. April 1896) dharal- 
terifirt E. Lamy Napoleon II. als einen uneigennügigen Souverän 
ohne nationalen und dynaſtiſchen Ehrgeiz, deiien vornehmites politifches 
Streben dahin ging, die Lage der niederen Vollksklaſſen und ber unters 
drüdten Nationen zu verbejiern. 

Ein Stüd aus der neueften preußiichen Verfafiungsgefhicdhte behandelt 
Gerichtsaſſeſſor Dr. Norden in den „Preußiſchen Jahrbüchern“, Mai 18%: 
die Gedichte und Auslegung des 1875 aufgehobenen Artikels 15 der Ber 
faflung über die Kirdenjelbjtändigfeit. Er führt aus, daß der Arrifel 
keineswegs ba8 Kirchenhoheitsreht des Staates aufheben jollte, jondern 
nur den Zwech hatte, den Kirchen die felbjtändige Ordnung ihres Lebens 
gebietes unter ftaatliher Kontrolle zu garantiren. 

Der Jahrgang 1894 des von Guſtav Roloff jept bearbeiteten Schult⸗ 
heß'ſchen Europäifhen Geſchichtskalenders (Münden, Bed. 398 ©.) 
macht einen durchaus günjtigen Eindrud. Der neue Heraußgeber hat ſich 
auh im Tone der am Schluß gegebenen politiichen Überficht von dem 
Borbilde des bisherigen Herausgebers, Hans Delbrüd, offenbar etwas 
leiten fajjen, ijt aber, maß bem GCharalter des Wertes auch wohl beſſer 
entjpricht, zurüdhaltender in feinen Urtheilen. An der bisherigen Ein 
richtung iſt nichts geändert, mit Dank zu begrüßen find die literarifchen 
Hinweiſe auf werthvollere Arbeiten zur Tagesgeſchichte und das Verſprechen, 
ſog. „Enthülungen” der Tagesprefje Über Vorgänge der vorhergehenden 
Fahre fortan zu buchen. 

Auf Grund jeiner reihen Kenntnis gibt D. Ehäfer, „Zur Eröfk 
nung des Nordojtjeelanal8“ (Preuß. Jahrbücher 1895, Mai), in großen 
Bügen eine Geſchichte des Dominium maris Baltici und zeigt dabei, bat 
der neue Kanal die Wiederaufnahme eines alten natürliden Handelsweges 
bedeutet. 


Aene Büder: Focke, Charlotte Korday. (Leipzig, Dunder & Hums- 
blot. 3,60 M. — Mem. du comte de Paroy (1789-1797) p. p. E 
Charavay. Paris, Plon. fr. 7.50.) — De Lanzac de Laborie. La 
domination francaise en Belgique, 1795—1814. 2 voll. Paris, Plon. 
fr. 16.) — Me&m. du general Thiebault, p. p. Calmettes. IV (1806-—1813). 
(Paris, Plon. fr. 7,50.) — Journal du marechal de Castellane 1804-1862. 
I. (Paris, Plon. fr. 7,50.) — Martens, Recueil des traltes... conclus 
par la Russie. XI. Angleterre. 1801--1831. (Peterdburg, Böhnke) — 
Mollat, Reden und Redner des eriten deutihen Parlamente (Kfterwicd, 
Bidfeldt. 13 M.) — N Schäffle, Cotta. A. Bettelheim, Geiiteshelben. 
18.) (Berlin, E. Hofmann. 2,40 M.. 





382 Notizen und Nachrichten. 


Arhivbenuger geitreift. Man beſchloß jedoch, in keine ausführliche Be⸗ 
fpredung hierüber einzutreten, jondern das Thema auf die Tagedorbnung 
des nächſten Hiſtorilertages zu fegen. 

Endlih fprah Prof. Kaltenbrunner-Innsbrud den Wunſch aus, 
geeignete Grundſätze aufzujtellen, um die Fundorte ber neueren 
periodiſchen Literatur den Forſchern bejier zugänglich zu machen. Auf 
den Antrag Stieve’8, der dieſen Wunſch lebhaft unterjtübte, wurbe der Aus⸗ 
ſchuß des Hiſtorikertages beauftragt, mit Zuziehfung Prof. Kaltenbrunner's 
ein Schema ausdzuarbeiten, da8 der Erfüllung dieſes Wunfches zu Grunde 
zu legen jet. Wir werden demnach aud) diefem Thema auf der nädhften 
Berjammlung wieder begegnen, unb es wird ſich dann berausjtellen, wie 
weit es praftiih zu verwirklichen fit. 

Wie in Leipzig, jo war auch diesmal ein Theil ber Zeit Vorträgen 
vorbehalten. Es ſprachen Prof. Bücher-Leipzig Über den Haushalt der 
Stadt Frankfurt aM. im Mittelalter und Prof. Eduard Meyer- 
Halle über die wirt hſchaftliche Entwidlung des Alterthums. Da 
der Bücdher’ihe Vortrag im Drud erſcheinen wird, gehen wir nicht näher 
auf ihn ein. Der Name des Redners, der ſich Hier auf jeinem wohlbeſtellten 
Arbeitsfelde bewegte, bürgte von vornherein für Itrenge Wiſſenſchaftlichkeit 
und Gediegenheit. Eine Slanzleiftung war auch der Vortrag von Meyer. 
In großen Zügen entwidelte er ein Bild, das mehrere Jahrtauſende umfaßte 
und dur den Gegenſatz zu den meijt engbegrenzten Einzelfragen, bie in 
den Debatten und aud in dem Bücher'ſchen Vortrag vorgeherricht hatten, 
ſich beſonders wirkſam bervorhob. Am eingehendften fchilderte er die Ent⸗ 
jtehung des alt=orientalifhen und die Entwidlung des griechiſchen Wirthſchafts⸗ 
lebens und ſchloß mit einer glänzenden Überficht über den Verfall der antiten 
Kultur im römifchen Kaiſerreich. 

Der Schluß der Verhandlungen betraf die Organifation ber 
Hijtorilertage. Der Ausſchuß ſchlug die Konftituirung der Verſamm⸗ 
lung zu einem Berbande deuticher Hijtorifer vor, der durch einen gejchäfte- 
führenden Ausſchuß von 15—20 Mitgliedern geleitet werden fol. Es ſoll 
lediglich eine Form jein, um das Zuftandelommen jpäterer Hiftorifertage zu 
jihern und fie auf eine gejicherte finanzielle Grundlage zu ftellen. Der 
Verbandsbeitrag wurde auf 5 M. jährlich feftgefegt, wofür jedes Mitglied 
die Berichte über die Verhandlungen unentgeltlich erhält. Die Einladungen 
jollen auch fernerhin allen Berufsgenojjen ohne Rüdficht auf ihre Zugehörig⸗ 
feit zum Verbande zugehen. Tieje Vorſchläge des Ausſchuſſes fanden mit 
geringen Abänderungen fajt einjtimmige Annahme. Es wird beabfichtigt, 
die Hiſtorikertage künftig alle zwei Jahr ftartfinden zu laſſen und zwar, um 
ein Zujammentrefien mit den Philologenverfammlungen zu vermeiden, in 
den Jahren mit gerader Endzahl. Ter Frühjahrstermin foll beibehalten 
werben, doch wird zum Übergang in das neue Spyitem der nädite Tag 
wahrjceinfih im Herbſt 1896 und zwar in Oſjterreich jtattfinden. 





334 Notizen und Nachrichten. 


15. Jahrhundert, herausgegeben von W. Stein, demnädit zu erwarten. 
Bon den erzbiſchöflich-kölniſchen Regeften wird der 1. Band 
(bis 1414) in nächſter Zeit zum Abſchluß gebracht werden können; dei⸗ 
gleihen der 1. Band der älteren rheiniſchen Urkunden (bis 800, 
bearbeitet von Perlbach, und die Publikation der Quellen zur älte 
ften Geſchichte des Sefuitenordens in den Rheinlanden 
(1543—1582) von 3. Hanfen. Auch die meilten übrigen Wrbeiten ber 
Gejellichaft jind in erfreulihem Fortgang begriffen. — Die Kommiffion 
für die Dentmälerjtatiitif der Rheinprovinz bat das 2. Heft 
bed 3. Bandes, umfajlend die Beichreibung der Denkmäler der Städte 
Barmen, Elberfeld, Remſcheid und der Sreife Lennep, Mettmann, Solingen, 
herausgegeben, und für das Jahr 189% fteht das Erſcheinen des ganzen 
3. Bandes, mit dem die Kunitdentmäler des Regierungsbezirks Düſſeldori 
ihren Abſchluß finden werden, in Ausſicht. — Das Heft jchließt mit dem 
Bericht der Meviffen-Siftung (vgl. unjere Notizen 73, 383; 75, 190, 


Die Hiſtoriſche Landeskommiſſion für Steiermarl ver 
fendet ihren 3. Beriht, März 1894 bi8 März 1895. Es werden darin 
Mittheilungen über die Arbeitövertheilung und über die Forfchungen in 
Ardiven gemadt. Hervorzuheben ijt namentlid ein al® Anhang III ab» 
gedrudter, eingehender Bericht über den Inhalt von Materialien zur fteier- 
märkiſchen Geſchichte in den Tandichaftlihen Ardiven zu Görz und Laibadı 
von U. Luſchin v. Ebengreutb. 

Sm Halle ftarb am 31. März Otto Najemann, vormals Direktor des 
Stadtgymnafiums dajelbft (geb. 21. Januar 1821 zu Kochſtedt, Verfafler 
mehrerer Schriften zur Reformationsgeſchichte (Friedrich der Weiſe und Karl V.. 


In Wiesbaden jtarb Mitte April der Profeſſor der Ardäologie an der 
Univerjität Königsberg Guſtav Hirjchfeld, geb. 4. November 1847 in 
Pyritz. Er leitete in den Jahren 1875—77 die deutichen Ausgrabungen in 
Olympia und bat fpäter aud in Aleinafien fruchtbare Studien getrieben 
(vgl. feine Schrift „Die Felfenrelief® in Kleinaſien und das Boll ber 
Hettiter”\. 

Am 30. April it in Wiesbaden Guſtav Freytag im 79. Lebenk 
jahre aus dem Leben geſchieden. Er hat, wie wenige, bie Freude an der 
Geihichte und wirkliches Berftändnis dafür in den weiteren Kreiſen gehoben, 
und was wäre unjere Wiſſenſchaft, wenn fie feine lebendige Theilnahme 
fände bei den gebildeten Kreijen der Nation. 


Über Rojfi notiren wir unter vielen andern Nekrologen einen Auf 
jag von Jean Guiraud in der Revue Histor. 58, 1: Jean-Baptiste 
de Rossi. Sa personne et son a@uvre. 


In den am 2. Juni verjtorbenen ehemaligen preußiichen Suftizmintfter 
v. Friedberg verliert auch die Hiſtoriſche Zeitfchrift einen „sreund und 
Mitarbeiter. 


— — — — - 





386 R. Oldenbourg sen., 


wurde, ich mir zu verweilen erlaube. Sch, der ich ſehr bald zu 
Eybel, nad) jeinem Eintritt in die Münchener Kreiſe, in freund: 
Ihaftlihe Beziehung gelangte, übernahm als Theilhaber ber 
Cotta’jchen Buchhandlung den Verlag, ein geichäftliches Ber 
bältnis, das während 75 Bänden der Feitichrift durch keinen 
Mißton getrübt wurde. 

Sybel war aber zu jehr jchaffender und Fünjtleriich bildender 
Hiltorifer, um in der Arbeit des täglichen Sammeln? und ge 
Ichäftlicher Rührigfeit aufgehen zu dürfen. Er juchte fich daher 
vom Anfange der Zeitichrift an jüngere Gefährten für dieje Arbeit, 
und er war aud) darin jo glüdlich in der Wahl, daß alle, die 
ſich ihm in diefer Weiſe angeſchloſſen, jpäter bedeutende jelbjtändige 
Stellungen in ihrer Wiſſenſchaft eingenommen haben. Ich er: 
innere bier nur an Kluckhohn, VBarrentrapp, Maurenbrecher, Lehr 
mann. Sybel pflegte dieſe Mitarbeiter in der Redaktion früher 
weniger, jpäter mehr möglichit frei Ichalten zu laffen und behielt 
fih nur vor, in kritiichen Momenten und Fragen einzugreifen und 
zu entjicheiden. Er waltete gewifjermaßen als wijjenfchaftliche 
Vorjehung über der Zeitſchrift. Edel, wie er das Leben über 
haupt, faßte er auch das Verhältnis zu jeinen Mitarbeitern auf, 
und jelbjt wo prinzipielle Fragen zur Scheidung führten, ging 
Jeder der Beiden mit gegemjeitiger voller Anerfennung jener pers 
lönlihen Würde und wiljenjchaftlichen Selbjtändigfeit aus dem 
Konflift hervor. Ber aller mit Recht behaupteten Selbitherrlic” 
feit in allen jolchen ragen verſchmähte er es nicht, den Rath 
des Freundes einzuholen, dem er die ökonomiſchen Interejjen der 
Zeitſchrift anvertraut hatte. 

Sch, als 6 Iahre älter als der Verſtorbene, mußte erwarten, 
früher ale er aus diejer Welt zu jcheiden. Sept ſtehe ich im 
84. Jahre mit meinen an meinem Gejchäft betheiligten Söhnen 
und den anderen Betheiligten vor der recht eigentlich umlösbaren 
Aufgabe, für den Gründer der in gewiſſem Sinne vermatiten 
Zeitſchrift Erjaß zu finden. Unlösbar, weil der im gemeinen 
Leben erfundene Sat, daß Niemand in diefer Welt unentbehrlich 
jei, jalih it, und jeder in bedeutender Wirfjamfeit Lebende 
Menſch unerjeglich it. Dem ungeachtet müſſen alle Betheiligten 





888 N. Oldenbourg sen., 


vorläufig zu formiren. Ein paar diefer Arbeiten find in der 
„Deutichen Rundſchau“ und in der „Hiftorifchen Zeitſchrift“ ab 
gedrudt. Unterbrochen wurden dieje Studien Anfang der 80 er Jahre 
durch die Einladung des Fürſten Bismard an Sybel, fich der 
Gefchichte der „Begründung des Deutjchen Reiches durch Katier 
Wilhelm I.“ zu widmen. Er theilte mir diejen wichtigen Vorgang 
jofort mit, und unfer Vertrag für die Deutfche Gejchichte wurde auf 
das neue Werf übertragen. Die deutiche Welt hat davon vor fünf 
Sahren fünf Bände erhalten und feit vorigem Jahre den 6. und 
7. Band. Sybel betrachtete eigentli) mit den letzteren das 
Werf als abgeichloffen, und mit einem gewilfen Grauen die an 
ihn geftellte Forderung, in einem 8. Bande den Krieg von 
1870/71 zu ſchildern. Es lag ja klar vor ihm, daß ein jo ein 
heitliche® und überjichtliches Bild, wie er von dem großen 
Böhmtichen Feldzuge gegeben, den in ſechs Monaten jich voll 
ztehenden friegeriichen Vorgängen in Frankreich jchwer ab» 
zugeivinnen war. Und doch hat er jich gelegentlich mündlich 
darüber ausgeiprochen, wie er die jchivierige Aufgabe zu löſen 
gedenfe, wenn Leben und Gefundheit ihm erhalten bleibe. Er 
gedachte den Aufmarſch und den recht eigentlich dramattichen 
Theil des Feldzuges von Weißenburg bis Sedan in ausführlicherer 
Behandlung, die übrigen die deutſchen Heereskräfte zeriplitternden 
Vorgänge aber in fürzeren Überjichten zu geben. Wichtige münd« 
liche Mittheilungen von leitenden Perſonen jtanden ihm dabei zu 
Gebote und hätten der Tarftellung eine eigene Belebung gegeben. 
Aufgezeichnet hat er davon, jo weit von jeinem Nachlafie bis jegt 
verlautet, nichts. 

Der achte Band iſt denn uugeichrieben geblieben und wird 
eö bleiben, da nicht einmal Vorarbeiten dazu vorhanden find. 
Die zunehmende Kränklichkeit des Verfaſſers der jieben Bände 
war auch in diejer Richtung enticheidend. Sie hinderte ihn an 
der nothwendigen Stonzentration für die Tarjtellung großer aber 
fomplizirter Thatjachen, während jein Geiſt für die Aufgaben des 
Moments Io jrei wie je blieb. Eine ganze Reihe von Briefen an 
mic) perjönlicd) oder an mein Haus liegen mir vor als bemundern 
würdige Zeugen des unter läftigen Leiden freigebliebenen Geiſies. 


Heinrich v. Sybel 7. 389 


Das Anjehen und der Ruhm, den Sybel jchon während 
jeiner Münchener Zeit durch feine franzöfische Geichichte und andere 
fleinere Arbeiten jic erworben hatte, iſt jeitdem ftetd gewachſen, 
und mit der „Begründung des Deutichen Reiches durch Kaiſer 
Wilhelm J.“ ift er recht eigentlich in das Herz desjenigen Theils 
des deutichen Volkes gewachſen, der nationale Empfindungen fennt 
und pflegt. Es iſt das glüdlicherweife nicht nur der befjere, 
jondern auch der größere, jedenfall3 der in allen erniten Fragen 
enticheidende Theil. Sybel jchied aus diefer Welt als ein natio- 
naler Held Deutjchlande. Die ihm aber näher jtanden, als 
dies Durch lediglich literarifchen Verkehr möglich ijt, verlieren an 
- ihm noch viel mehr: einen in ihren Ansprüchen an jein Herz nie 
verfagenden Freund. 


Hohenſchwangau, 20. Auguſt 1895. 


R. Oldenbourg sen. 


Heinrich v. Sybel F. 


Ein Meifter und Bahnbrecher unjerer Wiſſenſchaft, einer der 
fraftvolliten Führer der geiftig=politifchen Bewegung, aus der da3 
neue Deutjche Reich hervorgegangen iſt, der Begründer und Leiter 
unferer Beitjchrift ift von uns geſchieden. ine tiefe Bewegung 
ging durch Deutjchland, da wieder einer der wenigen noch ragen 
den Wipfel jener glänzenden Zeit dahingejunfen iſt, deren Inhalt 
er, früher ein Streiter mit jcharfem Schwerte, uns jetzt in jeinen 
legten Jahren noch zum abgeflärten Kunſtwerk geformt bieten 
konnte. 

Die hiſtoriſche Betrachtung jinnt jogleich, diejes reiche und 
fruchtbare Leben in jeine Wurzeln zurüdzuverfolgen, e8 zu vers 
fnüpfen mit dem allgemeinen Gange der Dinge, und welches 
Gelehrtenleben wäre wohl geeigneter als das jeinige, den großen 
Abschnitt der deutichen Geichichte von 1840 bis 1871 im Spiegel 
einer wachjenden und wirkenden Individualität vorzuführen, deren 
eigenfte Idee e8 war, ihr Beites an die hohen Aufgaben ihrer 
Beit zu jeßen. 

Als er emporwuchs, jtanden jich zwei geijtige Mächte m 
Deutichland gegenüber, die gar nicht mit einander kämpfen fonnten, 
ohne jich fortwährend gegenfeitig zu befruchten, und deren jede 
erjt dann erfolgreid) wirken fonnte, nachdem ſie ſich auch einen 
Theil der Gedanken des Gegners zu eigen gemadgt hatte. Auf 
ihrer harmoniſchen Verbindung beruht die große geichichtliche 
Zeitung Bismard’s, beruht aud) das Lebenswerk Sybel's. Merk: 
würdig, wie jchon in feiner Augendentwidlung dieſe Verbindung 





892 Fr. Meinede, 


wejentlich auch noch beeinflußt durch die Gedanken der Reitan- 
rationgzeit, in dem Kampfe des Princips der Vollsjouveränetät 
mit den alten legitimen und hiftorischen Gewalten die Signatur 
der Beit erblidte, glaubte Sybel, friih und zuverfichtlih in die 
Zukunft ftrebend, dieſen Gegenjag bereit3 aufgehoben in dem 
modernen Rechtsitaate, der, ſtark und einheitlich, zugleich dem 
Individuum freieiten Raum zur Entfaltung gewähre. Won diefem 
feiten Punfte aus machte er nun nach recht? wie nad) links bin 
Front. Mit der hiftoriichen Schule und mit jeinem politijchen 
Lehrmeiſter Burke verabjcheute er den Deſpotismus der radifalen 
Theorien. Als rechtes Kind des rheinischen Bürgerthums forderte 
er, daB die Monardjie jich auf den fapitalfräftigen, erwerbenden 
Mittelitand ftüge, und unterjchäßte freilich dabei Damals noch die 
politische Kraft des Grundbeſitzes. Aber noch gefährlicher als der 
Kommunismus erichien ihm doch damals vor 1848 der Ultras 
montanismug, der im Bunde mit der feudalen Partei die Einheit 
des Staates und das Necht der freien Forſchung bedrohte. 

„Sch weiß nicht,” hatte Sybel 1846 gejagt!), „ob etwa das 
religiöfe und philofophiiche Intereffe für ſich allem im Stande tft, 
den willenjichaftlichen Arbeiten die Friſche und Wärme einzuhauchen, 
die jie aus einer engen Verbindung mit den praftifchen Angelegen: 
beiten des Volkes gewinnen.” Damals glaubte er noch an em 
gemeinjames Emporjteigen von Staat und Wiſſenſchaft. Wenn 
nun nad) dem traurigen Scheitern der politiichen Hoffnungen im 
den Fünfziger Jahren doc) eine politiiche Hiftorie in Deutjchland 
emporblühte, die an Gewifjenhaftigfeit der Forſchung, Kraft und 
euer der Daritellung, ntichiedenheit und Einheitlichkeit der 
politischen und ſittlichen Maßſtäbe ihres Gleichen nicht Hatte, To 
{ft das ein Beweis, wie tief jie vorbereitet war im den Berjön- 
lichkeiten, die jie übten, und in den VBedürfniffen der Zeit. Und 
es war geradezu ein Segen für das wiſſenſchaftliche und in legter 
Linie aud) für das Staatsleben, daß jebt eine Zeit Der ruhigen, 
inneren 1 Konzentration folgte, und die Talente, ftatt ſich an den 


») Über das Verhältnis unjerer Univerfitäten zum öffentlichen Leben. 
©. 12. 





394 Fr. Meinede, 


Strafe bei den Gegnern der Revolution. Das wichtigite und 
aus den perjönlichen Ideen Sybel’3 hervorgegangene Ergebnis 
war politiicher Art. Wenn man die Gejchichte des Ddeutichen 
Liberalismus als einen Reinigungsprozeß anjehen kann, als eine 
allmählicye Ausicheidung des fremden, franzöjiich-radtfalen Ele 
ments gu3 dem deutſchen Blute, jo kommt dem Sybel’jchen Buche 
ein ganz bedeutender Antheil des Verdienſtes daran zu. 

Und jo puljirt in allen hiſtoriſchen Schriften Sybel's em 
politiicher Herzſchlag. Er fehlte ja jelbjt bei der Gründung 
unjerer Zeitſchrift nicht. Seine alten Feinde, Radikalismus, 
Feudalismus und Ultramontanismus, jollten von ihr verbannt 
jein, und den lebendigen Zujammendang des Vergangenen mit 
der Gegenwart zu pflegen, war und blieb das ausgejprochene 
Ziel unjerer Zeitjchrift. Ihrem Begründer war eg vergönnt, die 
von ihm jelbjt mit ausgejtreute Saat reifen zu ſehen und dann 
am Abend des Lebens jeiner Zeit ein von der reifen und milden 
Weisheit des Alters erfülltes Denfmal zu jegen. Alle feine Ideen 
fonnten hier noch einmal zujammenflingen in beruhigter Harmonie: 
der jtarfe, nationale Staat mit jeinen biftoriichen Wurzeln, das 
freie Berfafjungsleben, das auf den realen Kräften der Nation 
beruht, die ſiegreich durchgreifende ftaatSmänntiche Perjönlichkett, 
die Herrſchaft der jittlichen Gelege in der Gejchichte. 

Ein wunderbar jchöner Abſchluß jeines Lebenswerkes. Nicht 
ebenfo beruhigt Jah er in die Zukunft. Er, der jedem Dogma 
widerjtrebte, aber aus einer zwar einfachen, doch jehr beitimmten 
und fejtbegründeten tdealijtiichen Weltanichauung die Nraft zum 
Handeln Ichöpfte, ja mit Trauer in unjerer Wiſſenſchaft den 
Einbruch materialiftiicher Gedanken. Kine hiltoriiche Fachwiſſen⸗ 
ſchaft mit zünftigem Charafter, wie jte jich neuerdings mehr und 
mehr entwidelt, war ihm ein Greuel, und über Lehrbücher der 
hiſtoriſchen Methode Tächelte er. Schon als Künſtler jpottete er 
über die, welche über den Geheimniſſen der Zeugung brüteten, 
jtatt frijch darauf los zu produziren. Bor allem aber beflagte 
er die Yoderumg des Bündniffes zwiſchen Politik umd Hiſtorie. 
Sie war ja eine unvermeidliche Folge unierer inneren Entiwidlung, 
aber mancher von uns Süngeren bat jie wohl ſchon jchmwer 














Die ftädtifche Verwaltung des Mittelalters als Vorbild 
der fpäteren Territorialverwaltuug. 
Bon 
Georg v. Below. 


$ 1. Die bisherige Literatur. 

„Die Städte find in Europa gleichſam ftehende Heerlager 
der Kultur, Werfitätten des Fleißes und der Anfang einer befjern 
Staat3haushaltung geworden, ohne welche dies Land noch jet 
eine Wüfte wäre.” 

Mit diefen Worten beginnt Herder das vorlegte Kapitel 
jeiner Ideen zur Philoſophie der Gejchichte der DMenjchbheit.*) 

Wenn jein berühmtes Werk „unglaublich durch fich felbft 
und durch bundertfache Ableitungen auf die Bildung der ganzen 
Nation eingewirkt“ hat?), jo gilt dies ganz bejonderd von 
jenem Satze. Das darin ausgejprochene Urtheil ift in der That 
Gemeingut de8 deutjchen Volkes geworden. 

Indem Herder den „Anfang einer beſſern Staatshaus- 
haltung” in den Städten erwähnt, jcheint er anzudeuten, daB 
deren Werk von einem anderen Körper fortgeführt worden: ift. 
Allein er jpricht davon nicht. Unter den Mächten, die die Träger 
einer neuen Zeit find, nennt er feine anderen politifchen Körper 
als die Städte. Ihnen jtellt er, offenbar als überwiegend feindlich, 

1) Ausgabe von 1791 (Riga und Leipzig), 4. Theil, S. 328, 


2) Bol. R. Haym, Herder nad feinem Leben und feinen Werfen 
2 (Berlin 1885), 262. 





m 


6. D. Belom, Die ſiadtiſce Verwaltung des Mittelalters x. 607 


ie „Negenten, Priefter und Edle“ gegenüber. Nur den 
ieftern, der „Sierarchie“, weiſt er noch eine relative Bedeutung 
‚ infofern fie den „Despoten“ ') Widerjtand geleiftet haben, 
die Arbeit der Städte von anderen politijchen Gewalten 
worden ift, daß dieſe bereit® im ausgehenden 
„deſſen hauptſächlichſte Erſcheinungen er jejildern will, 
beginnen, daß fie auch während des Mittelalters ſchon für 
„Kultur“ thätig find, erfahren wir aus jeiner Darftellung 
Der „Schatten eines friedlichen Stadtregiments“, die Ent 
, Erfindungen, Künfte und Univerjitäten — lediglich 
find nad) ihm die Mächte der neuen Zeit, welche „die Herr- 
Hr Europas gegründet“ haben. 
Herder's einfeitige Auffafjung wurzelt in den Verhältniffen 
Anfchauungen feiner Zeit, der Zeit der Zerjallenheit 
ſds, des Kosmopolitismus, des Nationalismus. Gerade 
den een zur Philoſophie der Gejchichte vertritt er, im 
?genfag zu vg älteren Außerungen, den Standpunft der 
Hlfärung.*) Die Menfchen jener Zeit „find dem geichichtlichen 
ben der Völker in dem Grade entfremdet, daß fie fich bei 
legen gar nichts amderes zu denfen willen), als unmüge 
tufereien unter den Fürſten, welche die Völker nichts angehen, 
tex denen die Völker nur leiden”. Man „weiß nicht, was es 
eutet, wenn bie Geijter im allgemeinen durch große, den Horie 
it erweiternde Begebenheiten und Erlebnifje angeregt find.“?) 
am überjah, da die Städte des Mittelalters ihren großen 
Afluß nicht ausgeübt haben würden, wenn ihre Bürger nicht 
IE viel von den Neigungen und Eigenichaften der von Herder 
ng geachteten „Regenten und Edlen“ beſeſſen hätten. Auch 
dieſer Einſeitigleit lebt Herder's Darſtellung“) heute noch, bei 








‚Herder a. a. ©. ©. 888 f 
Bgl. Haym a. a. ©. ©. 231. 
Worte Th, d. Verngardi's. ©. die charattervolle Krritit der Herder- 
Sr Ausführungen in TH. v. Bernhardi’8 Leben (Leipzig 18%) 4,63. BgL 
& @ött, Gel, Anz. 1892 S. 288, 

*) Eine Widerlegung der Darftellung Herder's im einzelnen iſt theils 
Seeflüffig, tbeils ergibt fie ſich von ſelbſt aus dem folgenden. 


— I 


eo 





398 G. v. Belom, 


vielen Anhängern der Auffafiung, die fich die kulturgeſchichtliche 
nennt. ‘) 

Einem wejentlich verjchiedenen Standpunft begegnen wir in 
der neben der Herder’ichen berühmteften gefchichtöphilofophiichen 
Darftellung, in Hegel's Vorlefungen über die Philofophie der 
Gefchichte. Die Verdienite der Städte des Mittelalterd werden 
bier zwar durdjaus nicht geleugnet.?) Allein wie follte Hegel, 
der die WVeltgeichichte weſentlich als Staatengeihichte, den Etaat 
al3 die Wirklichkeit der fittlichen Idee auffaßte, der das Wirkliche 
für vernünftig hielt, der Gegner des Liberalismus jeiner Zeit?), 
der Einfeitigfeit der Aufflärungsperiode fähig fein? In jeiner 
Daritellung jteht nicht die Stadt, jondern der Staat im Border 
grunde! Das große Ereignis, der „Fortſchritt“ des ausgehenden 
Mittelalter iſt in feinen Augen ein jtaatlicye8 Ereignis: „der 
Übergang der Feudalherrſchaft in die Monarchie“ *), welchen er als 
da8 „Brechen der jubjektiven Willfür der Wereinzelung der 
Macht“, „das Hervorgehen einer Obergewalt” definirt. Und er 
bebt hervor, daß auch die Städte diefer Obergewalt unterworfen 
werden: fie bilden fortan Mächte „im Gemeinweien“. Es verdient 
Erwähnung, daß er auf die energiiche Verwirklihung diejed Ger 
danfens in Frankreich hinmeift.°) 

Wie die Geihichtsphilofophen, fo gingen auch die Juriſten 
und Hiſtoriker in ihren Anjchauungen über die allgemeine 


2) Bgl. hierzu (kritiich) Delbrüd, Über die Bebeutung der Erfindungen 
in der Geſchichte, Hiſtoriſche und politiiche Aufjäge (Berlin 1887), S. 339 fi. 
Dietrich Schäfer, Geſchichte und Kulturgeſchichte (Jena 1891). Gött. Gel. 
Anz. 1892 ©. 280 fi. 

”) Hegel, Vorlefungen über die Philoſophie der Geſchichte, herausgeg. 
von Ed. Gang (Berlin 1837), S. 891 ff. Vgl. 53.8. S. 34: „Die Stäbte, 
wo ein rechtlicher Zuſtand zuerjt wieder begann.” 

2) Bgl. H. dv. Treitichte, Deutiche Geichichte im 19. Jahrhundert 4, 484 

*) So überidreibt Hegel (a. a. D. €. 403 ff.) das vorlegte Kapitel bei 
über da8 Mittelalter handelnden Abfchnittes. 

er Hegel a.a. D. ©. 408f. ©. 430 ſpricht er den in diefem Zuſammen⸗ 
bang bemerkenswerten Sag aus (allerdingd nicht in unmittelbarer Us 
wendung auf die Städte): „Man muß, wenn von Freiheit gejprochen wird, 
immer wohl Acht geben, ob es nicht eigentlich Privatintereiien find, von denen 
geiprodhen wird.“ 





400 G. v. Below, 


Ranke von der „jophiftiichen, in fich ſelbſt nichtigen und nur 
durch den Bannſpruch jeltiamer Formeln wirkſamen Bhilofophie“ 
Hegel’8 !) etwas wiſſen wollte, jchon allein feine äfthetiiche Ye 
geifterung für das gejchichtlide Menjchendajein fchlechthin und 
fein Empiriömus ?) laffen ihn Anjchauungen huldigen, die denen 
Hegel's trog des verjchiedenen Urjprungs verwandt find. 

Wenn nun jeit Ranfe?) die Bedeutung des Staates, d. h., 
jür Deutichland, der Territorien, nicht mehr unterfchägt und 
andrerjeit3 dag Verdienit der Städte doch ebenjo wenig über 
jehen wurde, jo fam e3 darauf an, ihr gegenjeitiges Verhältnis 
näher zu beichreiben, zu erklären, wie die Städte von den Terri« 
torien unterworjen werden fonnten, ohne daß das, was jte ges 
Ichaffen, verloren ging. Die Formel für die Beantwortung 
diefer Frage wurde darin gefunden, daß die bejiegten Städte Die 
Lehrmeiſter der XTerritorialherren geworden, daB die ftädtiiche 
Verwaltung in der territorialen nachgeahmt worden ijt. 

Es iſt vielleicht nicht Zufall, daß diefe Erklärung zuerit 
gerade von einem perjönlichen Schüler Ranke's“) und in einem 
ihm gemwidmeten Buche gegeben worden ift: in Wilhelm Arnold's 
Berfafiungsgeichichte der deutjchen Freiſtädte (1854). Arnold 


1) L. v. Ranke, Zur eigenen Lebensgeſchichte, herausg. von Wifred 
Dove, ©. 174. 

2) Bol. Alfr. Dove, Allg. Deutiche Bıogr. 27, 247. 251. 

5) Ranke jelbit hebt auch hervor, daß man in den Zerritorien „jo nad 
Einheit wie nad Ordnung ftrebte”, und daß „überall die Macht der innern 
lofalen Antriebe mit der Autorität der Reichdgewalten wetteiferte”. Deutiche 
Geſch. im Zeitalter der Reformation (fünfte Aufl.) 1, 223. Bol. auch ©. 41. 
Man halte dagegen, was oh. v. Müller, 24 Bücher allgemeiner Geſchichten 
(Gotta’jche Ausgabe von 1831) 5, 105 jagt: „Huch in der Gefchichte der Fürften 
des teutichen Reiche jüngt man an, höhere und neue Abgaben von Land und 
Verbrauche zu bemerken; Staatsgefahren oder dem Geiſte der Zeit angemeffene 
Anftalten wurden der Vorwand. Wenn Gewohnheit fie erträglid gemadtt, 
jo waren Gründe zur Perpetuirung nicht ſchwer zu finden.“ Beide Hiitoriter 
äupern ſich nur jehr furz über das deutiche Yürftentyum in der Zeit des 
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Und doc iſt das, was fie jagen, 
für ihr biltorifches Urtbeil überaus charakteriſtiſch. 

% Val. L. dv. Ranke, Zur eigenen Lebensgeſchichte, herausg. von Alfr. 
Tove, S. 556 f. 





402 ®. v. Below, 


1450')”, in dem er zugleich auf ihre vorausgehenden Kämpfe einen 
Blick wirft und nach einer allgemeinen Betrachtung über die Reſultate 
des heftigen Streites bemerft: „E3 bereitete ſich auf allen Seiten 
die Entwidlung vor, durch welche am Ende des 15. Jahrhunderts 
das Territorialfyitem zu vorwiegender Geltung, das Fürftenthum, 
in einer Reihe bedeutender Perjönlichfeiten vertreten, zu jenem 
innern Abſchluſſe gelangte, der ihm die Zukunft gefichert hat. 
Gerade hierin aber mußten ihm die Städte zum Vorbild dienen, 
deren ſtaatliche Organijation neben aller Eigenthümlichkeit jo 
vieles enthielt, was für die neuen Bildungen zugleich die Grund» 
idee und den Ausgangspunkt bergeben ſollte. So haben bie 
Bürger, indem jie ihr Gemeinweſen und die politiiche Selb» 
jtändigfeit desjelben gegen Die Angriffe der Fürſten und des 
Adels ſchützten, nicht bloß den Boden gejichert, auf welchem Künſte 
und Wifjenichaften, die ganze reiche Kultur jener Tage immer 
glänzender ſich entfalten jollten, jie haben eine bedeutungsvolle 
Errungenichaft auch für das ‚Staatsleben der Folgezeit davon⸗ 
getragen*. Kern gibt feinen Worten zwar feine weitere Be 
gründung. ber fie verdienen wegen ihrer geichidten Formu⸗ 
lierung und wegen des YZujammenhanges, in dem er den Ge 
danken Arnold’8 wiederholt, Erwähnung. 

G. 8%. v. Maurer hat in feiner in den Jahren 1869—71 
erichienenen Geſchichte der Städteverfajjung in Deutichland?) auch 
die Abhängigfeit der territorialen von der jtädtiichen Verwaltung 
jtarf betont und durch mancherlei, wiewohl nicht immer wohl 
gejichteted Material belegt. 

Sehr energiich hat jodann Bierfe die Vorbildlichfeit der 
Städte für die Einrichtungen der Territorien betont. In den 
in den Iahren 1868 und 1873 erichienenen erjten beiden Bänden 
feiner Darftellung des „deutichen Genoſſenſchaftsrechtes“ ſpielt 
gerade jener Gedanke eine Hauptrolle Er ift eng mit der 
Grundidee des Buches, der von der rechtbildenden Straft des 


1), Hiftoriiche® Tafchenbuh, herausg. von %. v. Naumer, 4. Folge, 
7. Jahrg. S. 9T—124. Wiederabgedrudt in den „Geichichtlihen WBorträgen 
und Auffäpen” von Th. v. Kern (1875) S. 102 ff. 

2) Bgl. namentlid 4, 82 fi. 


ah. 





404 G. v. Below, 


Förderung unjerer Kenntnis der deutſchen Verwaltungsgeſchichte. 
Indeſſen eine allgemeine zuſammenfaſſende Würdigung jenes Zu: 
jammenhange® hat man inzwiſchen nicht wieder unternommen.'!) 
Es jehlt jogar noch viel daran, daß die Ausführungen Arnold's, 
Maurer’s, Gierke's und ihrer Nachfolger überall berüdiichtigt 
werden.) Wohl weiß man heute überall, auch außerhalb der 
Kreiſe der Hiftorifer, daß das Dlittelalter die Zeit der „Gejtaltungen 
Hleine® Umfangs“ ®) ijt, daß mit dem Beginn der Neuzeit der 
Staat fid) die kleinen Gemeinmwejen unterordnet, und daß „uns 
jtreitig ein Gewinn an allgemeiner Ordnung und Sicherheit in 
der Niederdrüdung der unzähligen Eleinen Gewalten vor wenigen 
großen lag“.*) Allein den Zujammenhang zwijchen dem reichen 
und intenfiven Leben der Gemeinden des Mittelalterd und der 
ergiebigen Thätigfeit der jpäteren Staaten hat man noch zu 
wenig erforjcht. Und doch wird es erjt durch die Ergründung 
diefes Zufammenhanges ar werden, weshalb die Beit der Städte 
durch die der Staaten ohne einen Verluft an allgemeiner Kultur 
abgelöft werden konnte, weshalb die Ablöjung vielmehr deren 
Fortſchritt beförderte, nicht etwa bloß um der „Ordnung und 

1) Sturz weift auf den Zuſammenhang %. dv. Bezold, Gefch. der deutjchen 
Reformation S. 26 f. hin. 

2) In den PDarjtellungen der deutfchen Geſchichte von Nipfh und Kamp 
recht, in welchen über Beriajiung, Verwaltung und Wirthſchaft fo viel 
gefprodyen und jo menig gejagt wird, jucht man vergeblich nad) Belehrung 
über diejen Punkt. Vgl. z.B. Nitzſch, Geſchichte des deutfchen Volkes (1885) 
3, 444 ff. Was Lamprecht hierüber jagt, beſteht hauptſächlich nur in einem 
reichlichen Gebrauch der Worte „geldwirthſchaftlich“ und „individualiftiich”. 
Bol. 3. B. Lampredit, Deutſche Geſchichte 4, 171 und 514, 4 ff. Dronien 
a. a. O. S. Y und 14 5. bat dad, was Nampredjt andeuten will, fchon befler 
ausgedrüdt. 

2) Lope, Mitrotogmus 3 (vierte Aufl., 1888), 159. gl. ebenda 
©. 162: „Wir ſehen auch dieſes reihe Leben das der Städte) in einer 
Menge jicharjbegrenzter Körperſchaften Aryitallifiren.“ 

) A. a. 0. €. 169. Ebenda bemerkt Lotze von den einzelnen Gemeinden 
de Mittelalters, daß „deren lebhafter und würdiger Gemeinſinn dod nid 
für die mangelnde Größe und Vielfeitigleit der Berhältnifie entichädigen fonnte 
und deren wechleljeitige Beziehungen unjiher und unorganifirt geblieben 
waren”. 





406 G. v. Below, 


Territorien und Städten in Oberdeutſchland ſchildert. Wir 
haben es eben hier mit der in der gejchichtlicden Entwidlung 
nicht felten hervortretenden Thatjache zu thun, daß nach heftigen 
Kampfe die unterliegende Bartei als die Lehrmeifterin der jieg- 
reichen erjcheint. Es wird aber ſehr wejentlich zum Berjtändn 
dieſes Verhältnifjes beitragen, wenn wir die Natur der von dent 
Territorien gegen die Städte geführten Kämpfe feitzuftellen juchen- 
Th. v. Kern!) jpricht von einem „PBrincipienfampf“ zwiſchen 
Landesherren und Städten. Es iſt richtig, daß die Städte über- 
zeugt waren, die Landesherren wollten fie unter ihre Gewalt 
bringen.?) Wenn die Barteien fich nicht ohne Ausnahme nad) 
den Ständiichen Gruppen jonderten, fondern manche Städte es 
mit den Landesherren, manche Landesherren ed mit den Städten 


nur für da8 frühere Mittelalter (und auch Hier nicht fo unbedingt) zu. Bgl. 
Loge, Mikrolosmus 3, 163: „In vieliahen Beziehungen jtand am Anfange 
des Mittelalters die Kirche an der Spitze des Fortſchritts und der Zivilifation; 
die meijten gemeinnügigen Cinridytungen gingen von ihr aus“ u. ſ. w. 

1) Hiftor. Tafhenbud a. a. O. ©. 99 fi.; Chroniten ber deutſchen 
Städte 2, 417. Mir Rückſicht zunächſt auf die Kämpfe des 14. Jahrhunderts, 
aber doch wohl auch in einem allgemeineren Sinne urtheilt dagegen Yindner, 
Deutſche Geichichte unter den Habsburgern und Yuremburgern 2, 144: „Dar 
wirtbichaftlidhe und innere eben der Neicheftädte und der größeren Fürſten⸗ 
ſicidte unterſchied ſich nicht wejentlid. Doc, iſt es nicht richtig, deswegen 
dad Bürgertum als eine Einheit aufzufafjen, deren Vertreter die Reichdſtädte 
geweſen wären, und ebenjo irrig ift es, von einer grundfäglichen Feindſchait 
zwifhen BürgertHum und Fürſtenthum zu reden. Die Reeichsſtädte fin> 
niemal8 die Vorjehter eines Geſammtbürgerthums geweſen und haben es 
niemal3 fein wollen. Sie jdylojien nur einen Bruchteil der bürgerlichen 
Bevölferung ein. Die übrige, an Zahl weit überwiegende Menge war vertheilt 
unter die vielen Landesherrſchaften.“ S.145: „Die Behauptung, der Kampf 
zwiſchen Fürſten und Bürgerichaften fei eine Reaktion des Landes gegen bie 
Stadt, gemwifjermaßen ein Widerjtand gegen die bloße Geldmacht geweſen. it 

. wohl geiftreidher als richtig.” Diefe legtere Bemerkung richtet fich wohl 
gegen Nitzſch a. a. C. S. 369 und 445 fi. Vgl. hiezu und zum folgenden 
jerner Priebatih, Die Hohenzollern und die Städte der Mark im 15. Jahr: 
hundert, 5.2 ff. Auf die Stellung des niederen Adeld zu den Städten (vgl 
Priebatſch S. 4 ji.) einzugehen, würde bier zu weit führen. 

2) Th. v. Kern, Hiftor. Taſchenbuch a. a. ©. ©. 103 Anm. 5 und S. 122; 
Frensdorff. Hanſiſche Geſchichtsblätter, Jahrg. 1893 S. 77. 





408 G. v. Below, 


vielen, oft eigenmäcdhtig von den Landesherren errichteten Boll 
jtätten.!) Allein fie ſchwärmten feineswegs für allgemeine Zoll. 
freiheit; fie hielten vielmehr den Zoll, der in ihrer Hand war, 
ihr Stapelreht und das „Säjterecht”, welches fremden Gewerbes 
treibenden gegenüber wie ein Schutzzoll wirkte, feit und fuchten 
fie zu erweitern. Bon Seiten der Landesherren wird den 
Städten am meijten wohl das Pfahlbürgerthum zum Vorwurj 
gemacht. Ihr Wideritand gegen dieje Einrichtung zeigt fie und 
aber in denjelben Beitrebungen, die die Städte verfolgten. Zu 
Pfahlbürgern ließen ſich folche Unterthanen der Landeöherren 
aufnehmen, welche ſich ihrer territorialen Steuer nnd Gerichts 
pfliht entziehen wollten.”) Wenn die Fürſten biergegen ein 
Ichritten, fo thaten fie nichts anderes als die Städte, Die ihren 
Gemeindebezirk zu einem feit geichlojjenen Steuer: und Gerichte 

1) Die Beichwerden über die vielen läſtigen Zollftätten werden nidt 
bloß außerhalb der ZTerritorien, d. Hd. von den Neichsftädten und mit ihnen 
vereinigten Landftädten vorgebradht, jondern auch innerhalb, d. 5. von den 
Zandftädten bezw. Landftänden gegenüber dem eigenen Landesherrn, und zwar 
mit Erfolg. Vgl. ©. v. Below, Landtagsaften von Jülich-⸗Berg 1, 152 und 
10. Dan erjieht daraus, daß bis zu einem gewifjen Grade die Zwecke der 
Städte auch ohne Reichsſtädte und Städtebündnifie erreiht werden konnten. 
Aber jreilih aud nur bis zu einem gewiſſen Grade: nämlich höchſtens ſoweit, 
als die Macht des eigenen Landesherrn reichte. 

2) Vgl. Kniele, Die Einwanderung in den weitfäliihen Städten bis 
1400 (Münjter 1893) S. 48 fi.; ©. v. Below, Landitänd. Verf. 31, 38 }.; 
Priebatſch 1, 150 Anm. 5; Mar Georg Schmidt, Die ftaatsrechtlidhe Ans 
wendung der goldenen Bulle bis zum Tode König Sigmund’3 (Halliide 
Difiertation von 1894) S. 36. Cine völlig verkehrte Anſicht von dem Pfahl 
bürgerthum hat Nitzſch 3, 321: „Welche Anziehungskraft diefe neue ftädtiide 
Kultur mit ihrem lodenden Berdienft und ihrem entwidelteren Lebensgenuß 
auf die außerjtädtiiche Bevölkerung äußerte, erfennen wir aus ben... MRab- 
regeln gegen die Ausbildung des Pfahlbürgerthums.“ Er denkt fi die 
Vfahlbürger (d. h. die cives non residentes!) aljo wie moderne Dienſt⸗ 
boten, die dag platte Land verlafien, und überfieht vollftändig, daß jene aut 
dem Lande figen blieben! Woher weiß Lampreht a. a. O. 4, 113 f., dei 
die Pfahlbürger ſich aus „ben fräftigiten Bevölkerungsſchichten des platten 
Landes“ refrutirten? Es ift auch mißverſtändlich, wenn er die Werbote dei 
Pfahlbürgerthums „Lonjervativ“, „zurüdhaltend“ nennt. Sie find etwas, wei 
durch die fortichreitende Entwidlung gefordert wurde. 


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fonnten.®) 


a. 0.0. S. 117 ff. und 124; ©, v. Below, Urjprung 


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410 ©. v. Below, 


Alles dies beweift, wie völlig verkehrt es wäre, die Landes 
herren des Mittelalters als Vertreter jpezifiich Ländlicher Ju— 
tereſſen den Städten feindlich gegenüberjtehend ſich vorzuftellen. 
Nicht etwa, daß fie ländliche Intereffen den Städten gegenüber 
vertreten hätten, jondern daf fie fich um ftädtijche wie ländliche 
Intereffen recht wenig fümmerten, charafterifirt fie Man darf Fi 
fogar, wie wir e& eben ſchon hervorgehoben, behaupten, daß fie ee 
den Städten mehr Aufmerfjamfeit als dem platten Lande zu —— 
wandten, jene vor diefem begünftigten. An vielen Dingen aber, „rt, 
denen die Städte fich mit dem größten Eifer widmeten, nahmen⸗ —— n 
fie auch gar feinen oder wenigjtens feinen lebendigen Antheil; under zeıb 
wenn fie mit ihnen eben deshalb hier faum in Konflikt geratherme—en 
fonnten, jo erfuhren dieje ftädtijchen Anliegen doc aus demfelber een 
Grunde auch wiederum feine Förderung durch fie. Sie empfanderee—en 
gar nicht oder jo gut wie nicht das Bedürfnis einer Ordnunge ang 
diefer Verhältniffe. Die leptere blieb im Mittelalter faft ganzny 
den Städten (beziehungsweije privaten Genofjenjchaften) über —er- 
lafjen. Darin liegt die innere Rechtfertigung für das group "he 
Maß von Selbtändigfeit, welches jie behaupteten. Sie bw he 
durften ihrer, um ihre Angelegenheiten rückhaltlos wahrnehme— zen 
zu können. Um nur ein fprechendes Beifpiel herauszugreifen rn: 
die Hanja hat ihre Erfolge zum großen Theil deshalb errungerer—en, 
weil die unabhängige Stellung der Hanjajtädte es ihnen gr grmge 
ftattete, eine hauptſächlich auf die eigenen Verfehröintereffen g d S ge⸗ 
richtete Politit zu verfolgen.) 

Welche Gründe es geweſen find, die die Erjegung der Selm e—Ib- 
jtändigfeit der Städte durch ihre Abhängigkeit von den Landee —⸗es 
herren nothwendig gemacht haben, das wird fich zum Tiril 
gerade aus dem weiteren Verlaufe unjerer Unterfucung ergeber cn. 

Die Territorialgewalten haben ihr Übergewicht 
ducch offenen Kampf hergeitellt.°) Die Zeiten dieſer Ariege errsenit 


1) Vgl. Dietrich Schäfer, Artifel danſe im Handwörterbud ve nz 
wiſſenſchaften 4, 389. 

9) Sowohl bei dem offenen Kampf wie bei dem friedlichen 
gegen die Stäbte famı den Sandeäherten oft bie innere Uneinigteit ber ger 
haften (ie wieherum einen Beweiß bon ber Nothwenbigeit einer übe den 


und 


Yuıı 





412 G. v. Below, 


an die Vergangenheit anlegen. Man hat vielmehr für jede Periode 
der geſchichtlichen Entwicklung aus ihren Vorſtellungen heraus 
den Begriff des Staates feſtzuſtellen. Es gibt keinen „eigentlichen 
Staat“. Wenn man in jener Weiſe verfährt, wird man auch in 
der Zeit vor dem Aufkommen der Städte unſchwer beſtimmte 
Vorſtellungen von ſtaatlicher Ordnung entdecken. 

Selbſt in der Beſchränkung läßt ſich Arnold's Anſicht nicht 
halten, daß der ſpäter in den Territorien vorhandene Staatsbegriff 
unter dem Einfluß des ſpeziellen in den Städten entſtandenen 
Staatsbegriffs ausgebildet worden iſt. Denn erſtens boten die 
Städte dafür feinen Anknüpfungspunkt.) Und zweitens trugen 
die Territorien in fich den Keim für die Weiterbildung des Staat 
begriffd: wie dag Territorium aus der Grafichaft, jo Hat fich der 
Begriff der Landesohrigfeit, der Zandeshoheit aus dem der gräf 
lihen Gewalt entwidelt.e. Schon im 13. Jahrhundert?) ift der 
Begriff terra, dominus terrae, dominium terrae vorhanden, 
und aus ihm als einem allgemeinen Begriff werden einzelne Rechte 
abgeleitet. 


Es ijt eine verbreitete Vorjtellung?), daß im Mittelalter 
nur in den Städten ein politiſches Verhältnis zivifchen dem 
einzelnen und der höheren Gewalt vorhanden?), daß ım übrigen 
der Untergebene an den Herrn durch ein lediglich perjönliches 


1) Giertke ſelbſt hebt, obwohl er von einem Einfluß der Stadt: auf bie 
Zerritorialverfafjung ſpricht, a. a. O. 2,857 den Unterſchied zwiſchen dem 
Staatebegriff der mittelalterlihen Städte und dem ber fpäteren Territorien 
bervor. 

2) Yuf das 12. Jahrhundert einzugehen, ijt in diefem Zufammenhange 
nicht nothwendig. Vgl. darüber Waitz, Verfaſſungsgeſchichte 5 (zweite Aufl., 
196 f.; 7, 3065. ©. auch 9. 3. 63, 296 ff. 

2) Mar Dunder, Yeudalität und Ariftofratie (Abhandlungen aus der 
neueren Geſchichte' S. 5 führt es als eine Bejonderheit Englands gegenüber 
dem Kontinente an: „Tie Erhaltung des Grafſchaftsgerichts ... hat ben Sieg 
der jeudalen Arijtofratie über das Königifum und über das Bauernthum in 
England verhindert.” Allein in Deutichland ift da8 Grafichaftägericht audı 
erhalten geblieben! 

9) Vgl. D. Schäfer, Die Hanfejtädte und König Waldemar von Täne 
mart ©. 242. 





414 G. v. Below, 


deshalb Habe ich e8 durch die Wahl des Themas ald Zweck der 
vorliegenden Abhandlung bezeichnet, feitzuftellen, auf welchen 
Gebieten der Territorialverwaltung ſich ftädtiicher Einfluß 
geltend gemacht hat. Zunächſt lenkt fich der Blid auf das 
Amterweſen. 


1. Die Verwaltungsorganiſation und das Beamten: 
thum. Das wictigfte Ereignis aus der Gefchichte des Amter- 
weſens in der zweiten Hälfte des Mittelalters ijt Die Verdrängung 
des Lehnsweſens aus dem Beamtenthum. Sn der Zeit vom 
9. bi8 zum 12. Sahrhundert hatte fich das Lehnsweſen der jtaat- 
lihen Amter in weitem Umfange bemädtigt. Die Ämter hatten 
damit ihren alten Amtscharafter zwar nicht vollitändig, aber doch 
in wejentlihen Stüden verloren. In der Reichsverfaſſung hat 
das Lehnsweſen auch bis zum Schluſſe der Reichszeit feine Be 
deutung behalten. Dagegen in den Territorien lebt das reine 
Beamtenverhältni® wieder auf. Wie iſt es wiederhergeſtellt 
worden? Wir können hier zwiichen der Entwidlung in Stalien 
und der in Deutichland unterjcheiden. Dort haben die Etädte 
einen großen Antheil an der Verdrängung des Lehnsweſens.!) 
In Deutichland dagegen ift davon faum die Rede. Hier haben 
die Landesherren, hauptjählic mit Hülfe ihrer Miniiterialität®), 
das Lehnsweſen aus dem Beamtenthum bejeitigt. Die deutichen 
Städte hätten ſich nur dann erhebliche Verdienſte darum eriverben 
fönnen, wenn fie, wie die großen italienischen Kommunen, jich zu 
Territorien erweitert hätten. Ihre Verdienfte find geringer als 
die der Städte ciniger anderer Völfer, weil fie weniger mächtig 
waren. Unſere Audeinanderjegungen werden uns noch öfters 
auf diefe Thatſache führen. Es mag daher jogleich Hier eine 


1) Bl. Fider, Forſchungen zur Reichs- und Rechtsgeſchichte Ztaliens 
2,275: „In jehr weitem Umfange war bier die feudale Ordnung von unten 
auf durch das Emporjtreben der Städte befeitigt oder zerſetzt.“ 

2) Vgl. ©. v. Below, Urfprung der deutihen Stadtverfaffung S. 115; 
9. 3. 59, 225 fi.; 63, 302 f. Id fage abſichtlich: von einem Verdienſt ber 
Etädte iſt in Deutichland in diefer Hinfiht „taum“ die Rede. Denn ein 
fleine® Verdienſt kommt ihnen allerdings zu, inſofern ſie für das wenig 
umfangreiche Stadtgebiet die Übertragung von Ämtern zu Leben ausfchlofien. 











418 ®. v. Below, 


Obwohl hienach die Städte nicht die beitinnmten Formen für 
die Neufhöpfungen in den Territorien geliefert haben, fo ift der 
jtädtijche Verwaltungsförper doch in dem Sinne vorbildlich geweien, 
wie wir das Wort typiſch gebrauchen. Auf die Bedeutung, die den 
Rathsdeputationen in diefer Beziehung zufommt, haben wir ſchon 
bingewiejen. Ebenſo verhält es ſich aber mit der reicheren Entfaltung 
des ſtädtiſchen Beamtenthums überhaupt. Die großen Städte, wie 
Köln, Kübel, Nürnberg, haben ſchon im 14. Jahrhundert mehrere 
Clerici oder Juriften zugleich in ihrem Dienfte; in Köln find im 
15. Jahrhundert vielfach die Rechtslehrer der Univerfität zugleich die 
geihworenen Räthe der Stadt.!) In der Umgebung der Landes 
herren dagegen finden wir Männer mit gelehrter Bildung nod) 
nicht jo früh. Bon den größten Territorien abgejehen?), jegen 
ſich die Räthe der Landesherren big weit in das 15. Sahrhundert 
hinein aus ungelehrten Mitgliedern des Landedadeld und einem 
geiftlichen Kanzler, der jedoch ebenfall® noch keineswegs immer 
gelehrte Bildung befigt, zujammen.?) Speziell auch beim Kanzler 
amte erfennen wir die voraugeilende Entwidlung der Städte. 
Entlehnt it der territoriale Kanzler nicht ihnen, fondern dem 


1) So bemerkt W. Etein, Deutſche Stadtjchreiber im Mittelalter, Bei 
träge zur Geſchichte vornehmlidy Kölns und der Aheinlande (Feftfchrift für 
Mevifien, Köln 1895), S. 47. Vgl. Stobbe, Geſchichte der deutichen Rechto⸗ 
quellen 1, 643. 

2) Über Böhmen unter Karl IV. vgl. Burdad) ©. 30 ff. Hierbei ift 
indefien zu berüdjichtigen, daß Karl IV. zugleid, König war. Bgl. übrigens 
Stobbe 1, 633. Aus einem mittleren Zerritorium führe ih an, dab in 
Urkunde des Herzogs von Jülich-Geldern von 1407 (Lacomblet, Urkunden: 
buch Bd. 4 Nr. 48) Joh. vom Neuenftein doctoir in keyſerrechte als herzog⸗ 
liher Rath erſcheint. ©. über ihn Keuſſen, Die Matrikel der Univerfität 
Köln 1, 54; Weitdeutiche Ztichr. 9, 366 j. 

>) Vgl. Kruſch, Der Eintritt gelehrter Räthe in die Vraunſchweigiſche 
Staatöverwaltung und der Hochverrath des dr. iur. Stauffmell, Ziſchr. des 
bift. Vereins f. Niederſachſen 1891 ©. 63: „Bei dem Friedensſchluſſe zwiſchen 
den Braunſchweigiſchen Fürften und Städten 1486 waren Dr. Joh. Seborch 
ala Vertreter der Stadt Braunſchweig und Dr. G. Giejeler ald Abgeordneter 
der Stadt Göttingen thätig, während die Yürften noch durch Ritter und einen 
geiftlihen Stanzler vertreten waren“. ©. L. v. Maurer 4, 1883 f. weiſt hier 
aud) auf da® „Vorbild der Städte“ Bin. 





420 G. v. Below, 


alter3 die Territorien eine erhöhte jtaatliche Thätigkeit entfalteten, 
haben die an der Spige der Verwaltung jtehenden Kanzler nicht 
bloß an äußerem Anfchen die Stadtichreiber übertroffen. 


Mit Rüdfiht auf das höhere Alter und die reichere Ent 
wiclung der ftädtiichen Verwaltung fünnte man noch auf die 
Bermuthung fommen!), daß die Landesherren in der Zeit, in 
der fie ihre Thätigfeit zu erweitern begannen, ſolche Beamte 
bevorzugt hätten, die vorher im ftädtiichen Dienst thätig geweſen 
waren. Indeſſen die Annahme eines direften Einfluſſes der 
tädtifchen auf die territoriale Verwaltung bewährt ſich aud) bier 
nidjt. DVergegenwärtigen wir ung dein Lebenslauf der befannteiten 
Stanzler aus der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neu- 
zeit. In Brandenburg ift der erſte namhafte Kanzler Seſſel⸗ 
mann. Bon Haus aus Pfarrer in Cadolzburg, verdankt er jeine 
ipätere Laufbahn offenbar zunächit den perjönlichen Beziehungen, 
in die er dort zu der Hohenzollern'schen Familie trat. Um 1436 
ericheint er in fürftlichen Dienjten. Aber bald gibt er fie auf, 
um in Bologna den Studien obzuliegen. Von dort zurückgekehrt, 
im Befig eines akademiſchen Grades, erhält er jegt das Kanzler: 
amt, das er dann bis zu jeinem Tode verwaltet hat. Won den 
Ipäteren brandenburgijchen Kanzlern erwähnen wir die beiden 
Diſtelmeier.“) Lampert Diftelmeier, aus Leipzig gebürtig, macht 


der Amtstitel Kanzler. Roſenthal, Verwaltungsorganiſation Baierns 1, 270: 
Riezler a. a. O. Kruſch a. a. O. S. 205 ff. berechnet, daß in den meiſten 
nord⸗ und mitteldeutſchen Territorien die Annahme des Kanzlertitels durch 
die Vorſteher der Kanzleien ungefähr um das Jahr 1443 erfolgt. — In den 
Städten war im 13. Jahrhundert ab und zu der Kanzlertitel üblich geweſen. 
dann aber wieder verſchwunden (Stein a. a. O. S. 39 und 52). 

1) So Droyien a. a. O. ©. 14: „Die geiftliyen und weltlichen Fürjten, 
die ihren Vortheil verftanden, waren froh, von dorther (nämlid aus den 
Städten) Räthe gewinnen zu können.” 

’, L. Lewinski, Die brandenburgifhe Kanzlei während der Regierung 
der beiden eriten bohenzollernfhen Markgrafen (1411—1470), S. 54 fi; 
Etölzel a. a. D. S. 62 fi. 

” Bol. Stölzel a. a. O. S. 191 ff. Nicht viel anders ald mit Lampert 
Diftelmeier verhält e8 jid) mit Martin Mair (Ag. Deutiche Biogr. 20, 113 ff.) 
Er erwarb übrigens den Doltorgrad aud) während feines ftädrifchen Dienftes. 





422 G. v. Below, 


Sie wiederholen, wie ihr Amt der Reichskanzlei nachgebildet ift, 
auch den Bildungsgang der föniglichen Kanzler. Typiſch ift der 
Lebenslauf des erjten föniglichen Kanzler aus dem Laienitande: 
Kaſpar Schlid erhielt das Kanzleramt, nachdem er eine Univer- 
fität (wahrjcheinlich Bologna) bejucht hatte und in einer landes- 
herrlichen Kunzlei (der des Biſchofs von Agram) in den Kanzlei» 
dienjten unterwiejen worden war.!) Nun finden wir freilich 
gerade in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit 
jehr oft landesherrliche Räthe, die zugleich Räthe einer Stadt 
jind.?) Allein dieje find nicht deshalb von den Landesherren 
in ihren Dienſt gezogen, weil fie ftädtiiche Beamte find; jondern 
Landesherren und Städte haben fich gemeinfam ihrer aus dem 
gleichen Grunde verfichert, weil fie nämlich ihre juriſtiſche 
Bildung fchägten.S) Überdies handelt es fich Hierbei nicht um die 
eigentlich einflußreichen landesherrlichen Räthe, vielmehr haupt 
jählih um foldjye, deren Meinung in einzelnen auftauchenden 
Rechtsfragen eingeholt wird. 


Ülberhaupt jtanden damals Praxis und Theorie, d. h. Kanzlei und Univerfität, 
in innigen Beziehungen. Über die Univerfitätsftudien der Beamten der Reid 
tanzlei unter Karl IV. und Wenzel handelt Burda 5.42 ff. Karl’s IV. 
Kanzler Joh. v. Neumarkt widmet Cola di Rienzo enthufiaftiihe Bewunderung 
(a. a. O. S. 88 f.. 

1) Typiſch iſt ſein Lebenslauf für die ſpäteren landesherrlichen Kanzler 
nur vielleicht inſofern nicht, als er ein Bürgersſohn aus Eger war. Denn 
obwohl einerſeits die Zahl der bürgerlichen Räthe neben den ritterlichen ſeit 
dem Beginn der Neuzeit zunimmt, fo mehrt ſich doch andrerſeits unter den 
ritterlihen Näthen die Zahl derjenigen, welche gelehrte Bildung bejigen und 
darum für dag Sanzleramt geeignet find. Ohne Zweifel ift die Zahl der 
adeligen Kanzler feit 1500 größer als vorher (die „oberften Schreiber“ des 
Mittelalter als Kanzler gerechnet). 

2) Es jei nur an Gregor Heimburg erinnert. Sonſt vgl. 3. B. meine 
Landtagsakten 1, Nr. 242 (S. 727 Anm. 1). 

) Wattenbach, Schriftweſen im Mittelalter (zweite Aufl.), ©. IW 
(ſ. aud ©. 394;, und W. Stein, a.a. DO. S. 53, maden darauf aufmerfiam, 
daß man auf der Univerjität Erfurt im 15. Jahrhundert die Unterweiſung 
in einem befonderen stilus civitatis fannte. Ein Student rühmt fidh, dad er 
nicht bloß diejen beberriche, jondern aud) für andere Kanzleidienſte geeignet 
jei. So ſtehen denn in ver That der ftädtifche und der landesherrliche Manzleis 
dienst getrennt neben einander. 





424 G. dv. Below, 


daB die größten Kommunen in jener Zeit in der Technik des 
Schreibweſens (namentlih was die inneren Verhältniffe der 
Stadt betrifft) den meiften Territorien voraus waren. Dennod) 
bat das territoriale Schreibwejen eine beftimmten Formen nicht 
aus den Städten, jondern vom Reich oder von den franzöftichen 
und niederländiichen Nachbarländern erhalten.?) 


Staat und Gemeinde bier zufammenfallen. Das territoriale Archivwejen litt 
Überdies noch unter dem Umjftande, daß die Ardjivalien in verfchiedenen 
landesherrlichen Schlöſſern, rejp. in Schlöffern und Klöftern, nicht an einem 
Orte aufbewahrt wurden. Vgl. Wattenbach, Schriftwefen im Mittelalter 
(2. Aujl.), ©. 537; Breßlau, Urkundenlehre 1, 149; Rofenthal, Verwaltungs 
vrganifation Baierne 1, 272 ff.; Lewinski, Brandenburgifche Kanzlei, S. 125 ff.; 
8. dv. Below, Sandtagsaften 1, 136 f. Über das ftädtifche Archivweſen vgl 
VBreßlau a. a. ©. 5.149; Ulrich, Zur älteren Gefchichte des Kölner Ctadts 
archivs, Mittheil. a. d. Stadtarhiv von Köln 10, 1ff. Bgl. hierzu aud 
W. Stein in der Meviſſen-Feſtſchrift, S. 34. 

) Wie das territoriale Urkundenweſen im allgemeinen unter dem Ein 
luß des königlichen jteht, fo iſt insbeſondere auch von der subscriptio (Unter 
fertigung; f. über deren allgemeine Bedeutung Seeliger, Dad Hofmeijteramt 
S. 97; Lewinski ©. 76 fi. und S. 87 ff.) diefe Abhängigfeit hervorgehoben 
worden. So bemerkt Kruſch, Ztichr. d. Hijt. Vereins f. Niederjachfen 1893, S. 21, 
dag in Braunſchweig jeit 1471 der betreffende Gebrauch der faijerlihen Kanzlei 
jur Anwendung kam. Bgl. ferner Wagner, Ardival. Ztichr. 10, 39. In der 
That wird für die meiiten deutfchen Territorien in diefer Beziehung das Borbild 
der Reichskanzlei maßgebend gemwejen jein. Allein für die nordweſtdeutſchen 
Territorien möchte ich niederländiichen Einfluß annehmen. In Jülich und Berg 
bat die subscriptio nämlid die bejtimmte Form, die in ben geldriichen Urkunden 
üblich ijt. Ferner begegnet fie hier fpäter als in Geldern: in Berg findet fich die 
subscriptio (in der Urfundenabtheilung Jülich-Berg des Düfieldorfer StaatE: 
archivs, nad frdl. Mittheilung der Ardivverwaltung) zum eriten Wal 1884, 
in Jülich jogar erjt 1402, während fie in Geldern ſchon viel früher häufig vor⸗ 
tommt. Bol. z. B. Nijhoff, Gebentwaardigheden 2, Nr. 109. 184. 186. Alſo 
wird in Zülih und Berg der geldrifhe Kanzleigebrauch nachgeahmt worden 
fein. Vgl. nody meine Nandtagsatten 1, 72 Anm. 3. Jener Nachweis betrifft 
icheinbar nur eine Einzelheit, läßt ſich aber aud) für die Gejchichte der Ber 
einflufjung der deutichen Territorien von Weiten ber im allgemeinen vers 
werthen und deutet an, wie etwa daS burgundijcheniederländifche Vorbild die 
Berwaltungsorganijation in den deutichen Territorien beeinflußt hätte, wenn 
Marimilian I. nicht dur jeine Heirath in bejondere Beziehungen zu bem 
burgumdifchen Niederlanden getreten wäre. Zur libernapme burgundiſcher 
Einrihtungen vgl. auch die Stiftung der neuen Orden (Schmanenorben, 





426 G. v. Belom, 


Auf dem Gebiete des Gerichtswejend haben ſich die Landes» 
herren weiter um die Befeitigung des Fehdeweſens und des Raub» 
ritterthums verdient gemadt. Sie haben dabei die Bundes 
genofjenichaft der Städte gehabt.) Wir dürfen fogar jagen, 
daß die Städte im eigentlichen Mittelalter mehr Eifer für die 
Befeitigung jener Übelftände gezeigt. haben. Allein die Haupt 
arbeit haben jchließlih die Landesherren gethban. Denn Recht 
und Ordnung fonnten nur diejenigen vollitändig herſtellen, welche 
die weiten Flächen der Territorien bejaßen.?) Die Städte hätten 
dieje Aufgabe nur löfen können, wenn fie jelbft jich zu Territorien 
erweitert hätten. So wie aber die Verhältniffe einmal lagen, 
fiel die Hauptarbeit bei der Befettigung der im Lande herrichenden 
Gewaltjamkeit den ZXerritorialherren und dem Reiche, übrigens 
dem ftändifch?) gegliederten Reiche, zu. Die Städte haben Die 





nunmehr ein jeder Reichsſsſtand in feinem Lande das Gerichtsweſen auf einen 
gewifien Fuß fegen konnte.” — ©. L. v. Maurer 4, 95 ff. geht in dem, 
was er über dic Vorbildlichkeit des ftädtiichen Gerichtsweſens fagt, zu weit. 
Namentlid darf man nicht in der Weife, wie er es thut, der mittelalterlichen 
Stadt das Princip der Trennung von Juſtiz und Verwaltung zufchreiben. 
Die Frage nad) der Bertheilung der Kompetenzen zwiſchen Schöffenkollegium 
und Stadtrath 3. B. wurde oft genug durch einen einfadyen Kampf um bie 
Madıt entichieden. 

1 Sch fage abjihtlih: die Bundesgenofienihaft der Städte. Die 
Zandesherren haben au jhon im Mittelalter die Sorge für den Landfrieden 
feinediveg& den Städten allein überlaffen. Knipping (in der unten zu er 
wähnenden Abhandlung über den kölniſchen Jahreshaushalt, S. 144) bemerft 
darum mit Redt: „Die gemeiniamen Intereffen der Fürſten und Städte“ 
haben zum Abfchluß des Landfriedensbundes von 1355 geführt. Vgl. G. v. 
Below, Landjtd. Verf. 2, 58; Landtagsalten 1, 113 fj. 13% ff. 

2, Vgl. Droyſen a.a.0.6©.105.: „Wie tapfer die Städte jene ver 
wilderte Nitterlichleit . . . verfolgen mochten, es war dod) nur bier und da 
ein Einzelner, den fie griffen . . .; das Übel auszurotten, mußte eine größere 
Macht da fein.” Bücher, Entjtehung der Volkswirthſchaft S. 214 ſchlägt in 
diejer Beziehung die Berdienfte der Städte etwas zu hoch an. Charakteriftiich 
it es, daB viele Verträge zur Bejeitigung der Öffentlichen Unſicherheit aud« 
ſchließlich von Landesherren, ohne Mitwirtung von Städten, abgefchlofien 
worden find. Vgl. die in meinen Landtagsaften 1, 212 ff. erwähnten Bors 
träge und GScotti, Geſetze von Kleve-Mark 1, Nr. 22 und 35. 

3) Vgl. M. Ritter, Deutiche Gejchichte im Zeitalter der @egenreformation 
und des Dreißigjährigen Krieges 1, 17: „Ob biefe Behörde (das Reicht⸗ 





428 G. v. Below, 


Unerörtert lafjen wir den Einfluß der Städte auf die Fort⸗ 
bildung des deutſchen Private, Straf, Prozeßrechtes, da wir 
damit von unferem Thema zu weit abjchweifen würden. Es iſt 
unbejtreitbar, daß ein jolcher vorhanden ift.!) Er wärc freilich 
viel größer geweſen, wenn nicht die Rezeption des römifchen 
Rechts dazwiſchen getreten wäre. So aber fteht die Entwidlung 
des Rechts in den Territorien wefentlich unter dem Einfluß des 
römijchen Rechts. Die Territorien öffneten ſich Ddiefem früher 
und weiter als die Städte. Denn „hier hatte jchon im Mittel: 
alter eine Reform des materiellen Rechts und des Prozeßrechts 
jtattgefunden, welche das Stadtrecht dem fremden Recht gegenüber 
widerjtandsfähiger machte. „Das Stadtrecht mar weit for 
jervativer in der Erhaltung des einheimischen Rechts als das Land 
recht, und jehen wir z.B. am Ojtjeejtrande die Städte lübiſchen 
Rechts als Injeln deutichen Rechts Hervorragen, während dad 
platte Zand vom römischen Recht überſchwemmt iſt.“?) 

3. Das Kriegsmwejen. Arnold legt bejonders großen 
Werth auf die Vorbildlichkeit der Städte, injofern ſie den Territorien 
für das Kriegsweſen das Mufter geliefert haben. Freilich, wenn 
er jagt, daß Feſtungen nicht älter find ala Städte?), jo ftimmen 
wir ihm darin nicht bei. Denn wir fennen ja König Heinrich 1. 
nicht als Städtegründer, fondern als Burgenerbauer.*) Aud) 
dag die Städte in der Art des Feſtungsbaues?) vorbildlich geweſen 


) Einiges darüber bei &. X. v. Maurer 4, %fi. Vgl. femer 
W. Sidel, Zum älteften deutſchen Zollitrafrecht, Ztichr. f. d. gelammte Strai» 
rechtswiſſenſchaft 7, 506 ff. (Nachtrag in Mitt. d. Inſtituts f. öſterreich. 
Geihichtsforihung, 3. Ergänzungsband, 5.497). ©. 3.3. 5.518: „Auch Bier 
gelangten fie (die Yandeäherren) durd) das Bürgerthum zu der Einficht, daB ihr 
eigenes Intereſſe gewinnen würde, falls jie den Gewerbetreibenden die vollite 
Sicherheit dafür böten, daß die Verwaltung ihn nicht ungerecht behandeln könne. 

2) Worte Sohm’s, Fränkiſches Recht und römiſches Recht, ©. 78. Bgl. 
bierzu auch Gierle, Badiſche Stadtredite und Nejormpläne des 15. Jahr: 
hunderts, Ztſchr. j. d. Seid). des Oberrheins 1888, S. 129 ff. 

®) Arnold 2, 135. 

*% Vgl. darüber zulept Sleutgen, Unterjuchungen über den Urſprung der 
deutſchen Ztadtverfajjung, S. 42 ff. 

2) Qgl. Bierte 2, 858: „mit zum Theil auch äußerer Nachbildung bei 
Sdldnerwejens, der jtehenden (sic!) Heere und Feſtungsanlagen“. 





430 G. v. Belom, 


Prozentſatz, der, bei den reichen Einnahmen Kölns, eine bedeutende 
Summe daritelt. Der Kaiſer wie die Fürſten jahen ſich mehr 
mals genöthigt, Gejchüge von den Städten zu entleihen.!) lud 
wenn die Städte de Mittelalter® den Zandesherren im Felde 
begegnen fonnten, jo verdanften fie das hauptſächlich den von 
ihnen aufgeftellten jtarfen Söldnerheeren. Wohl haben aud) die 
Fürjten jeit dem 11. Sahrhundert?) in jteigendem Maße Söldner 
gehalten, wie andcerjeit3 die Städte durch detaillirte Beitimmungen 
für die perjönliche Wehrfähigfeit ihrer Bürger geiorgt haben?) 
Allein im großen und ganzen dürfen wir doch jagen: im Mittel: 
alter haben die Zandesherren hauptſächlich durch Lehnsleute und 
Unterthanen*), die Städte durch Söldnerheere gefämpft.°) Im 
der Art, wie die Städte durch Ausnugung des Steuerrechtes 
große Söldnericharen aufbringen, iſt das jpätere Verfahren der 
Zandesherren vorbildlich gezeichnet. Indeſſen handelt es ſich auch 


1) Arnold 2, 136 f. Andrerjeit® wird die Gießſtätte des deutjchen 
Ordens in Marienburg gerühmt. Gengler, Über AÄneas Sylvius in feiner 
Bedeutung für die deutfche Rechtögeichichte, S. 48. Die Stadt Hamburg bezog 
übrigens ihre Büchſen von auswärts, jedoch aus einer anderen Stadt (Lübech 
und aus Flandern (d. h. wohl aud) aus flandrifchen Städten). Koppmann, 
Kämmereirehhnungen der Stadt Hamburg 1, XCVIH und 885. 

3) Epannagel, Zur Geſchichte des deutichen Heerwejend vom Beginn 
de3 10. bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, S. TI ff. 

2) G. 8. v. Maurer 1, 482 ff.; v. d. Nahmer, Die Wehrverfaffungen 
der deutichen Städte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Marburger 
Difjertation von 1888); M. Balper, Zur Geſchichte des Danziger Kriegsweſene 
im 14. und 15. Jahrhundert (Progr. des Gymnaſiums zu Danzig, Eftern 
1893), ©. 5 ff. 

* Vgl. ©. v. Below, Landſtd. Verf. 2, 59; Landtagsalten 1, 97 ff.; 
Gött. Gel. Anz. 1895, S. 229. N. Schröder, Rechtsgeſchichte 8 47 Anm. 6, 
erinnert daran, daB der NRitterjpiegel es für nöthig Hält, die Vorzüge der 
„Mannſchaft“ vor den Sölbnern hervorzuheben. 

6) Anipping a. a. O. S. 142 ff. Hegel, Chronilen der deutichen Städte 1, 
185: „Was man auch von der Kriegstücdtigfeit der Städtebürger im Mittel: 
alter rühmen mag, für dieje Zeit ijt nur jo viel wahr, daß der Krieg haupt⸗ 
ſächlich durch Söldner geführt und mit Geld von den Städten beftritten 
wurde.” Zu berüdfichtigen ift biebei die Neigung der Bürger, fi durch 
Geldzahlung vom Kriegädienjte zu beireien. Vgl. 3. B. G. L. d. Maurer 2, 
840 und 844: 4, 107; v. d. Nahmer S 49. 





432 G. v. Below, 


anderen Form öfters wiederholt ift: „In den Territorien (im 
Gegenjag zu den Städten) find wahre Steuern nicht älter als 
geworbene Soldtruppen oder, wenn man will, noch jünger. Ihre 
Entftehung fällt in das fünfzehnte und fechzehnte Jahrhundert.“ 
Allein die landesherrlichen Steuern jind viel älter, als Arnold 
angibt. Die Landesherren erheben eine wirkliche Steuer!) jpätejtend 
jeit dem 12. Sahrhundert: die Bede, lateinijch: petitio, precaria, 
exactio, eine direfte Steuer, hauptfächlich eine Grunditeuer. Ein 
Zandesherr des beginnenden 13. Jahrhunderts erklärt jchon, er 
müfje Steuern (exactiones) erheben, da er ohne Geld das Land 
nicht in Frieden halten fünne.?) Die Bede ift älter oder wenigitend 
ebenjo alt wie die deutjche Stadtverfaljung.?) Die Städte find 
aljo nicht die erjten Erfinder der Steuern in Deutſchland. 
Indeſſen eine Steuer verdankt ihnen allerdings ihr Dajein: die 
indirekte Steuer, die im Mittelalter ſog. Acciſe (Ungeld). Sie it 
„gewifjermaßen eine Entdedung der Stadtgemeinde*“.*) Sie üt 
die ſpezifiſch jtädtiiche Steuer und bleibt die wichtigite ſtädtiſche 
Eteuer das Mittelalter hindurch.’) Andere Steuern haben die 


1) Bgl. ©. v. Below, Landſtd. Berf. 31, 7 ff.; 9. 3.58, 196 fi. Über 
die feitdem binzugefommene Literatur ſ. Metzen, Die ordentlichen direkten 
Etaatsjteuern im Bistyum Münjter (Münijter’iche Differtation von 1896). 

2) G. v. Below a. a. O. S. 5. 

2) Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaft 2, 349 fi. 

) Sohm, Yahrbüdyer f. Nationalölonomie 34, 260. Freilich trifft 
Sohm's Meinung (wie ih in H. 3. 59, 240 f. näher dargelegt habe, nur 
infofern zu, als die Erhebung einer Accife auf ftädtifhen Boden zuerjt zur 
Anwendung gekommen if. Vom rechtlichen Standpunkte aus ift diefe Accife 
dagegen eine landesherrlidhe Steuer, die allerding® regelmäßig gleih am 
Anfang den Städten verpadtet, verfauft oder auch frei überlaſſen wirb. 

8) Ein jprechender Beweis für die Unkenntnis, die Ripjch auf dem Ger 
biete der deutſchen Städtegeichichte auszeichnet, ijt jeine Behauptung (Deutiche 
Geſchichte 3, 322): „Die gewöhnliche Grundlage der Einnahmen bildete eine 
direfte Vermögensiteuer,; wenn diejelbe nidyt außreichte, wurde ſog. Ungeld, 
eine indirefte Verbraudygabgabe erhoben.“ Wan fieht, er tebrt das wahre 
Berhältnis völlig um. Vgl. dagegen 3. B. Sohm a. a. O. 5. 260: „Com 
der indirekten Steuer, dem fog. Ungeld, war die ftädtifche Yyinanzpermaltung 
(wie in Bajel, jo in allen übrigen deutihen Städten) ausgegangen.... Tie 
indirefte Steuer blieb auch jernerhin die Grundlage der ftäbtiichen Finanz 
wirthſchaft.“ Hegel, Chronilen der deutſchen Städte 1, 281: „Es ift bemeriend 





434 G. v. Below, 


zu befräftigen. Eine Urfunde von 1388!) liefert ung den Beweis, 
daß damals Burggraf Friedrich V. von Nürnberg eine indirekte 
Steuer, die die Stadt Nürnberg eingeführt hatte, nach deren 
Borgang auch in feinem Territorium erhoben bat. ?) 


1) Monum. Zoller. 5, Nr. 204 (©. 213): Urt. König Wenzel’s für 
Burggraf Friedrih zu Nürnberg d. d. 1388 5. April: verleiht ihm umd 
feinen Erben, dab fie in allen ihren Landen, Gerichten und Gebieten, 
in ihren Städten, Märkten und Dörfern „ein ungelt nemen und ufbeben 
mugen von allerlei getrant, als daz unfzer und dez reich® purger zu Nuren⸗ 
berg von unſſer laube zu difien zeiten in der ftat zu Nurenberg einnemen und 
aufheben“. Zuerſt hat auf diefen Zufammenhang Hegel, Chroniken der 
deutihen Städte 1, 281, aufmerffam gemadt. 

2) Später find Vorbild auf dem Gebiet der indirelten Steuern nidt 
die Städte, fondern die hulländifchen Generalftaaten (in denen doch aber auch 
die Städte im Bordergrunde ftanden) gewejen. So jtellte der ſchwediſche 
Kanzler Oxenſtierna unter Beihülfe des holländiihen Kaufmanns Peter Spring 
ein neues Syſtem mit erhöhten Zolljägen, den fog. Lizenten, auf, welche den 
Handel in den Oſtſeehäfen bejteuerten. Vgl. Lorentzen, Tie ſchwediſche Aımee 
im Dreißigjährigen Kriege ©. 1. über den Einfluß Hollands auf die Ein 
führung der Acciſe in Brandenburg unter dem großen Kurfüriten ſ. Erd 
mannsdörffer, Deutiche Geichichte von 1648 bie 1740, 1, 426. — Bei dieier 
Gelegenheit mag noch eine Bemerkung Platz finden, die freilich nicht die Bor 
bildlichfeit der Städte betrifit. Wie wir vorhin hervorhoben, iſt die Zeit des 
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit eine Periode der Vergrößerung der 
Zerritorien. Someit dieje auf bewußte Handlungen der Regierungen zurüds 
gebt, werden wir die Motive in erjter Linie in allgemeinen politischen Er⸗ 
wägungen zu fuchen haben. Allein es ijt möglih, dab auch noch jpezielle 
Wünſche mitgewirkt haben, die ſich aus den auf verichiedenen Gebieten der 
ftaatlihen Berwaltung gemachten Beobachtungen ergaben. Dan vente ;. B 
an die Schwierigkeiten, die die Appellation und Nonjultation bei @eridte- 
jtätten außer Landes verurjachte. Ferner erſchwerten die Kleinheit und die 
zerftreute Lage der Territorien außerordentlih die Einführung indirelter 
Eteuern. In dieſer Hinficht jind die Verhältnifie von Jülich-Berg lehrreid. 
Vol. meine Landtagsakten von Jülich-Berg 1, 736, Anm. 2: Die Bejiger 
der Zülicher Unterherrichaiten (ehemals jelbjtändiger Landesherrjchaften, die 
nah und nad in größere Abhängigfeit vom Herzog von Jülich geriethen) 
erllären, fie wollten nadı Möglichkeit dafür jorgen, „dat in den underher 
liheiven mein nod bier niet wolfieler dan uifierhalb derjelben d. h. im 
Gebiet des eigentlihen Herzogthbums Nülich) gegeven und verzappt jal werden, 
ur dat niemanp oirſach gegeven werde, dahin zu fomen, wairdurd i. f. g. 
bewiliigte accijen verlleinert mucditen werden“. Jahrbuch des Düſſeldorfer 
Geſchichtsverein 8, 251: „Dweil zu Berdiem und Wondorf die narung bed 





436 G. v. Below, 


dieſe nicht viel jpäter hervor als ihre jtädtijchen Namensvettern.* ) 
So iſt denn die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß beide nebert 
einander aufgefommen iind, vielleicht eine gemeinfame Wurzel _ 
die dann wohl ein Beamter der Privatwirtbichaft ?) jein würde, 
haben oder auch neben einander aus den Niederlanden?) über- 
nommen ıvporden find. 

Die Städte des Mittelalters jind nicht bloß durch die Aus 
nugung ihrer Steuerfraft mächtig; fie find zugleich „die Mittel- 
punkte de Mobiliarkredits“.“ Durchweg tritt bei ihnen eine 
auffallend ftarfe Benugung des öffentlichen Kredits zu Tage.) 


1) Darauf, daß der territoriale Nentmeijter andere Funktionen hat als 
der ſtädtiſche (injojern ihm ein jehr wichtiger Theil der Steuern, die von den 
Landſtänden bemilligten, nicht unterjtellt iſt, fondern von diejen jelbft ver: 
waltet wird), will ich fein beiondere® Gewicht legen, ebenjowenig wie darani 
(ſ. oben), daß die territoriale Rechenkammer andere Funktionen bat ala die 
jtädtifche Renttammer. 

») Ein analoger Fall wäre der territoriale Hofmeijter, der, wie G. Sees 
liger, das Teutjche Hofmeifteramt ©. 1 ff. nachweiſt, aus der Privatwirthichaft, 
ipeziell der Mlöfterlichen, jtammt. Für den Urjprung des Rentmeifteramteß 
aus der Privatwirthſchaft fünnte auf den magister censuum und ähnliche 
Bezeihnungen, die Waitz, Verfaſſungsgeſchichte 5 (zweite Auflage, beraudg. 
von Zeumer), 257 fi. anführt, vermwiejen werden. 

2) Über Rentmeifter in niederländifchen Territorien j. vorhin Nijhoff. 
Bgl. ferner S. Muller, De registers en rekeningen van het bisdom 
Utrecht, deel 1 (1889), 263 Wr. 241 (lirt. v. 1329): Stephanus de Zulen 
miles ... in officio renthmagistratus sibi per nos (den Biſchof von 
Utreht) commisro. Nr. 242 (Urk. von demielben Sabre): renthmeester, 
van den renthmeesterambacht. über Rentmeijter in niederländifchen 
Städten f. Firenne, Histoire de la constitution de la ville de Dinant, 
S. 62; Note sur un cartulaire de Bruxelles (Bulletins de la commission 
royale d’histoire de Belgique, tom. 4), S. 22 (1342); H. van der Linden, 
Histoire de la constitution de la ville de Louvain, ©. 118. 

*) Sohm, Jahrbücher f. Nationalötunomie 34, 264. 

6, Zur Geſchichte des öffentlichen Kredits in den Städten des Mittel- 
alter8 vgl. außer den befannten Arbeiten von Schönberg und Sohm, 
welche zuerjt belleres Nicht über diefe Verhältniſſe verbreitet haben, Pirenne 
a. a. ©. S. 60 Anm. 1; 9. van der Linden a.a. ©. ©. 125; Havemann, 
Haushalt der Stadt Göttingen, Zeitſchr. des hiftor. Vereins f. Niederſachſen 
1857, ©. 206. Die widtigite Unterſuchung aus neuelter Zeit hat Knipping 
geliefert: Das Schuldenweien der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, 





438 ©. v. Below, 


das der jog. inneren Verwaltung, der Polizei?), wie mar mn 
jeit dem Ende des Mittelalters zu jagen pflegt. Dieser 
hat die Stadt im Verhältnis zum Territorium am meiften jelr Zeib- 
jtändiges hervorgebracht. Man darf ſich nicht durch die Zahle— Men 
des Stadthaushaltes täufchen laſſen. Allerdings übertreffen — ja 
die Ausgaben für die Sicherung der Stadt nad aufen und der die 
Erhaltung der ftädtichen Selbjtändigfeit um ein mehrfacdes = die 
Ausgaben für die innere Verwaltung, während Die moderne Staus -adt 
ihre Einnahmen fajt ganz auf Kultur- und Wohljahrtszwede vn er⸗ 
wendet. Indeſſen die mittelalterliche Stadt ift eben nicht bl S Sloß 
Stadt im modernen Sinne. Wenigjtens die größeren Kommunen 
haben auch diejenigen Funktionen wahrgenommen, welche her —eute 
in den Aufgabenbereich des Staates fallen: die Aufrechterhat 
der Rechtsordnung im Innern und den Schug nach außen?) & 
it ein durchaus faljches Bild, wenn Herder die Wohlthaten, die 
wir den Städten des Mittelalter8 verdanken, „im Schatten eier wine 
friedlichen Stadtregiments“ hervorgebracht jein läßt. Nie hal ben 
fi) Städte jo fehr und fo anhaltend im Kampfe befunden wie 
die des Mittelalters. Politiſche Selbjtändigfeit und Macht ha Sben 
fie mit dem größten Eifer erjtrebt. Kaum haben fie auf etm—vas 
mehr Gewicht gelegt als auf eigene Rechtſprechung, politi Sſche 
Selbjtändigfeit und militäriihe Macht, Dennoch dürfen wir 
jagen, daß das Gebiet, auf dem fie recht eigentlich original End, 
das der inneren Verwaltung iſt. Original gegenüber dem gieSich⸗ 
zeitigen Territorialftaat und dem Reich: Territorium und Meich 
fümmerten ſich gar nicht oder jo gut wie gar nicht um bie 
Zwede der inneren Verwaltung. Nicht ſowohl an dem, was bie 
mittelalterliche Stadt als Staat, als vielmehr an dem, was fie 
als Gemeinde geichaffen hat, haftet das weltgeſchichte ade 
4) Über Begriff und Gejchichte des Wortes Polizei ſ. Loening im gand- 
wörterbuch der Staatswiſſenſchaften 5, 159 fj.; ©. v. Belom, 
atten 1, 138. 335. 584. Das Wort wurde aus Frantreich übernommen, 
wie ſo viele technifche Bezeichnungen und Einrichtungen: jener Zeit. Übrigens 
umfafjen die ftäbtifden und territorialen Polizeiverorinungen mod) era 
mehr als das, was wir „innere Verwaltung“ nennen. 
2) Bol. Knipping, Jahreshaushalt ©. 181. 


















440 G. v. Below, 


für das Straßenweien !), die Gejundheite-, die Sittenpolizei, 
Geſetze gegen den Luxus?), über den Zinskauf. 

Die Territorien folgen den Städten in dieſer Xhätigfeit 
erjt jeit dem 15.3), hauptſächlich aber erit jeit dem 16. Jahre 


— — — — — — 


Vgl. Schmoller, Jahrbuch für Geſetzgebung 1884, S. 25 fi. Bemerkenswerth 
iſt es, daB in ber aus der Zeit des Bauernaufſtandes ftammenden Schrift 
„Reformation Friedrich's III.“ Einheit von Münze, Maß und Gewicht vers 
langt wird. F. v. Bezold, Geſch. der deutihen Reformation S. 463. 

1) Über die Thätigfeit der Städte auf diefem Gebiete j. Gasner, Zum 
deutjchen Straßenweſen von der älteiten Zeit bis zur Mitte des 17. Jahr⸗ 
hunderte (Xeipzig 1889; dazu liter. Gentralbl. 1890, Sp. 790 und Deutiche 
Literaturztg. 1890, Sp. 1844); oh. Fritz, Zur Geſchichte des deutjch-[om: 
bardiihen Handels, Ztichr. f. d. Geſch. des Oberrheins 1891, E. 320 F.; 
Kinipping, Jahreshaushalt a. a. O. S. 136 und 147; Havemann a. a KL. 
5.207 und 220. Über die Fürforge der Kandesherren für das Straße: 
wefen jeit dem Ende des Mittelalters j. Sasner S. 63 f.; Niezler, Geſchichte 
Baierns 3, 775; Lamprecht, Wirthichaftzleben 2, 242; ©. v. Below, Landtage⸗ 
alten 1, 587. 634. 193. 


2) Vgl. Sommerlad, Art. Luxus im Handmwörterbudy der Staatömifien 
ihaften 4, 1077 fi. Schon das ziveite Straßburger Stadtredit (ca. 1200) 
enthält Beftimmungen über den bei Hochzeiten und fonjt zuläffigen Auiwand 
(845 ff.). Weinhold, Tie deutichen Frauen (zweite Auflage) 2, 257 Anm. ] 
erwähnt Beitimmungen aus wmittelalterlihen Ordnungen der Etadt Ulm über 
da® Tragen von Hermelin. Tie Reich&polizeiordnung von 1548 erklärt es 
dann für einen Vorrang des Fürjtenitandes, Hermelin zu tragen. — übrigen⸗ 
jteht die Entwicdlung der Luxusgeſetzgebung auch unter kirchlichem Cinilus, 
namentlich unter dem der Synodalbeſchlüſſe. Vgl. Weinhold a a. O. 5. 265 
Anm. 2 und Sommerlad a. a. O. 


®) Bereinzelte kleine Anfänge laſſen jih wohl aud) ſchon aus dem 14. Jahr: 
hundert anführen. Vgl. 3. B. die Tiroler Kandesordnung aus dem Jahre 1352 
über die Rechtsverhältnijje der Bauern und Handwerker bei E. v. Schwind 
und U. Dopſch, Urkunden zur Berfafiungsgefchichte der deutfch-öfterreichiichen 
Erblande im Mittelalter, S. 184. Yu den ältejten territorialen Polizer 
vrönungen (übrigens noch nidyt mit diejem Namen) gehören die Befege der 
Hochmeiſter und die Landtagsbeſchlüſſe aus dem deutſchen Ordenslande. 
Vgl. Töppen, Alten der Ständetage Preußens unter der Herrſchaft des 
deutſchen Crdens 1, 36 fi. Schon fehr früh (etwa 1335) werden im Ordens: 
lande Beichlüfjje über Mat und Gewicht gefaßt (j. a.a. C. S.32 ff.). Allein 
ed ift charakterijtiih, daB der Hochmeiſter hierbei nur Städte, nit aud 
Landbewohner zuzieht. 





442 &. v. Below, 


fall ift die Entwicklung in den Städten auch Hier wieder typiſch 
für die in den Territorien gewejen. 

Wir widmen jet einzelnen Zweigen der inneren Verwaltung 
eine ausführlichere Daritellung. 


6. Das Gewerbeweſen. Das Gewerbeweien des Mittel: 
alters ift lofal geordnet.!) Jede Stadt hat für id) ihre Zunft 
jtatuten. Mit dem Beginn der Neuzeit tritt an die Stelle der 
(ofalen Ordnung des Gewerbeweſens oder wenigitend neben jie 
die territoriale. 

Die territoriale Ordnung iſt nicht überall der Art, daß jic 
gerade von einem Landesheren gejichaffen wird. Die jtädtijchen 
Kreiſe haben jelbjt das Bedürfnis der Herftellung größerer Ver 
bände empfunden und es vielfach ohne Rüdjicht auf bejtimmte 
territoriale Grenzen vermwirfliht. So treten gerade am Schluß 
des Meittelalterg die Steinmegen ?) zu größeren und fleineren, 
mehr jih an Stammes» als an Territorialgrenzen anjchliegenden 
Vereinigungen zujammen. Und fie jtehen in diejer Beziehung 


älteften Neich8polizeiordnungen, fo werden ſie auch von jenen beeinflußt 
worden fein. Wie es ſich aber mit ihrem Urſprung verhalten mag, jedenfalld 
haben fie auf die territoriale Verwaltung eingewirtt. In manden Puntten 
wird die territoriale Verwaltung jedoch weder vom Reich noch von der Kirche 
noch von den Städten beeinflußt, jondern felbftjtändig fein. So 3. B. aui 
dem Gebiet der Waldordnungen (vgl. Handwörterbuh der Staatswiſſen⸗ 
ihaften 3, 592 f.; Mitteil. des Inſtituts f. djterr. Geſchichtsforſchung 189, 
S. 189; ©. v. Below, Landtagdatten 1, 146 und 709 8 4) Denn die 
Waldordnungen, die etiva mittelalterliche Städte für ihren doch verhältnismäßig 
tleinen Waldbejig erließen, fünnen ſchwerlich als Muſter in Betracht kommen. 

1) Bol. hierzu und zum folgenden 9. 3. 58, 151 j.; Schmoller im Jahr: 
buch für Gejepgebung 1884, S. 23 ff. und Straßburger Tucher- und Weberzunit 
S. 539 f.; Lexis im Handwörterbud) der Staatswiſſenſchaften 6, 469 fj.: 
Bothein, Wirthſchaftsgeſchichte des Schwarzwaldes 1, 893 ff.; Eulenburg, 
Ztſchr. f. Soz.⸗ u. Wirthichaftsgeih. 2, 62 fi. S. auch Jahrbuch für Geſeß⸗ 
gebung 1894, ©. 318 ff. 

°) Janner, Die Bauhütten des deutſchen Mittelalterd (Leipzig 1876), 
S. 54 ff; Schmoller, Forihungen zur Brandenburg. und Preuß. Geſchichte 
1, 70 ff.; A. Luſchin v. Ebengreuth‘, Das Admonter Hüttenbuch und die 
Regensburger Steinmegordnung vom Jahre 1459 (Mittheilungen der 8. 8. 
Gentraltommijlion 3. Eriorihung der Kunſt⸗ und hiſtor. Dentinale 18M, 
Heft 3/4). 





444 G. v. Below, 


Ein charafteriftiiches Beiipiel mag hier zum Beweije dajür an- 
geführt werden, wie jehr die Zandesregierungen jegt geneigt find, 
das Gewerberecht der Städte, felbft fremder Städte, nicht bloß 
der zum eigenen Territorium gehörenden, zu benugen. Im 
Sahre 1547) wird auf einem jülicher Zandtage der Beſchluß 
gefaßt, es follten einige von der Landſchaft fi) über die Dienſt⸗ 
boten und Werkleute befprechen und ihr Bedenken dem Herzog 
vorbringen; der Herzog wolle dann „ſolichs durchjehen und mit 
den jtetten Coln und Aich, dergleichen mit dem adminiftrator 
Coln darvon auch handlen laffen“. Darauf werden bejtimmte 
Perjonen beauftragt, die Städte Köln und Machen um Mittheilung 
ihrer Ordnungen zu erjuchen.*) 





1) G. v. Below, Landtagsaften 1, 584 und 587. Über den Begrif 
„Werkleute“ ſ. die Ordnung der Stadt Düren von 1588 bei Yonn, Rumpel 
und Fiſchbach, Materialien zur Geihichte der Stadt Düren, ©. 131 f. 

7 ch theile hier die Antwort der Stadt Köln (d. d. 1547 Dezember 15) 
mit; ich verdanke eine Abjchriit der Liebenswürdigleit R. Knipping's (aus 
dem Kölner Stadtarhiv, Briefbuch 68 f. 67 d). Köln an ben Herzog von 
Jülich: Unfern willigen bereiden dienft und vermogen zuvör. Hochgeborner 
turit, befonder lieber ber. Der hochgelerte Gobdart Gröpper, der redyten 
doctor, hat uns nach verlejung u. f. g. befegelter credenzen (d. 8.1547 Dzb 11) 
muntlid) vorgetragen, das e. f. g. begeren, von und bericht zu werden, welcher 
mäjjen die ordnunge der taglöner und werfleute in unjer jtat gehalten umd 
was inen nach gelegenheit der zeit zu belonung gegeben werde. Darui wollen 
wir u. f. g. zu dienſtlicher und nachbarlicher antwort nit verhalten, das bei 
ung van althere gute ordnung darinne gehalten worden, die fid) aber nuhe 
in diefen leiten duren jaren etwas verlaufen, aljo das nıan jedem werfman, 
der eind meiſters wert iſt, teglich uf feine eigne beköftigung 8 alb. Taufenbs 
paimeng unb uf der burger coiten 5 derjelbiger alb. in einem jommerlicyen 
tage gegeben bat und zu winterzeit teglichen 7’; alb. und ut der burger 
cojten 4!’ alb.:; dergleichen einem vopperfnedht fomertags uf feine coften 5 und 
zu winterzeit 41; alb., aber uf der burger coften 3 alb. Nuhe ift man mit 
de ampten jteinmeber, zimmerleut und andern bouleuden in handlung ber 
meinong, einmal bejtendige ordnung darinne ujzuridten. So balde man 
derjelbiger verglichen, wollen wir unbeſchwert fein, diefelbige u. f.g. auch zu⸗ 
zuftellen. Und was wir junft u. f. g. zun eren und dienftlichen gefallen 
bewifen mochten, des ſollen wir ieder zeit nadhbarlid und gutwillig geſpurt 
werden. Tas erfen Got almedtig, der u. }. g. in furfilicher regierung und 
itande fröfihd und geſunt beware. Gefchreven am XV. decembrid. — Die 





446 ®. v. Below, 


Wir wollen nun die Abhängigkeit der territorialen Gele 
gebung von der ftädtifchen nicht übertreiben. E8 war ja aud 
mandes, was die ftädtijchen Gewerbeordnungen enthielten, für 
dad Territorium nicht brauchbar. Immerhin jedoch zeigt ſich 
und hier wie auf anderen Gebieten die Worbildlichkeit der 
jtädtijchen Gefeßgebung des Mittelalters. !) 

Die Erjegung oder wenigſtens Ergänzung ber Iofalen Orb 
nung des Gewerbeweſens durch die territoriale ruhte, wie fchon 
‘angedeutet, auf einem lebhaft empfundenen Bedürfnis. Die Ur 
fachen der Anderungen bier eingehend zu erörten, würde zu weit 
führen. Nur ein Moment fei hervorgehoben. Wielleicht am 
meilten hat die Zandesregierungen zum Eingreifen in die gewerb 
lihen Verhältniſſe das Anwachfen des Handwerfs auf dem 
platten Lande 2) veranlaßt. Im Mittelalter waren die Städte 
die privilegirten Stätten für Handel und Gewerbe. Durch das 
GSäjterecht?), das Bannmeilenreht, das Verbot des Landhand 
werks in größerem oder geringerem Umfange hielten fie das um 
liegende platte Land in einer gewiſſen wirtbichaftlichen Abs 
bängigfeit. Nun mehrten ſich aber feit dem Ende des Mittel 
alter8 die auf dem Lande betriebenen Gewerbe, theil® in ‘Folge 
einer näheren Entwidlung der Dinge, theil® weil man unmittelbar 
für die ländliche Kundichaft arbeiten oder die billigeren PBroduftione 
fojten ausnutzen oder auch ſich vom Zwang der ftädtifhen Zunft 
ordnung losmachen wollte.*) Dieje Kreije wollten die wirth 
ſchaftliche Herrſchaft der Städte nicht anerfennen. Aber aud 
der einfache Landwirth empfand die Forderung der Städte, dab 
er jeine Produkte nur in ihnen abjeten jollte, als drüdende 


1) N. Wuttke, Gefindeordnungen und Gefindezwangsdienft in Sachſen 
bis zum Jahre 1835 (Schmoller, Forſchungen 12%, ©. 7 erwähnt, daß 
Sachſen aus dem Mittelalter nur eine Gefindeordnung befipt, und dies if 
eine ſtädtiſche. 

2) Vgl. M. Ritter 1, 29 und 40 5.; Scmoller, Jahrbuch f. Geſey⸗ 
gebung 1884, S. 27. und 295. und 1887, ©. 792, Forſchungen zur 
Brandenb. und Preuß. Geſch. 1, 65 und 104; Gothein a. a. O.; G. v. Belom, 
Sandtagsalten 1, 145. 

° Bol. Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften 2, 791 f. 

+) Mitter 1, 29. 





448 G. v. Below, 


die entgegengejegten Anſprüche ihrer Städte auözugleichen und 
das Stapelrecht ihrer Städte gegen das fremder Städte zu ver 
theidigen und zu erweitern. Das Territorium wird mehr und 
mehr al3 eine wirthichaftliche Einheit aufgefaht. Eben aus dieſem 
Geſichtspunkt ergab ich freilid) nod) eine weitere Neuerung 
gegenüber dem Mittelalter: die große Zahl der kleinen Stapel: 
rechte innerhalb des Territoriums wurde eingejchränft.?) 

So energijch indefjen die deutjchen Zandesherren die Intereiien 
ihrer Städte gegen einander wahrten, ihr Xerritorium war dod 
zu flein und ihre Intereſſen zu eng, als daß ſie den deutſchen 
Handel auch den außerdeutichen Staaten gegenüber hätten jchügen 
fönnen.?) Auf die Reichögewalt war gleihfall® nicht zu rechnen. 
Daraus erflärt ſich dag Schidjal der Hanfa. Sie Hätte fich, 
unter den veränderten Berbhältniffen, nur behaupten fünnen, wenn 
fie, wie etwa die englische Kaufmannjchaft, den Nüdhalt cines 
großen und fräftigen Staates gehabt hätte. Nicht genug aber, 
daß ein joldher fehlte; die deutichen Territorialherren jtanden 
überdies der Hanja wegen der Eelbftändigfeit ihrer Glieder miß— 
günjtig gegenüber. Die Gründe für den Fall der Hanja Liegen 
in eriter Linie auf politiichem Gebiet. °) 

Das Gewerbe und den Handel betrifft in gleicher Weije die 
jtädtiiche Theuerungspolitif, die im Mittelalter ſchon in großartiger 
Weiſe ausgebildet worden war. Das Reich und die Territorien 
haben auf diejen Gebiet in jener Zeit faun etwas aufzumeijen.*) 
Seit den Ende des Mittelalters gibt es jedod) auch eine lande& 
herrliche Theuerungspolitif.5) Sie findet namentlich) in zwei 

u Vgl. Schmoller a. a. O. ©. 30. 

" Bon allen deutihen Territorien bat nur die Negierung der bur- 
gundiſchen Niederlande eine erfolgreiche Handel@politif nad) auswärts ausgeübt. 
Ritter 1, 45 f. 

:s. Schäfer, Handwörterbud der Staatöiwijienichaiten 4, 389 j.; Ritter 1, 
54 f., 2, 22 f. und 411 fi.. . 

© Über eine Ausnahme vgl. ©. Küntzel, Über die Berwaltung dei 
Maß- und Gewichtsweſens in Teutichland während ded Mittelalters, S. 58. 

6. Ritter 1,43. 48. Schmoller, Jahıb. j. Befepgeb. 1851, S. 32. G. Adler, 
Tie ‚sleifchtheuerungspolitif der deutfchen Städte beim Ausgang des Mittel» 
alters, 2.103 ff. ©. v. Below, Maßnahmen der Theuerungspolitit im Jahre 
1557 am Miederrhein, Itſchr. j Soziale und Wirihſchaftsgeſchichte 3, 468 ff. 





450 G. v. Below, 


gegeben. Indeſſen wirklich fruchtbare Neuordnungen vermochte ed 
nicht durchzuführen. „Das große Fürſtenthum allein unterzog 
jih Ddiefer Aufgabe mit einer wenigitens alle jeine Nebenbuhler 
übertreffenden Kraft.“) 

Von einer Nachahmung des jtädtifchen Münzweſens durd 
die Qandesherren läßt fich jeit dem 16. Jahrhundert nicht eigent- 
(ich ſprechen. Diele gehört dem Mittelalter an.?) 


9. Das Bergwefen. Ein beſonders ruhmvolles Kapitel 
aus der deutfchen Rechtögeichichte bildet die Gefchichte des deutſchen 
Bergrechts. Das deutiche Bergrecht hat ich ohne Beeinfluffung 
von außen entwidelt und einen Siegeszug weit über Deutfchlands 
Grenzen hinaus gehalten. Der moderne Bergbau ijt zum großen 
Theil deuticher Kulturarbeit zu danfen. 


1) Ritter 1, 56 f. 

2) Vgl. Eheberg S. 96: Kaifer Karl IV. gewährt dem Burggrafen von 
Nürnberg das Recht, in feinen Städten Baireutd und Kulmbach Riennige 
und ‚Heller ſchlagen zu lafien nad dem Korn, nad der Aufzahl, jv man 
Piennige und Heller zu Nürnberg, zu Laufen oder in anderen Städten 
ſchlägt. K. Kunze macht mid; ferner noch auf folgende interejianten Urkunden 
anfmerljam. 1386 geitattet Hz. Wilhelm von Berg (Preuß⸗Falkmann. Lipp. 
Negeiten 2, Nr. 1346) der ravensbergifhen Münze in Bielefeld, unter jeinem 
Wappen weiße Tfennige wie die Städte Xübed, Hanıburg, Lüneburg und 
Wismar zu prägen. 1389 Oftober 10 verleiht Hz. Bogiölat VI. von 
Pommern (Dähnert, Sammlung Ronmerifher und Rügiiher Landee⸗ 
urtunden; fünjtig im Hanſ. UB. Bd. 4) der Stadt Wreifdwald de munte, 
der tho brukende unde pennynghe tho slande like aus anderen 
steden Lubek, Wismar, Rostock unde Stralessund, also «at ze de 
munte nicht ergher slan scolen laten we de anderen stede vorebeno- 
med. Were ok. dat de stede vorebenomed nicht een droghen edder 
tweyeden an der munte, so gheve wy unde ghunnen den sulven unsen 
borghermesteren, raatmannen unde menheyt unser stad vorbenomed, 
dat ze moghen de munte slaen laten, alzo de van deme Sunde do 
en, also dat ze mid der stad Stralessund allyke ghud ghelt alsen 
unde nicht ergher. Were dat ze de ınunte nicht also ghud een 
sloghen alao de van deme Sunde, dat uns, unsen mannen, unsen 
steden unde landen witlik worde, so moghen wy de munte wedder 
ropen. Vgl. nody zur Geſchichte des wendiſchen Münzvereine Koppmann, 
Hanferezefie 2, Ar. 172 (1379) und 224 (1381); v. d. Ropp, Hanſerezeſſe 7, 
Nr. 527 (1422) und 740 (1424), 








452 G. v Belom, 


Charakteriſtiſch aber iſt es wiederum, daß die Landesherren auch bei 
jenen Bergordnungen noch unmittelbar die bewährte Bergrechts⸗ 
funde des Freiberger Rathes benugten.!) Die Annaberger Orb 
nung von 1509 wurde dann theil durch direkte Übertragung 
theil3 durch die Vermittlung der auf ihr beruhenden Joachimsthaler 
Trönungen (namentlich der Bergordnung von 1548) die Mutter 
der meilten neueren Landesbergordnungen in Deutfchland.?) 

Das Bergrecht der Stadt Freiberg befaß jchon im 13. Jahr 
hundert weite Verbreitung.°) E& war u.a. au) nach Iglau ge 
fommen. Das Iglauer, d. h. dem Urjprung nach, zweifellos Frei⸗ 
berger*) Bergrecht wurde dann wiederum jehr weit verbreitet: Durch 
Deutichland, bis Venedig, bi8 Spanien und von dort aus im 
Zeitalter der Entdedungen über den Ozean bis in die neue Welt. 
Und es ift abermal3 (mwenigjtend von Haus aus) der Iglauer 
Stadtrath, der diefe Mittheilungen nach auswärts gegeben hat.°) 

10. Die Kirche. In neuerer Zeit ift mit bejonderem Nady 
drud auf die Bedeutung hingewieſen worden, welche dem jchon 
vor der Reformation ausgebildeten Landeskirchenthum zutommt.® 

1) Ermiſch S. CLXII. 

» Ermiſch S. LXIV. Gothein S. 651. C. Neuburg, Goslars Berg 
bau bis 1552 (Hannover 1892) ©. 365. Über die Übertragung des ſächſiſchen 
Bergrechts nach dem Niederrhein j. meine Yandtagsatten 1, 506. Urfprünglid 
iheint man in Jülich-Berg mehr an das Borbild von Lüttich gedacht zu 


haben (f. ebenda S. 210 f.). 
9 Ermiſch S. XLVI ff. 
*% Ermiſch S. XLVIII fi. 


) Ermiſch S. LXVIII ij. Es mag hier noch erwähnt werden, daj 
Kurfürſt Friedrich II. von Sachſen im Jahre 1444 mit einem Ausländer, 
nämlich mit Adrian Spierinc, dem wegen feines Geſchicks in der Auffindung 
pon Metallen belannten Bergmeilter des Königreich England (magister 
minerarum regni Anglie), Verhandlungen angefnüpft bat, um ihn zu einer 
Reiſe nadı Sachſen behufs Aufſuchung neuer Erzlagerftätten zu veranlaflen. 
Wir willen jedoch nicht, ob fie Erjolg Hatten. Ermiih S. CXLVLU. Hiezu 
vergleihe man, daB das ältejte Privileg für die Klingenjchmiede von Solingen 
fajt genau mit dem hundert Jahre früher den Scleijern in Sheffield er 
theilten übereinjtimmt. Alph. Thun, Die Induſtrie am Niederrhein 2. Theil 
(Leipzig 1879) ©. 8. 

79 Bgl. darüber zulegt Sohm, Kirchenrecht 1, 560; Friedberg, Lehrbud 
des fatholiihen und evangeliihen Kirchenrechts (vierte Aufl) ©. BI f.; 





454 G. v. Below, 


einzujchreiten. Das hatten die Landesherren lange ſchon gethan. 
Das fonnten damald auch mehr oder weniger katholische Fürſten 
thun, wie denn thatfächlich geiftliche Fürſten Amortifationsgejege 
erlafien!) und jo eifrige Gegner des Protejtantismus wie Georg 
von Sacjen?) und Marimilian von Baiern?) ein Landeskirchen⸗ 
thum ausgeübt haben. Die Reformation hat freilich den Einfluß 
des Staates in firdhlihen Dingen noch gefteigert, indem fie der 
weltlichen Gewalt erſt wirkliche Selbitändigfeit verlieh*) und ferner 
dem Landeskirchenthum mehr fonitruftive Ideen gab°); cine 
Steigerung, die übrigens mittelbar auch auf die Verhältniſſe 
in den fatholijchen Territorien einmwirkte. 6) 

Im mejentlihen in derſelben Weije wie die Landesherren 
find nun auch die Städte auf firchlichem Gebiete thätig geweſen.)) 
Allein während wir jonjt jo oft fanden, daß die Städte den 
Zandesherren vorauseilten, iſt das hier nur in beichränftem 
Maße der Fall. Unbedingt haben fie den Vorſprung bloß 
in Bezug auf die Amortifationsgefege: die jtädtifchen ftamnten 
Ihon aus dem 13.°), die territorialen erjt aus dem 14. Jahr 


1) Eo in Kurmainz jeit 1462. Kahl, Amortiſationsgeſetze S. 126; 
Handmwörterbuh der Staatswifjenichaften 1, 242. S. auch Varges, Jahrbücher 
f. Rationalölonomie 64, 520. 

2) Maurenbrecdher, Geſch. d. kath. Retormation 1, 97 7. 

3) F. Stieve, Das kirchliche Rolizeivegiment in Baiern unter Marimilion J 
(Münden 1876), S. 2 fi. Rojenthal, Verwaltungsorganifation Baierns 1, 337. 

*%) Sohm, Kirchenrecht 1, 544. Lenz, Preußiſche Jahrbücher 75, 432. 

6) Vgl. Kahl, Kirchenrecht 1, 263. 

6, Richter-⸗Dove-Kahl, Kirchenrecht (achte Aufl.) 8 74. — Man vergleiche, 
in welcher wenig ſachgemäßen Weife Nipich, Deutiche Geſchichte 3, 426 über 
die politiihe Wirkung der Reformation jpridt. 

’) Bgl. Hiezu im allgemeinen © L. v. Maurer, Städteverfaflung 
3, 187 ff. 4, 102 ff. 

®), Kahl, Die deutſchen Amortifationsgejege (Tübingen 1879) ©. 51 
Anm. 70 (Erfurt 1281: jept bei Beyer, Urfundenbud der Stadt Erfurt 
3. 1, Nr. 311); S. 53 Anm. 71 (Goslar 1219), Arnold 2, 177. 
G. v. Below, Landſtänd. Verf. 2, 40 (Wipperfürth 1282). Zeumer, Städte: 
jteuern S. 80. Mandye von den alten ftädtifhen Amortifationdgefegen find 
Privilegien, die der Stadtherr ertheilt; aber fie werden eben nur für dad 
Gebiet der Stadt ertheilt und müfien deshalb als jtädtifdhe, nicht als terris 
toriale Amortijationagefege angejehen werden. 


| 


‚Die ftädtijhe Verwaltung des Mittelalters zc. 455 
Hundert.) Ob dabei an Entlehnung zu denfen ift oder bie 


Die auffommenden Städte die Wahl des Pfarrerd oder wenig- 
ſtens ein Recht der Mitwirkung bei jeiner Bejtellung zu 
gewinnen juchen®), fo darf man ſolche Fälle nicht mit den 
Bemühungen der Landesherren, das Stellenbejegungsrecht 
Kirchliche Kollatoren, gar des Papſtes einzufchränfen, auf 
eine Linie jtellen. Denn es handelt jich dort doch nur 
am dem Übergang der Patronatsrechte des Stadtherrn auf 
Die Gemeinde. Yon dem Kampf gegen die geiftliche Juris— 
Diftion ſodann läßt ſich wohl jagen, daß er gleich früh, 
nämlih im 13. Jahrhundert, in den Städten?) und in den 


") Kahl ©. 226. 315. Friedberg, De finium ete. ©. 193 — 106 
@. ». Below, Landjtänd. Verf. a. a. O.; Landtagsatten 1, 142 ff. Das 
ältefte landesherrliche Amortijationsgeje ſcheint Friedrich der Schöne vom 
Öfterreich (vor 1311) erfaffen zu haben (geiflihe Berfonen dürſen liegende 
Er nicht ohne ausdrüdliche landesherrliche Bewilligung anfaujen). Über 
ögefep des Grafen Wilhelm von Holland von 1928 f. Gött. 
ee 1781 ©. 1288. Was Friedberg und Kahl don landesherrlichen 
Anortifationsgefepen aus dem 13. Jahrhundert anführen, reduzirt ſich darauf, 
daß ein Sandesherr den Übergang einer Beſihung an ein kirchliches Inftitut 
genehmigt oder beftätigt. Bon ſolchen Fällen hat aber ſchon Kahl felbit (S. 50 
Anm. 69) bemerkt, dab die landesherrliche (oder ſtädtiſche) Bejtätigung manch- 
mal nicht Bedingung der Giltigfeit war, ſondern nur zu größerer Sicherheit 
des Mechtöbeftandes der Zumendung erbeten und gegeben wurde. Überdies 
Hängt die Beftätigung mitunter mit einem nicht immer jofort erfennbaren 
beſonderen Rechtstitel zuſammen. 
9 ©. v. Below, Die Entſtehung der deutſchen Stadtgemeinde S. 111, 
Bol. übrigens auch W. Stein in der Meviſſen-Feſtſchrift © 32. 
®) Beifpiele aus dem 13. Jahrhundert bei Hinſchius, Kirchenrecht 5, 445 |. 
‚Die Berbote der Ladung vor ein ausmärtiges geiſtliches Gericht (Hift. Ziſchr 
59, 201 Anm. 7; Ennen, Quellen 2, 196) laſſen fih nur in bejchränftem 
Mahe Hierher ziehen. Sonſt tönnte man aus dem 12. Jahrhundert für 
unfer Thema ſchon das Stadtrecht von Medebach $ 16 (Gengfer, Stadtrechte 
©. 284) anführen. Was Hinfcius jonft aus dem 12. Jahrhundert erwähnt, 
k fih) auf flandrijge Städte. — S 435 Anm. 3 und ©, 437 Anm. 3 
 Hinjhius die irrigen Angaben Köhne's über die Stellung der Send» 


- gerichte im den Städten zurüd. 


456 G. v. Belom, 


Territorien?) einjegt. Im übrigen?) aber wird den Landes: 
herren der Vorrang zuzuerfennen jein. Sedenjalls ift ihre 
Kirchenpolitift ſchon im Mittelalter umfafjender und groß: 
artiger ald die der Städte. Die Privilegien, die jie 3. B. 
vom Papſte zu erlangen wußten, find zahlreicher und bedeuten: 
der als die, welche die Städte?) erhielten. Sie vermochten, 
wenn ein ſchismatiſcher Papſt jeine Obedien; erweitern oder ein 
Papſt ſich gegen das ihn bedrohende Konzil jichern wollte, mehr 
in die Waagichale zu werfen al® die Städte Auch mag er: 
wähnt werden, daß die Städte bei den Mapßregeln, die fie auf 
kirchlichem Gebiet ergriffen, mehrmals gerade von den Landes 
herren unterftügt wurden.*) Andrerſeits haben jie nod im 
Reformationgzeitalter und ganz bejonders damals jehr oft ihren 





y Hinihius ©. 447 Anm. 2. of. Hanjen, Rheinland und Weſijfalen 
im 15. Jahrhundert 1 (Publ. a. d. kgl. Preuß. Staatdardiven Bd. 34), 
Einl. ©. 4 f. 

2) Gerade die älteſten Nachrichten über die landesherrliche Bede jind 
lagen über Befteuerung des Kirchengutes durch die Landeöherren. Die 
Iandeöherrliche Bede aber ift, wie oben bemerft, älter oder mindejtend ebenſo 
alt wie die Stadtverfaſſung. Allerdingd haben im meiteren Berlauje des 
Mittelalterd die Städte die Steuerjreiheit des Klerus im einzelnen noch jtärfer 
ignorirt als die Landesherren. 

>) Über päpftlihe Privilegien für die Landesherren ſ. Friedberg, De 
finium etc. ©. 179; Barrentrapp, Hermann von ®ied 2,5; Hanfen a. a. O. 
S.65 ff. Über folhe für Städte ſ. Chronifen der deutichen Städte 16 (Braum⸗ 
ſchweig, Bd. 2, Herausg. von Hänfelmann), XVII fi.; Hanjen S. 5 Anm. 3. 

*) Luther's Werte 12,5. 9. v. Schubert ©. 34. — Zum Schluß mag 
bier noch eine? Parallelismus zwijchen ftädtifcher und territorialer Verwaltung 
gedadyt werden. Die Städte halten im Mittelalter ſich geiftliche Käthe 
(„oberjte Pfaffen“ oder „Prälaten” der Stadt genannt). Bol. W. Stein in 
der Meviſſen-Feſtſchrift S. 45 ff. Ebenſo haben die Landesherren fchon vor 
der Reformation „geiftlihe Räthe“, die fie jpeziell für irchliche Angelegen⸗ 
heiten (Eheſachen einſchließlich) gebrauden. Vgl. Hiftor. Tafchenbucd 1887 
©. 316 f.; Roſenthal, Benvaltungsorganijation Baiernd 1, 509 Anm. 3. Die 
Cinrihtung wird in den Städten und Territorien ziemlich gleich alt fein. 
Denn nicht jeder Klerifer, der im Dienfte der Stadt fteht, kann Hierher 
gerechnet werden. — Über die den proteftantifchen Konfiftorien entſprechenden 
Behörden, welche katholiſche Territorien feit der Reformation haben, vgl. 
Rofenthal S. 506 ff.: Richter⸗Dove⸗Kahl a. a. ©. Anm. 2. 





458 &. dv. Below, 


dieſes Streited darf man jedoch nicht zu tief ſuchen: er entipringt 
aus mejentlich äußeren Rüdfichten und Intereſſen. An einen 
prinzipiellen Gegenjag it fchon deshalb nicht zu denken, weil 
oft Päpſte, Biichöfe und Domjcholafter den Städten zum Siege 
verholfen haben. Dennoch iſt es von folgenreicher Bedeutung, 
dag jeßt nicht mehr bloß die Slirche, jondern neben ihr noch eine 
andere Macht für den Unterricht jorgt. 

Seit dem Neformationgzcitalter folgen die Landesherren dem 
jtädtiichen Beiſpiel: hauptjächlich unter dem Einfluß der Eirchlichen 
Reformation!) gründen jegt aud) fie Schulen, und zwar Schulen 
nicht bloß für den höheren, jondern auch den mittleren Unterricht. 
Sie erlajjen ferner allgemeine Schulordnungen.?) Freilich haben 
fie damit das jtädtiiche Schulweſen keineswegs bejeitigt, wie aud 
die Kirche (fatholiiche wie proteftantifche) jeit der Reformation 
dem Unterricht noch ihre Pflege widmete. Die Städte entwideln 
im 16. Jahrhundert vielleicht Jogar mehr Eifer in diejer Beziehung 
ald im Mittelalter. Iener Schulitreit wird fortgejegt?) umd 
erhält jegt, im Zufammenhang mit den in der firdjlichen Refor- 
mation bervortretenden Beitrebungen, einen tieferen Hintergrund. 
In Bezug auf Gründung von liniverfitäten übertreffen Die Landes⸗ 
herren die Städte jegt noch mehr ald im Mittelalter. Im die 
Pflege des mittleren Unterrichts theilen jich beide etwa gleid) 
mäßig. Won den berühmten Pädagogen des 16. Zuhrhunderts 
z. B., die man „die vier großen protejtantifchen Reftoren des 
16. Sahrhunderts”*) zu nennen pflegt, find zwei an jtädtijchen 
Schulen thätig gemein — Joh. Sturm in Straßburg und 
Dieronymus Wolf in Augsburg —, zwei an landesherrlichen — 


', Über die ungünftige Wirkung der Segenreformation auf das Schul: 
iwejen dal. andrerjeits Kluckhohn a a. O. S. 174. 

2) Vgl. Möller, Lehrbuch der Kirchengeſchichte 3 (herausg. von Kawerau), 
3917. Die ältejte baieriſche Sculordnung jtammt aus dem Jahre 1548 
von Herzog Wilhelm IV.). Kluckhohn S 175. 

3) Vgl. 3.8. ©. v. Below, Landtagsaften 1, 147. 210. über die 
Berdienjte der Städte um das Schulweſen feit der Reformation vgl. u. N. 
Bartgold, Geſch. der deutjchen Städte 4, 414, Koldewey S. 30 ff. und die 
vorhin angejührten allgemeinen Werte. 

“Schmid a.a. TC. 2°, 276 ff. 





460 G. v. Below, 


die Grundlage für die Qüneburger Ordnung von 1564 iſt. Dies 
Beilpiel zeigt zugleich, wie noch die ftädtiichen Ordnungen des 
16. Jahrhunderts al8 Mujter dienen konnten, und ferner, wie 
doch ſchließlich das ftädtifche Vorbild verlaffen wurde (indem 
man fich an eine landeöherrliche Ordnung felbjtändigen Urfprungs, 
die Württemberger, anlehnte). 


12. Die Urmenpflege. Die Geichichte der Armenpflege 
verläuft vollfommen parallel der des Schulweſens. Bon Haus 
aus ruht fie cbenfe wie die Schule in der Hand der Kirche (reip. 
in der von Genoffenjchaften wie Zünften und Brüderjchaften). 
In der zweiten Hälfte des Mittelalters tritt neben die Firchliche 
die ftädtiiche Armenpflege.!) Die Fürſorge der Städte für das 
Armenweſen äußert fi) namentlich in folgenden Punkten. Der 
Stadtraih nimmt in immer weiterem Umfang einen Antheil an 
der Spitalverwaltung für ſich in Anjprud.?) Neben dem firdy 
lichen Armenvermögen jammelt fich jegt ein jtädtiiches an. Es 
werden Bettelordnungen von Stadt wegen erlafjen. Wereinzelt 
fommen auch jchon von der Stadt angeitellte Armenpfleger vor.?) 

Mit der Reformation ändern ſich die allgemeinen Anſchauungen 
über das Armenwejen.t) Sie bejeitigt insbeſondere die Anficht 


1) G. L. v. Maurer, Städteverfajjung 3, 41 fi. Reinhold, Verfaſſungs⸗ 
geih. von Weſel S. 99. V. v. Woilowäty-Biedau, Das Armenweſen des 
mittelalterlihen Köln (Breslauer Difj. von 1891). Bgl. dazu Keuſſen in der 
Deutichen Literaturztg. 1892 Sp. 601 j. Knipping, Jahreshaushalt ©. 151. 
Die beite Überfiht gibt Uhlhorn in feinem ausgezeichneten Buche: Die chriſt⸗ 
lihe Liebesthätigleit 2, 431 ff. (j. auch Handwörterbuch der Staatswiſſen⸗ 
idaften 1,824 ff.). S. 449 f. ſpricht er über die Armenpflege in den mittel 
alterlihen Landgemeinden und den Zujfammenbang der jtädtifchen mit diefer, 
S. 396 ff. über die genofjenichaftlihe Armenpflege. 

2) Vgl. G. Rapinger, Geſch. der kirchlichen Armenpflege (isreiburg i. B. 
1868) 5.280: „Tie Bürgergemeinden behielten ſich regelmäßig die Adminiftre- 
tion der Temporalien eines Hojpital® vor und fügten zur frommen Gefinnung, 
welche jolhe Gefinnungen in's Leben rief, noch die Kunſt einer umfichtigers 
Berwaltung und die Sorgjalt eine® guten Haushalts hinzu.“ 

2) Uhlhorn S. 458. In England, das ja in der ftaatlichen Entwidiung 
Deutſchland voraus war, gibt es aus dem Mittelalter auch ſchon ftaatlide 
Bettelordnungen. Uhlhorn 3, 498. 

% Bgl. Uhlhorn 3, 13. 16. 


Die ftädtifche Verwaltung bes Mittelaltero ıc. 401 


von der Verdienſtlichkeit des Bettlertyums. Sie wandelt ferner 
den äußeren Charafter der Armenpflege um: die mittelalterliche 
Armenpflege ist anftaltlicher Natur; die proteftantijche ift Gemeinde⸗ 
armenpflege. Diejer Änderung hatten ſchon die Städte vor- 
gearbeitet. 

Die Gemeinden, welche jegt die Armenpflege übernehmen, 
jtehen freilich feineswegd im Gegenſatz zur Kirde. Sie find, 
wenigitens in dem lutherischen Landſchaften, vielmehr bürgerlid;e 
und firchlihe Gemeinden zugleih; und fo auch in manchen 
rejormirten Gegenden. Andere reformirte Gemeinden, nanentlic) 
ſolche in Zerritorien, deren Herrichaft einem anderen Glaubene- 
befenntnis anhing (z. B. am Niederrhein), find fogar rein kirch⸗ 
ide Körper. Der religiögsjittlihe Ernſt der reformirten Kirche 
bat hier eine großartige kirchliche Armenpflege hervorgebradt.’) 
Gemeindearmenpjlege iſt jedoch aud) dieie, im Gegenſatz zum 
mittelalterlihen Eyjjtem. 

Sen der Reiormation widmen ſich nun weiter, zum großen 
Ihe wwtolge der reformatoriichen Bewegung?,, aud) die Lanves- 
berser der Armenpilege.’, Eie erlaiien Armenorönungen tür ihr 
Terre uud errichten Sondeshoipitäfler.* Tie örtlide Armen 
sie zu eimzrimen bleibt ireilit den Gemeinden. Eben wegen 
”i zur Uemandes fonnten die Sandexherten 14, um’omett 
er nütende Eimrıhnungen anitlieger.' 

= & Emm. ie Abe mruente Semarieimersisze 1m 
R Timr 154 

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462 Die jtädtifche Verfafjung im Mittelalter zc. 


Wie aus dem Gejagten bereit hervorgeht, find die Landes 
herren auf dem Gebiet der Armenpflege keineswegs etwa mit dem 
Beginn der Neuzeit ganz an die Stelle der Städte getreten. Die 
deutichen Städte haben hier vielmehr bis in die neueite Zeit und 
gerade in diefer eine höchft bedeutungsvolle jelbitändige Thätigfeit 
entwidelt.!) Das Syſtem der Armenpflege, das eine deutſche Stadt 
des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat, das Elberfelder *) Syitem, 
wird Heute von der nationalökonomiſchen Wiſſenſchaft jogar als 
Mufter der Armenpflege bezeichnet und bat nicht nur in vielen 
deutjchen Städten, jondern auch über Deutichlande Grenzen 
hinaus Aufnahme gefunden. Die Fürſorge ded Staates für die 
Armen jchließt die Thätigfeit der Gemeinden nicht aus, wie 
ebenjo feit der Trennung der bürgerlichen und firchlichen &e 
meinden und der Ausbildung einer rein bürgerlichen Armenpflege 
die rein firchliche noch immer ihre Berechtigung behält.°) 


In den vorftehenden Ausführungen Haben wir zwiſchen 
direfter Nachahmung und einfacher typiicher Entwidlung unter 
ichieden. Auch die Errungenschaften der Städte, welche nicht 
unmittelbare Nachahmung in den “Territorien gefunden haben, 
find nicht vergeblich geweien. Die indirefte Wirfung, die eine 
Einrichtung ausübt, iſt oft nicht weniger bedeutjam als die direkte. 


mitunter andere, ältere jtädtifche Einrichtungen als Muſter gedient. Uhlhorn 
3.89: „Man jhuf in dem Kollegium der Kaſtenherren einen ganz ähnlichen 
Verwaltungskörper, wie man deren für jtädtiihe Angelegenheiten befad.” 
2.%: „Hatte man doch ... dad warnende Beijpiel fo vieler durch unordents 
lihe Wirthſchaft heruntergefommenen Klöſter und Spitäler und anbrerfeits 
das gute Vorbild der jorgjamen jtädtiichen Finanzverwaltung und ihres ſchon 
jehr ausgebildeten Nechnungdivefen® vor Augen.” 

1) Über die Verdienſte der Städte um die Armenpflege jeit der Refors 
mation vgl. z. B. Barthold 4, 337; Jahrbuch f. Befepgebung 1884 5. 286 ff. 
und 1895 ©. 674. Für Luther's Stellung zur Armenpflege iſt die Kaftens 
ordnung don Xeidnig eine der mwichtigften Quellen. Über die ihrer Eins 
führung entgegengejegten Schwierigkeiten |. Luther's Werfe 12,6. Bgl. auch 
die Literaturangaben ebenda S. 81. 

2) Uhlhorn 3, 453 fi. Handwörterbuch der Staatswiflenidyaiten 3, 227 fi. 

s; Vgl. Simons S. 148 fi. 





Zur Geſchichte der Begründung der ſchwediſch— 
norwegiſchen Union. 
Von 
Dietrich Schäfer. 


In der reichen Literatur über die Begründung der ſchwediſch⸗ 
norwegiſchen Union, welche der Zwiſt zwiſchen den beiden Staaten 
hervorgerufen hat, iſt die neueſte darſtellende Publikation eine 
Schrift von Nils Eden. Betitelt Kiel-Freden och Unionen 
(Upſala 1894. 143 ©. 8°), iſt fie jetzt auch in deutſcher Über 
jegung erichienen: Die jchwediich- norwegische Union und der 
Kieler Friede. Eine hiſtoriſch⸗-ſtaatsrechtliche Unterſuchung von 
Nils Eden. Autorifirte deutiche Ausgabe. Mit einer Vor 
bemerfung von Frig Arnheim. (Leipzig, Dunder & Humblot. 
1895. 155 S. 8°.) Die Thatjache, daß fie als erfte jelbjtändig 
ericheinende Schrift über dieje Frage dem deutichen Publikum 
vorgelegt wird, rechtfertigt wohl ein bejondere® Eingehen auf 
fie. Leider führt ein folches zu dem NRefultate, daß Eden's 
Arbeit nicht geeignet ift, in irgend einem wejentlicden Punkte 
die Kenntnis oder Beurtheilung der einjchlägigen Hergänge zu 
fördern, wohl aber die Verwirrung und Erbitterung in ben 
Tagesfämpfen zu fteigern. 

Der Berfaffer will, bejonders in Anlaß der Bublifationen 
Aubert's und Nielfen’3!), die Frage beantworten: „Sit der Kieler 


)Y L. M. B. Aubert, Kielertraktatens Opgivelse som Unionens 
retslige Grundlag. Christiania 1894. 55 ©. 8°. — Y. Nielsen, 1814. 
Fra Kiel til Moss. Christiania 184. 875 8. 





466 Dietrich Schäfer, 


aft, ohne jede rechtliche Grundlage? Und was die Norweger 
1536 über ſich ergehen ließen und ergehen laffen mußten, weil es 
zwar feinerlei völfer- oder jtaatsrechtliche, wohl aber, bei der ba- 
maligen Schwäche und Ohnmacht des norwegifchen Volkes, eine 
genügende politische Grundlage hatte, weil e8 der Ausdrud der 
beitehenden Machtverhältniſſe war, das jollten fie verpflichtet fein, 
für alle Zeiten zu ertragen? Sie jollten keinerlei Recht haben, 
zu gelegener Stunde, gejtügt auf eine in falt ununterbrochen 
auffteigender Entwidlung wieder erjtarfte Volkskraft, die alt- 
beſeſſene politijche Selbftändigfeit wieder zu beanspruchen? Was 
ift das für eine völferrechtliche Gelehrjamleit, die von einem der: 
artigen Rechte nichts weiß? 

Aber gleichwohl, darüber kaun ja gar fein Zweifel jein, daß 
der König von Schweden das Recht beſaß, den Stieler ‘Frieden 
mit den Waffen in der Hand zur Durchführung zu bringen, die 
Norweger unter jeine Herrichaft zu zwingen. Wenn fie ihrer 
jeitö politiiche Selbitändigfeit beanjpruchten, jo hing der Erfolg 
davon ab, ob jie Manns genug waren, jolche Selbitändigfeit zu 
erringen und zu behaupten. Die Sadhlage war eben die, daß fi 
bier von vornherein Beitrebungen gegenüberjtanden, von denen 
feine fich eines bejjeren Rechts als die andere rühmen fonnte. 
Die Norweger waren eine unleugbar beftehende, wenn auch ohne 
politiiche Selbitändigfeit beitehende Nation; fie hatten zwar fein 
völfer- oder ftaatsrechtlich ftipulirtes, wohl aber ein zweifelloſes 
fittliche8 Recht, in einem Augenblide, wo fie als corpus vile 
aus der Hand einer Macht in die einer andern gegeben werben 
jollten, die ihnen dereinjt rechtlos entfremdete politiiche Selb 
Itändigfeit wieder zu beanjpruchen. Schweden andrerjeit3 war 
aud in jeinem Rechte, wenn es auf Grund des Stieler Friedens 
Unterwerfung forderte. Diefe Sachlage iſt e8, die Verfaſſer mit 
feiner doftrinären Aufruhrstheorie völlig überfieht. 

Die weitere Entwidlung ijt denn auch nur ein Ausgleich 
zwijchen diejen beiden Standpunften gewejen und zwar ein Aus— 
gleich, der ganz überwiegend in norwegiihem Sinne ausgefallen 
ift. Schon der Kieler Friede loderte die Bande der Abhängigkeit, 
in der Norwegen bislang geitanden hatte. Er beftimmte, dab 





468 Dietrich Echäfer, 


Motiven, kann zunächſt gleichgültig jein — an die Spike der 
norwegifchen Erhebung geftellt, Hat ihr Führung und Mittelpunft 
gegeben. Eine Nationalverfammlung trat im April in Eidsvold 
zujammen, arbeitete ein Neichögrundgejeg aus und wählte an 
demfelben Tage, wo dieſes angenommen wurde, Chriltian Friedrich 
zu Norwegens König. Einem ſolchen Vorgehen gegenüber fonnte 
Schweden, wenn es jein Recht nicht ganz aufgeben wollte, nur 
noch an die Waffen appelliren. 

Hier erlangt nun das Machtverhältnis der beiden Völker 
eine Bedeutung. Wäre die Überlegenheit Schwedens eine einiger 
maßen erdrüdende gemwejen, jo hätte es die norwegiſche Selb 
jtändigfeitsbewegung in ihren erften Anfängen erjtiden können. 
Aber das war doch entfernt nicht der Fall. Der beite Theil 
von Echwedens Streitfräften ftand im Heere der Verbündeten 
gegen Napoleon und wurde erjt frei durch deflen Sturz. Was 
im Reiche zurüdgeblieben war, reichte nicht Hin, auch nur einen 
Verſuch zu machen. Erft ald Karl Johann (Bernadotte) mit jeiner 
Armee zurüdgefehrt und weitere Rüftungen vollendet waren, fühlte 
man ſich Itarf genug (Ende Juli), In einem ziemlich unblutig 
verlaufenden Feldzuge drang man ungefähr 50 km weit in Feindes⸗ 
land ein. Aber jchon am 14. Auguſt machte die Konvention von 
Mop allen friegeriichen Mapregeln ein Ende. 

Es ijt neuerdinge zweimal, und zwar beidemal von 
ſchwediſcher Seite, die Trage unterjucht worden, ob Schweden 
militärich im Stande geweien wäre, den Widerftand der Norweger 
völlig zu brechen, e8 zu willenlojfer Unterwerfung zu bringen. 
Mankell möchte dieje Frage verneinen, Björlin, gewiß der weit 
gründlichere und beſſer unterrichtete Forſcher, fie bejahen.!) 
Zweifellos waren die Schweden den Norwegern militäriich weſent⸗ 
(ich überlegen. Referent möchte ſich auch der Meinung Bjdrlin’s 
anſchließen. Aber für die Frage nad) der Begründung der Union, 


ı. J. Mankell, Fälttäget i Norge är 1814. Stockholm 1887. Bgl. 
Hiſt. Ztſchr. 69, 157. 162 5. 8%. — Björlin's Bud iſt auch deutſch er⸗ 
dienen: Ter Strieg in Norwegen 1814. Nach amtlihen Quellen und Auf 
zeichnungen dargeitellt von Guftaf Pijdrlin. Stuttgart: Stodholm 18985. 
854 S. 8°. 





470 Dietrich Schäfer, 


Konftitution anzunehmen und feine anderen Abänderungen der: 
jelben vorzufchlagen, als für die Vereinigung beider Reiche noth- 
wendig jind, ſolche Abänderungen aber nur im Einverjtändnis 
mit dem Reichstage vorzunehmen. Wo bleibt da der Slieler Friede? 
Der König von Schweden jtellt jich ja fait vollftändig auf den 
Standpunkt des „aufrühreriichen“ norwegiſchen Volks, erfennt 
rundweg die vornehmfte Frucht dieſes „Aufruhrs“, Die jelbit- 
gegebene Berfaflung an. Selbitverftändlich, wenn diefen Ber 
einbarungen eine dauernde Verftändigung nicht folgte, fo blieb 
e8 dem Könige von Schweden unbenommen, auf den Sieler 
Frieden zurüdzugreifen; ſchon deshalb konnte er nicht ausdrüd: 
lich verzichten. Aber diefer Fall ift ja nicht eingetreten. Es ift 
ja eine Verſiändigung erfolgt. Und dieje Verftändigung, bei der 
e8 ausdrücklich ausgeſprochen wird, daß Norwegen ein freie? 
und jelbjtändiges, aber mit Schweden unter einem Könige ver: 
einigtes Reich jein jol, die bildet zufammen mit den voranf- 
gehenden ftaatsrechtlichen Akten, der Aufrihtung einer Neid)“ 
verfaffung am 17. Mai und der Moß-Konvention vom 14. Auguſt, 
die Grundlage der gegenwärtig beftehenden ſchwediſch-⸗norwegiſchen 
Union, nicht aber der Sieler Friede. Norwegen gegenüber hat 
der Kieler riede für Schweden nicht mehr Bedeutung, als für 
den König der Niederlande gegenüber Belgien die Beitimmungen 
des Wiener Kongreſſes. Gegen Dänemark und jede dritte Macht 
iſt allerdings dieſer Friede noch heute ein Rechtötitel für Schwedens 
Anſprüche an Norwegen, aber ein Rechtstitel, der im Grunde 
genommen auc, entbehrlich gemacht worden ift durd) die zwiſchen 
Schweden und Norwegen aufgerichtete Union. Beſteht dieſe, To 
ift fie eine völlig genügende rechtliche Grundlage, um Anjprüde 
jeder dritten Macht zurückzuweiſen. 

Der Verfaſſer widmet lange Ausführungen den Einzelheiten 
der Verhandlungen und dem Bemühen, feine Auffaffung durch 
die Haltung der Großmächte zu fügen. Er hat da in Diefer 
und jener Nebenfrage gegenüber norwegischen Auslafjungen nicht 
immer Unrecht, aber in der Hauptfache kämpft er gegen Wind 
mühlen, weil er die Thatjachen gegenüber Worten und Formen 
glaubt völlig überjehen zu können. Charafteriftiih für feine 





472 Dietrih Schäfer, 


völlige gewaltjame Nicderwerfung der Norweger denn doch aud) 
Schweden menjchlichem Ermejjen nad) viel Blut und Geld ge 
foftet haben würde; dann Zweifel, ob auf diefem Wege ein 
dauernder und ruhiger Anjchluß Norwegend an Schweden zu 
jihern fei, Zweifel, die in der Art und Denfweije der leitenden 
Berjönlichkeiten eine Stüße fanden; drittend die Haltung der 
Großmächte, die einem friedlichen Ausgleich entichieden das Wort 
redeten. Auf die fich eröffnende Möglichkeit, ohne weiteren Krieg 
in den Belig Norwegens zu gelangen, ift Karl Johann alsbald 
eingegangen. Dieje Möglichkeit eröffnete ich in dem Augenblide, 
wo Chriftian Friedrich ich nicht mehr entjchieden fträubte, jeinen 
Aniprühen auf Norwegen endgültig und ohne Vorbehalt zu 
entjagen. &8 lag eben jo, daß Ehriftian Friedrich das Ichwierigite, 
ja das einzige nennenswerthe Hindernis zwiſchen dem norwegiſchen 
Bolfe und dem jchwediichen Könige geworden war. Es ift nun 
ſelbſtverſtändlich, daß Schweden, indem es die Stonvention von 
Moß einging und die Entfernung Chriſtian Friedrich's aus feiner 
bisherigen Stellung mit der thatlächlichen Anerfennung der Eide 
volder Verfaſſung erfaufte, doch bemüht war, möglichjt wenig 
von feiner bisherigen Auffaffung preiszugeben. Und diefem Be 
ſtreben entipringen die Beitimmungen der Konvention über die 
Form des Zurüdtretens Chrijtian Friedrich'ſs von der geübten 
Gewalt, ihrer Übertragung auf Andere, über die Führung der 
Geſchäfte bis zur Verſammlung des Reichstags durch den Staats⸗ 
rat „auf hohen Befehl“, eine Klauſel, welche die Streitfrage, 
ob im Namen des ſchwediſchen Königs regiert werde oder nicht, 
unentjchieden lieh. Das find „mezzi termini“, unter denen die 
gegenüberjtehenden Auffajfungen gewahrt blieben, YAuffaffungen, 
die gewahrt bleiben mußten, wenn man zu einer Berftändigung 
fommen wollte, da feine der andern zu weichen bereit war. In 
den weiteren Verhandlungen, die mit der Wahl Karl’8 XIII. zu 
Norwegens König (4. Nov. 1814) ihren Abſchluß fanden, gerieten 
aber Schwedens PBertreter vor allem dadurch in Nachtheil, daB 
Karl Johann die Bereinigung jo ziemlic” um jeden Preis herbei. 
führen wollte. So fam e8, daß, wenn auch formell und ausdrüd» 
fich niemals der alte Standpunkt aufgegeben und nie für gejeglich 





474 Dietrich Schäfer, 


zwei fchwedijche entgegen, einmal, da8 Bruderland möge Schweden 
feinen Anlaß geben, auf den Stieler Frieden zurüdzugreifen, zum 
andern, „Norwegen? Männer der Wiſſenſchaft mögen Redensarten 
vermeiden wie die, daß dieſes oder jenes geeignet fei, bei allen 
Norwegern böjes Blut zu erregen“. Ich ftehe meinerſeits nicht 
an, zu erflären, daß gerade gegenüber Verjuchen, wie Eden fie 
unternommen hat, Aubert’3 Wunfch feine volle Berechtigung bat. 
Berfuche, die norwegiiche Bewegung von 1814 als bloßen „Aufruhr“ 
zu ſtempeln, alle8 „Recht“ auf fchwedifcher, feines auf norwegiſcher 
Seite zu finden, die find gewiß nur zu geeignet, böjes Blut zu 
machen, und erjchweren allen unionsfreundlicden Männern Nor— 
wegens — und Sie find heute vielleicht nicht mehr der größere, aber 
jedeufall® noch der beilere Theil der Nation — ihre Stellung ganz 
außerordentlid. Sowohl von praftijchepolitifchen wie von wiſſen⸗ 
Ihaftlichen Gefihtspunften aus iſt Eden’3 Buch in feinem Haupt 
inhalt verfehlt, und Deutjchlands dffentliche Meinung würde 
völlig irre gehen, wenu fie fich diefe Darlegungen aneignen mollte, 
eine Gefahr, die auch wohl kaum beſteht. 

Übrigens find auch ſchon von ſchwediſcher, und zwar autori« 
tativer Seite, Eden's Deduftionen nachdrücklich zurüdgemielen 
worden (Svensk Historisk Tidskrift XIV, Öfversikter 102 ff. 
von [Etaatsrath] C. G. Hfammarskjöld)). Mit Recht wird hier 
u. a. hervorgehoben, daß Schweden nicht nöthig Habe, im Falle 
eines Bruches der Union von norwegifcher Seite auf den Kieler 
Frieden zurüdzugreifen, wenn ed wirklich dem Gedanken der 
Gemwaltanwendung näher treten wolle; die Thatjache eines Bruches 
der Union, als eines ftaatsrechtlich bindenden Altes, genüge, um 
Schweden freie Hand zu geben in Anwendung der Mittel, welche 
die Wiederaufrichtung einer ſchwediſch-norwegiſchen Verbindung 
ſichern könnten. Alſo auch für die ultima ratio bedarf es jo 
doftrinärer Auffaſſung nicht, wie Eden fie beliebt hat, und damit 
jinft die legte Berechtigung jeiner Schrift dahin, ſoweit wenigitens 
ihr Hauptinhalt in Frage kommt. 

Europa verfolgt den nordiihen Zwift mit XTheilnahme. 
Man darf wohl jagen, daß es in jeiner weitaus größten WMajorität 
die Qöjung der Union tief beffagen würde Mit dem Treiben 


Bur Geſchichte der Begründung der jcywediichenorwegijchen Union. 475 


der norwegischen Radikalen iſt wohl nur in principiell republi- 
faniichen Streifen Sympathie vorhanden; andrerfeit3 kann nicht 
leicht jemand der fejten, ruhigen und befonnenen Haltung 
des regierenden Königs feine Anerfennung verjagen. Xroß- 
dem ift, wenn ein glüdficher Abjchluß der fchwebenden Fragen 
erreicht werden foll, von größter Wichtigfeit, daß ſchwediſche 
Bubliziften nicht DI in's Feuer gießen, indem fie Auffaffungen 
vertreten, gegen die jeder Norweger Front machen muß. Heute 
ihwebt der Streit in der Hauptjache noch zwiſchen Norwegens 
Unionsfreunden und Uniondgegnern, und noch liegt fein Anlaß 
vor, an dem endlichen Siege der Erjteren zu verzweifeln. Zu 
widerfinnig wäre die völlige Trennung der beiden Nachbar: 
völfer. Nimmt der Kampf aber einmal die Form eines Streites 
von Bolf zu Volt an, fo möchte die Union aus dem Bereiche 
der Möglichkeiten zurüdtreten. Es würden fich dann zweifellos 
auch Europas Sympathien weit mehr theilen, als das heute der 
Fall iſt. 


Miscellen. 


Das vermeintliche Schreiben Wiclif's an Urban VI. um 
einige verlorene Flugſchriften Wielifes aus feinen letzten 
Rebenstagen. 


Bon 3. Coſerth. 


Viele WiclifeForjcher verlegen in da8 Jahr 1384 ein Schreiben, 
dad Wichf an den Papſt Urban VI. gerichtet hat.!) Wiclif jagt darin, 
er freue Sich Tebhaft, wenn es ihm vergönnt jei, Jedermann feinen 
Glauben darzuthun; bejonders Tebhaft jei dieſe Freude, wenn er die 
dem Papſte gegenüber thun könne: denn der werde den Glauben, 
wofern es der rechte „in Demuth“ bejtärken, wofern er aber irrig fei, 
verbejiern. Man envartet nun ein förmliche® Glaubensbelenntnis. 
Statt defjen werden nur fünf Punfte dargelegt, die insgeſammt auf 
ein und dasſelbe Ziel führen: 1. Das Evangelium hat unbedingte 
Autorität; 2. jeder Chrift, vor allem der Papſt, ald Stellvertreter 
Chriſti auf Erden, Hat ſich nad diefem Geſetze Gottes zu richten; 
3. Chriſtus — fo ſteht in diefem Geſetz — war ald Menſch der 
Armſte und wies jede weltliche Herrſchaft von ſich; 4. kein Gläubiger 
darf dem Bapite, ja ſelbſt einem Heiligen nachfolgen, wenn dieſe 
Nachfolge nicht auf dem Borbilde Chrifti beruht. Daraus folgt 
5., daß der Papſt die weltliche Herrichaft preißgeben und dazu aud) 
jeinen Klerus anhalten muß. 

Wenn ich in diefen Punkten, jagt Wiclif, geirrt haben follte, jo bin 
id) bereit, mich jeder Buße zu unterziehen. Er wäre für jeine Berfon 
bereit, fih dem Papſte zu jtellen, aber er jei aus dem Evangelium 


1) Zulept gedrudt bei Ledler, Johann v. Wiclif 2, 633 — 6834. Die 
übrigen lateiniihen und engliihen Drude ebenda 1, 713. 





478 3. Loſerth, 


So kann Riclif nad) der Cruciata über den Papſt Urban VL nidt 
mehr gedacht und gejchrieben Haben; ſchon im Trialogus, der im 
Jahre 1381 verfaßt wurde, lieft man: „Nach dem eben Gejagten muß 
man glauben, daß fein Papft nad) Chrifti Anordnung nothwendig ift, 
ja daß er nur dur Zug und Trug des Satan in die Kirche ein- 
geführt wurde: Et sic supposito quod non est aliquis talis in 
ecclesia militante per legem scripture quam habent fideles, et per 
adiutorium episcopi animarum, qui est supra in ecclesia trium- 
phante, stabilius staret nostra ecclesia, quam stat modo. Man 
liebt, hier bat er mit dem Papſtthum jchon abgeſchloſſen. E8 wäre 
für die Kirde — lehrt er bier und in anderen Schriften — viel 
bejjer, wenn e3 ein Bapitthum nicht gäbe. Dem Papftthum, wie e3 
beiteht, dankt man das Aufkommen des Sarazenenthums, die Spaltung 
zwiſchen morgen= und abendländifcher Kirche u. ſ. w. Als die Kirche 
ihre Dotation und die weltliche Herrfchajt noch nicht bejaß, da wuchs 
fie gar prädtig: et statim post dotationem Caesaream cecidit 
secta Saracenica et post divisa est ecclesia Graeca cum aliis 
ecclesiis particularibus, quibus est longe tolerabilius quam est 
nobis. So lehrt er aud) im Trialogus, man müfje die Fürjten dieſer 
Welt auffordern, ji vor dem Raub ded Antichriſt zu vertheidigen; 
die Kleriker, die er in’& Land bringe, müſſe man verjagen, ihn jelbit 
dürfe niemand unterjtügen. Von den Klerikern müfje man verlangen, 
aus der Bibel den Beweis zu erbringen, daß dad Papſtthum in die 
Kirche nur eingejhmuggelt worden ſei. 

Am ſchärfſten äußert er fih in feinen legten Werte — dem 
Buh von Antichriſt. Hier ift der Papſt die abhominatio in ab- 
stracto, der Greuel der Verwüjtung am hl. Orte. Heilig, grade fo 
ironifch zu nehmen, wie wenn man fage „Deiligiter Vater“. Es fe 
geradezu fchrediih für alle Chriſtenmenſchen zu hören, daß ein ſolches 
Teufelshaupt (tale caput diaboli) jih den Stellvertreter Gottes auf 
Erden nennt: Hoc ergo est abhominacio in abstracto quam 
Daniel prophetavit. Sicut facit se nonıinari patrem beatissimum, 
sic facit curiam suam specialem nidum diaboli eimonie atque 
omnis mendacii vocari sedem sacratissimam. 

Wenn es demnad im Jahre 1384 jeinen beftigjten Zorn erregt, 
daß der Papſt ſich nenne immediate Christi vicarius, wie fann er zu 
derjelben Zeit ihm ein Schreiben zugejandt haben, darin er den Papft 
geradezu jo nennt: Suppono iterum quod Romanus pontifex, cum 
sit summus vicarius Christi in terris, sit ad istam legem evangelü 





480 J. Loſerth, Das vermeintliche Schreiben Wiclif8 an Urban VL x. 


Keber anzufehen und danad) zu behandeln. Unter allen vier Punkten 
liegt ihm die Lehre vom Leib des Herm am meiften am Herzen. 
Über den modernen Gößendienft müflen Könige, geiftliche und welt 
lie Obrigfeiten aufgeklärt werden. !) 

Man fieht demnach, daß die Briefe oder richtiger die Flug⸗ 
ſchriften, die Wichf und jeine Anhänger 1384 in die Welt hinause 
jandten, mehr enthielten, als da8 fogenannte Schreiben an Urban VL: 
jie behandelten nody die Lehre vom Altarsſakrament und die Frage 
der geiftlidden Orden. 


1) Ad cognoscendum autem si sint fideles, foret medium empiri- 
cum neutrum eorum suscipere tamquam papam, antequam fidem suam 
sufficienter declaraverint de sacramento altaris, de vita paupere et 
exproprietaria clericorum, de extollencia secte Christi super sectas 
alias introductas ... 





482 Literaturbericht. 


Ebenſo ſehr überraſcht hat den Ref. das Fehlen jeder Erörterung 
über die Grundſätze der hiſtoriſchen Kritik in ihrer Anwendung auf 
die Geſchichte des Alterthums. Und doch herrſchen gerade auf dieſem 
Gebiete noch immer die ſchroffſten Meinungsverſchiedenheiten; man 
denke z. B. an die Behandlung der älteren griechiſchen Geſchichte durch 
Wilamowitz einerſeits, Eduard Meyer und den Ref. andrerſeits. Eine 
Orientirung des Leſers über dieſe und ähnliche Fragen war doch uns 
bedingt nothwendig; die gelegentlichen Bemerkungen darüber bei der 
Beſprechung der einzelnen hiſtoriſchen Hauptwerke jind ganz ungenügend. 

Cehr jtiefmütterlid ijt auch die Chronologie behandelt; was 
darüber auf ganzen 23 Seiten gejagt wird, betrifft nur daS Kalender: 
wejen und die SSahreszählungen. Daß ganze große Gebiet der an⸗ 
gewandten Chronologie wird mit feinem Worte berührt, und doch it 
died für den Hiftorifer bei weitem die Hauptſache. Es ıwar unbedingt 
nothwendig, die Grundlagen darzulegen, auf denen die Datirung der 
Ereignifje der alten Geſchichte beruht, und die widhtigiten Probleme 
hervorzuheben, die ihrer Löjung noch harren. Sehr dankenswerth ift 
dagegen der Abdrud des ptolemäiichen Königskanons (©. 305f.); nod 
weitere derartige Beigaben wären eriwünjcht gemwefen. 

So iſt es denn faft ausſchließlich Onellenfunde, was der Bi. und 
bietet. Auch hier aber ijt er der ihm gejtellten Aufgabe keineswegs 
in vollem Maße gerecht geworden. Schon gegen die Abgrenzung 
zwijchen dem „allgemeinen“ und dem „bejonderen“ Theil ließe ſich 
vieles einwenden; ganz verfehlt aber ijt die Anordnung des jpeziellen 
Theils nad) dem ethnographiichen Princip, wobei wir denn zu unterer 
Verwunderung Polybios unter den „talifern“ finden. Ebenſo vers 
fehlt ift die Ökonomie des Buches: Bf. widmet den Quellen zur 
orientalifhen Geſchichte jajt denjelben Raum, wie den Quellen zur 
Geſchichte der beiden Hajlischen Völker zufammen, und dod iſt er im 
der Geſchichte des Trients nicht ſelbſt Fachmann und ninımt alfo fein 
Material aus zweiter Hand. Ta gehen wir dod) lieber gleich an die 
Quelle und greifen zu Eduard Meyer oder zu den Handbüchern der 
Verthes’ihen Sammlung. So bleibt denn freilich zu einer gründlichen 
Behandlung der griehijchen und römiſchen Hiftorifer nicht der nöthige 
Kaum; namentlich fehlt e8 faſt durchaus an einer jtrengen Quellen⸗ 
analyie, und der Lejer wird mit allgemeinen Redensarten abgejpeilt. 
Ein Vergleih mit den entiprechenden Abjchnitten von Sufemihl’s 
Literaturgefchichte der Alerandrinerzeit jällt fehr zu unguniten des Bf. 
aus. Dazu kommt dann weiter, daß der Vf. jich viel zu fehr auf 





484 Riteraturberidt. 


Gerade diefe Partieen, welche dem Bf. völlig vertraute Gebiete 
behandeln, find die beiten des Buches. Störender wirft ſchon 
die Ungleichheit der Behandlung der verjchiedenen Zeitabfchnitte im 
der Daritellung einzelner Inſtitute. Am fchlechteften kommt das Mittels 
alter weg, welches oft ganz ausfällt. So begnügt fid) der Vf. beim 
Erbredt der Schwaben, Baiern und Nipuarier für das eigentliche 
Mittelalter mit der Bemerkung, daß es bier nod) an genügenden 
Unterſuchungen fehle (S. 351. 353. 359). Ich meine, wenn man aud 
von dem Bf. eine Lehrbuches nicht verlangen kann, daß er überall aus 
den Quellen heraus den Stoff neu bearbeiten fol, — daß ein ſolches 
Verfahren doch nicht zu billigen it. Es gibt für alle diefe Gebiete 
reichliches Material keineswegs entlegener Duellen, die zu Rathe ges 
zogen werden mußten; und an Vorarbeiten fehlt es im Einzelnen auch 
nit. Anı beiten ausgeführt ift die neuere Zeit. Hier lieft man die 
Daritellung vielfah mit Intereſſe. Dagegen ftehen die Partieen, 
welche jidy mit Der älteren Zeit befafien, m. €. tief unter den Ans 
forderungen, welche man an eine wijjenfchaftlicdde Arbeit jtellen muß. 
Das Urtheil klingt hart gegenüber der Leiftung eines Mannes, defien 
Name früher auf dem Gebiete rechtdgeichichtliher Forichung wohl⸗ 
angejehen war. Ich denke aber, daß die folgenden Ausführungen 
es begründen werden. 

E3 fehlt vor allem an hiftorifcher Kritif und Methode. Duellen- 
jtellen der ältejten Zeit werden unvermittelt neben 1000 Sabre jüngeren 
vermwerthet. Dieſes Verfahren ergibt überrafchende Reſultate. So 
heißt e8 ©. 191f.: „Eine allgemein verbreitete, bis in's 16. Jahr⸗ 
hundert fortdauernde Benennung (der unehelich Geborenen) war 
„sönigsfind‘, was in der Lex Salica und Ripuaria mit puer regis 
überfegt ift“. Dazu merden angeführt eine Urkunde von 1468 in 
Haltaus’ Glossarium: „all u. jeglich baftarten, genandt ‚königs Finder‘ 
in der Marggrafichaft Baden“ ; jowie Lex Sal. 13, 4.5; 54, 1. Lex 
Rip. 53 (55), 1. ©. 192 U. 3 wird dann nacdjgetragen: „In Lex 
Burg. 49, 4 und 76, 1—4 ind pueri regis Leute, weldye die Urtheile 
vollitreden, VBfändungen vomehmen und heißen auch wittiscalei. — 
Hienad, fünnte es üblich geweſen fein, Uneheliche zu Gerichtsbütteln, 
Sacebaronen, zu beitellen.” Alſo weil im 15. Sabrhundert in einer 
Gegend Deutichlands vereinzelt die Bezeichnung Königsfinder für Un- 
ebeliche gebraucht wird — es geſchah das in Bezug auf ihre Beerbung 
durch den Fiskus, die übrigens erft jeit dem Mittelalter nachweisbar it —, 
deshalb müfjen die ein volles Jahrtauſend früher in den Bollsredhten 


Deutſches Privatrecht 485. 


als pueri regis (— Königsfnechte) bezeichneten Männer, die und 
in der Stellung von Grafen und anderen föniglihen Beamten: bes 
gegnen, Uneheliche fein. Aber ſelbſt wenn man diefe ungeheuerliche 
Annahme nicht gänzlich abweifen müßte, hätte der Bf. doch auf Grund 
diejes Duellenmaterial3 nimmermehr das Recht, zu behaupten, daß 
die Bezeichnung Königstind in diefem Sinne eine allgemein ver— 
breitete, bis in's 16. Jahrhundert jortdauernde gewejen jei. Kann 
Doc) Thudichum aus dem ganzen Jahrtaufend vor jener Urkunde nicht 
ein Beifpiel anführen! Was aber herausfommt, wenn der Bf. nun 
auf Grund der mittelalterlichen Quellen über Uneheliche und der Stellen 
Der Vollsrechte über die pueri regis die Rechtsſtellung der unehelic) 
Sebornen vom 5. bis 15. Jahrhundert darftellt, fann man ſich denfen. 
Daß eine richtige Schägung des Werthes der einzelnen Quellen 
Sielfach vermißt wird, erklärt ſich zum Theil daraus, daß der Bf, die 
zıeuteren Ausgaben, wie überhaupt die neuere Literatur etwa der legten 
30 Jahre, nur jporadijch benußt. Unerklärlich aber ift es, wenn ©. 65 
U. 5 von einer Stelle aus der Kapitularienſammlung des Anfegis (3, 65) 
gejagt wird; fie fei unſicher wie die ganze Sammlung. Da fdeint 
Denn doch der Bf. die bisher mit Recht als ganz zuverläffig angejehene 
Sammlung des Anjegis mit der Fälſchung des Benedictus in einen 
Topf zu werjen. Wären jolde Zweifel ernft gemeint, jo wären jie 
Jebenfall3 zu neu, um ohne jeden Schein einer Begründung den jungen 
Nechtöbeflifjenen aufgetiicht zu werden. Ebenſo grundlos behauptet 
Th. aud) von anderen Kapitularien, daß fie noch nicht genügend auf 
ihre Echtheit unterjucht feien. Für das Verhältnis des Bf. zu den 
Duellen it die Art, wie er die Texte der Quellen erſt „verbejjert“ 
amd dann dieſe verbejjerten Texte interpretirt, bezeichnend. So 
macht er es mit dem Edictus Chilperiei (S. 360), jo aud) mit der 
Constitutio contra incendiarios von 1186 (©. 175). In letzterem 
Geſetze findet jich die bekannte Bejtimmung, welche den filiis sacer- 
dotum, dyaconorum ac rusticorum den Nittergürtel verbietet. 
Daran nimmt der Bf, Anſtoß. Er zieht deshalb den angeblichen Tert 
bon zwei Handichriften vor, nach welchem von den Söhnen der bäuer- 
lichen Priejter und Diafonen die Rede fein joll. Diejer Tert aber 
Tautet nad) Th.’3 eigener Angabe: De filiis sacerdotum dyaconorum 
rusticorum, was aljo ganz dasjelbe bedeuten würde wie der andere 
Text. Wie kommt nun der Bf. zu dem gewünjchten Texte? Er jagt: 
Wahrſcheinlich lautete der echte Text: De filiis sacerdotum ac 
dyaconorum rusticorum. Abſchreiber ließen das ac aus Verjehen 


486 Literaturbericht. 


weg, worauf e8 die folgenden an faljcher Stelle einſchoben.“ So kann 
man freilich die Texte fagen lafjen, wad man will. Bemerft fei auch, 
daß der Bf. ©. 34 die Eigenthümlidhleiten der Sprade des lango⸗ 
bardifchen Edikts ald „Sprachfehler“ verbeflert. 

Für den Mangel wirklich kritiſcher Benupung der deutſchen Rechts⸗ 
quellen kann den Leſer auch die mit Vorliebe angewendete Rechts⸗ 
vergleihung nicht entichädigen. Hat e8 in Fällen, wie S. 75, wenig 
Werth, wenn ausführlich auf altchineſiſche Verhältniſſe hingewieſen 
wird, jo iſt des Vf. Nechtövergleihung in anderen Fällen völlig un⸗ 
verftändlid. So wenn ©. 107, wo von der freiwilligen Ergebung 
in die Knechtſchaft aus Noth gehandelt und dabei, außer einem von 
Gregor von Tours berichteten alle, nicht etwa die bekannten Beifpiele 
in den Formellammlungen erwähnt werden, fondern bemerkt wird, 
daß „1871 in Korſahan, Perfien, Eltern ihre Kinder den Turkmanen 
in die Sflaverei verfauft hätten, und daß aus dem alten China Ahn- 
liche8 berichtet wird“. ©. 293 wird behauptet, daß der „hauptſäch⸗ 
lie“ Zweck des Muntſchatzes gewejen fei, der Frau eine Zumendung 
zu machen. Die Begründung für diefe unrichtige Behauptung lautet: 
„Dafür fpricht Schon der Umftand, daß auch ein bloßer Vormund den 
Muntihag erhielt, da eine Bezahlung für die Abtretung der Munt 
bei diefem unvernünftig erjcheinen müßte, jowie fie bei einem Vater 
wenigitens eine Rohheit wäre“. Aber warum foll der Bormund 
feine Bezahlung erhalten für die Abtretung eines Rechtes, welches den 
Germanen wegen der damit verbundenen Anſprüche regelmäßig al 
vortheilhaft und begehrendmwerth galt? Und daß es bei einem Vater 
eine „Rohheit“ gewejen wäre, ift nach den Anfchauungen der alten Zeit 
fiher unbegründet. Im ©egentheil: eher war es ſchon eine verfeinerte 
Auffafjung, daß der Preis nicht mehr für die Frau felbft, fondern für 
da8 Mundium gezahlt wurde. Wenn der Bf. dann aber fortfährt: 
„Es fpricht dafür aber auch der noch jeßt bei den Adighe im Kaufafus 
geltende Gebrauch, daß die Frau bei jeder Geburt eines indes von 
ihrem Vater oder Bormund einen Theil des Muntſchatzes ausgefolgt 
erhält,“ fo kann man das nur als fchlagendes Beifpiel für mißbräud- 
fihe Anwendung der Rechtsvergleichung bezeichnen. Ühnlich iſt es 
auch, wenn Th. ©. 21 jagt: „Wer jich ein deutliche Bild von der 
altdeutfhen Gefchlechtöverfafiung machen will, braudt nur in 
J. H. Schwicker's Geſchichte der Öſterreichiſchen Militärgrenze die Schil⸗ 
derung von den Sadrugas (Zadrugas) oder Hausfommunionen bei 
Kroaten und Eerben nachzuleſen“. Der Bf. verwertbhet dann auch 





488 Literaturbericht. 


auch eine Stelle bei Haltaus aus dem ſpäteſten Mittelalter, wo Mag⸗ 
ſchaft als affinitas erklärt wird, nichts. Geradezu die Dinge auf den 
Kopf ſtellen heißt es aber, wenn Th., dem die Widerſprüche der Quellen 
gegen ſeine Annahmen nicht ganz verborgen bleiben konnten, S. 15 
ſagt: „Daneben kommt der Ausdruck Magen auch in einem weiteren, 
die Blutsfreunde mit umfaſſenden Sinne vor.“ Das Unglaublichſte 
aber leiſtet der Vf. in der Erklärung des Wortes Lidmagen, welches 
in alemanniſchen Rechtsquellen des ſpäteren Mittelalters vorkommt. 
Freilich finde ſich im Augenblick nicht, daß der Ausdruck ſchon irgendwo 
erklärt iſt: die richtige Erklärung liegt aber ſo auf der Hand, daß ſie 
wahrſcheinlich ſchon von Anderen gegeben iſt. Lidmage kann nur 
den Gegenſatz zu Nagelmage bezeichnen. Bekanntlich ſtellt der Sachſen⸗ 
ſpiegel 1, 3 die Sippe unter dem Bilde des menſchlichen Körpers dar 
und ebenſo nach ihm der Schwabenſpiegel. Die zur Sippe zählenden 
Magen werden an die einzelnen Glieder zwiſchen Haupt- und Finger⸗ 
ſpitze gelebt. Die Magen ded 6. Grades ftehen am dritten Gliede 
des Mittelfingerd: „in dem jiebenten Gliede aber, heißt es, ſteht ein 
Nagel und nicht ein Glied (let, lid), darum Hört da die Sippe auf 
und Heißt Nagelmage”. Wenn nun die nicht mehr eigentlich zur Sippe 
gerechneten Magen des 7. Grades Nagelmagen genannt werden, fo 
iit es durchaus verftändlid), wenn ihnen gegenüber die Magen der 
jeh8 eriten Grade ald Lidvmagen bezeichnet werden. Dem entipricht 
auch die Anwendung in der vom Bf. angeführten Stelle der Berner 
Handfefte, wo für einen Beweis „jteben der nächſten Xidmagen“ ge: 
fordert werden. Damit werden Nagelmagen unbedingt ausgeſchloſſen. 
Ganz anders aber erklärt Th. das Wort. Zwar deutet er zunächft Lid 
richtig als Glied, fährt dann aber fort: „Lidmagen wären demnach 
Verwandte durch da8 männliche Glied“! Das wird als jaft jelbft- 
veritändlich Hingeftellt. Aber es gibt doch noch andere Glieder, und an 
jene8 denkt bei dem Worte nicht gerade Seder zuerit! Ja, nur wenige 
Verwandte würden nad) diejer Erklärung nicht Lidmagen fein. — 
Sehr wunderlich ijt aud) die Bemerkung über die Familiennamen (S. 20): 
„Vorher (vor dem Auffommen der Familiennamen) führte Zedermann 
nur einen Vornamen Henrid), Friedrich u. |. w., und der Sohn nannte 
ji nur nach dem Vornamen feined Vaters Henrihs Sohn, Friedrich⸗ 
Sohn.” Ref. hat ziemlid) viel Urkunden und andere Quellen aus 
jener Zeit gelejen, erinnert fid) aber weder einem Henrich⸗-Sohn noch 
einem Friedrich-Sohn je begegnet zu jein. Patronymila kommen allers 
dings vor, find fogar in manchen Gegenden, wie in Schledwig-Holftein, 





4% Literaturbericht. 


ausgedehnt. — Ganz irreführend ijt eg, wenn ©. 238 im Anſchluß 
an die Bezeichnung des Grundeigenthumd als Erbe bemerit wird: 
„namentlih aber hieß die den Markgenoſſen zuitehende Allmend 
‚Sanerbichaft‘, die Märler Erben oder Ganerben“. Was namentlich 
mit den Ausdrüden Ganerbe und Ganerbſchaft bezeichnet wird, ift 
befannt, Die Anwendung auf die Markgenoſſenſchaft erit abgeleitet und 
felten. — Bei der Behandlung des Erwerbes des Grundbeſitzes S. 141f. 
werden die urſprüuglich verjchiedenen Beitandtheile des Yormalaftes, 
Beligeinweifung und Auflafiung nicht deutlich auseinander gehalten. — 
Auffallend ift eine Bemerkung ©. 265. Es wird von den Ber 
pfändungsbüchern geſprochen und bemerkt: „Sin einigen Landichaften 
freilid it man erjt recht jpät dazu gekommen, in der Stadt Berlin 
an der Spree erit 1693.” Nun ijt allerdings in diefem Jahr eine 
turfüritliche Verordnung über die Führung von „LXagerbüchern“ in den 
Städten Berlin und Cöln a. d. Spree erlaffen, auß der man aber 
nicht Schließen darf, daß vorher Verpfändungen bier überhaupt nicht 
eingetragen feien. Im Gegentheil erhellt aus dem Berliner Stadt: 
buch des 14. Jahrhunderts, DaB auch hier ſolche Eintragungen üblich 
waren. — ©. 238 wird gejagt, daß bei willfürlicher Beritoßung der 
rau ihre Verwandten auf Zahlung des doppelten Widems Klagen 
oder Fehde auf Leben und Tod erheben fonnten. Erſteres wird durd) 
die dazu angeführte Stelle (Lex Burg. 24, 2) nur infoweit belegt, 
daß bei den Burgunden der veritoßenen Frau Anſpruch auf eine Zah: 
lung in Höhe des für jie gezahlten Preijes zuftand: von den Ver⸗ 
wandten und der Fehde auf Leben und Tod ift nicht die Rede. Auch 
jonjt wäre noch ausführlicher Widerjpruch gegen manches zu erheben, 
was in Bezug auf dag Eherecht vorgebradyt wird, jo wenn das Recht 
ded Gatten, den ertappten Ehebrecher zugleidy mit der treulofen Frau 
zu töten, erit dem ſpäten Mittelalter zugeichrieben wird, mährend 
es Ihon die Weitgothen von den Römern übernommen und anderen 
germanijchen Stämmen überliefert haben; ebenjo gegen die Behauptung 
S. 296, duß die feierliche Frage au die Verlobten, ob jie jich ehe— 
lichen wollen, und ihre bejahende Antwort darauf „verinählen” ges 
heigen habe. Das Wort bezicht fi auf die Abmachungen bei der 
Berlobung. Auch zu den angeblidyen redhtlihen Folgen der Morgen» 
gabe ©. 298 wäre manche zu bemerfen. Statt auf diefes und anderes 
noch einzugehen, will id) nur noch eine Stelle des Buches hervorheben, 
welche jo recht erfennen läßt, wie wenig der Bf. es verfteht, fich in 
den Geiſt des alten Rechtes zu verjegen. (Er fpricht von der feier 





492 Literaturberidt. 


ftellung auf unbefangenen, ſtreng wiflenfchaftliden Unterfuchungen. 
Eingehend beſpricht er den Verſuch des Papſtes Symmachus (499), 
durch Geſetz das Recht des Papſtes, bei feinen Lebzeiten Die Nachfolge 
mit den Wahlberechtigten feitzuftellen. Doc können wir ber Anſicht 
des Df., Daß Symmachus hiermit nur dad auf einer Tradition der 
römifchen Kirche beruhende Recht der Päpfte, ihre Nachfolger zu 
defigniren, fchriftlich firirt habe, nicht beiftimmen. Seit der Mitte des 
6. Sahrhundert3 kamen Defignationen nicht mehr vor. Die Abhängigs 
feit, in der jih das Papſtthum von den oftrömischen Kaifern, dann von 
den fräntifchen und deutichen Königen befand, trat ihnen hindernd ent» 
gegen. Erſt mit Gregor VII. beginnen die Defignationen wieder, und 
faſt ein Jahrhundert hindurch ward der päpftlicde Stuhl mit Päpften 
befeßt, die von ihrem Vorgänger defignirt und danach von ben 
Kardinälen gewählt wurden. Erſt feitden durch Alexander III. (1179) 
für die Papſtwahl Zweidrittel-Mehrheit vorgejchrieben war, wurden 
die Defignationen feltener. Als lebte Beijpiel führt der Bf. die 
Defignation Paul's III. durch Clemend VII. an. Doch ift in ihr 
mehr eine Enpfehlung als eine eigentliche Defignation zu erbliden. 
An ihre Stelle treten fpäter allgemeine Ermahnungen, welche der 
iterbende Papſt nicht felten an die Kardinäle ridtet. Zum Schluffe 
erörtert der Vf. die Frage, ob der Papſt berechtigt ift, feinen Nadh« 
folger zu ernennen, und verneint Diefe Frage. Er geht dabei von 
dem Grundfaß aus, daß dem Papſte nur diejenigen Rechte zuitehen, 
welche durch das Zeugnis einer Offenbarungsquelle ihm ausdrücklich 
rejervirt find. Wir glauben nicht, daß der Vf. fid) damit in Über 
einftimmung mit dem heute in der fatholifchen Kirche geltenden Rechte 
befinde. Romanus pontifex est supra jus canonicum, wie 
Beneditt XIV. erklärte. Die Gejebgebungsgewalt des Papftes ift 
nur dur) das jus divinum befchränft. Daß uber das Wahlrecht der 
Stardinäle auf jus divinum beruhe, wird wohl der Bf. nicht behaupten. 
Loening. 


Die Cluniacenfer in ihrer firdlihen und allgemeingefhichtlihen Wirk⸗ 
jamtfeit biß zur Mitte des 11. Jahrhunderts. Bon Ernſt Sadur. 2. Band. 
Halle, Niemeyer. 1894. 


Der 2. Band des vorliegenden Werkes verdient in gleihem Maße 
die Anerkennung, welde der erite allfeitig gefunden hat. (Wgl. auch 
9. 3. 70, 101 ff.) Die fritiihe Verarbeitung eined jo großen und 
ungemein zerfplitterten Materials ift eine Leiftung, Die für ſich allein 





494 Fiteraturbericht. 


S.'ſchen Buches, daß es den überlieferten Borftellungen einmal Eritifch 
auf den Grund gegangen ift und feinen Raum mehr läßt für unklare 
Phantafien. Wir haben nun endlid) die Bewegung in allen ihren 
Beräftelungen greifbar vor und und mögen es gerne dafür in den 
Kauf nehmen, daß der Vf., von feinem kritiſchen Beftreben zu weit 
geführt, ſchließlich dahin kommt, die Bedeutung der ganzen Bewegung, 
wenn nicht zu negiren, jo doch über Gebühr einzuengen. Aber freilich 
zu folgen vermögen wir ihm nicht auf diefem Wege. 

Der Fehler des vorliegenden Buches liegt m. E. darin, daß es 
die Bedeutung der religiöfen Impulſe, von denen die cluniacenfifche 
Bewegung getragen war, nicht hoch genug einſchätzt. Eine katholiſche 
Stimme Hat fi dahin geäußert, der Vf. habe wohl für die äußere 
Geihichte Clunys ein ftaunenswerthed Material zufammengebradt, 
eine Behandlung feines inneren Lebens ſuche man bei ihm aber vers 
geblih. Der Vorwurf ift jo ungeredht nit, wie es auf den eriten 
Blick ſcheinen möchte. Nicht bloß, daß die Schilderung der Snititutionen 
und des eigentlichen Mönchslebens doch jehr zurüdtritt und keineswegs 
erihöpfend ift (vgl. das ſchon H. 3. 70, 106 Anm. Gefagte), es fehlt 
vor allem die volle Verſenkung in die Kraft und Tiefe der religiöfen 
Grundgedanken Clunys. Dem Bf. find diefe Gedanken nicht verborgen 
geblieben, im ©egentheil, wir begrüßen es beſonders dankbar, daß er 
fie als die einzigen Triebfedern der Bewegung flargeitellt hat, aber 
er unterfhäbt ihre Tragweite und fteht ihnen ohne Sympathie gegen» 
über. Die Bewegung erfcheint ihm „unbeitimmt“, „abſtrakt“, „idens 
tisch“, ohne „iehte Ziele“ und vor allem ohne die Kraft einer 
energiihen „Agitation“ (S. 449). Es klingt wie ein Vorwurf, wenn es 
heißt: „der Seclenfang war und blieb der eigentliche Zweck“ (©. 464). 

Wir unfererjeitd erbliden gerade in diefer Weltabgezogenheit und 
religiöjen Reinheit der Bewegung die Urſache ihrer weltüberwindenden 
Kraft und in dem Mangel einer kirchenpolitiſchen Agitation den 
mädhtigiten Hebel ihrer Verbreitung. Eben indem fie nicht ein be 
jtimmted „Programm“, jondern eine „Weltanſchauung“ (vgl. S. 464) 
unter die Maſſen trug, hat fie eine der größten Umwälzungen herauf⸗ 
geführt, welche die abendländiiche Sefchichte fennt. Gewiß Hat fie Die 
hierarchiſchen Gedanfen nicht produzirt, es ift gut, daB der Bf. das 
jo jcharf betont, aber noch weniger haben e8 die Legiiten gethan, 
welche den Pſeudo-Iſidor wieder hervorholten (vgl. S. 284. 304 u. 5.) 
und deren gelehrte Thätigfeit der Vf., wie e3 fcheint, zum Agens 
einer weltgefchichtlihen Revolution machen mödjte. Produzirt brauchten 





496 Literaturbericht. 


Der Autor aber, der unter ſolchen Umſtänden ſchrieb, darf unſerer 
dankbaren Anerkennung im voraus ſicher ſein. Dieſe Anerkemung 
gilt nicht bloß ſeiner Arbeitsleiſtung als ſolcher, ſo groß dieſelbe iſt, 
fondern in faſt noch höherem Grade der Kraft wiſſenſchaftlicher Selbft- 
entfagung, welche er mit Übernahme und Durchführung diefer Aufs 
gabe an den Tag gelegt hat. Freilich, wir halten und verpflichtet es 
auszufprechen, er hat ſich feine Aufgabe mehr als nöthig erſchwert 
und dadurch feinen Buche felbft gejchadet. 

Ranke Hat einft die Aufgabe der „Jahrbücher“ dahin formulirt, 
daß fie „eine kritiſche Feſtſtellung deſſen, was man über jeden einzelnen 
Moment weiß und in wie weit diefe Kunde jicher iſt“ geben follen. 
Bweifel3ohne haben fie alfo auch eine fortlaufende kritiſche Orien⸗ 
tirung über die bisherige Literatur der Epoche zu liefern. Der Bi. 
hat mehr gethan. Er Hat in den Anmerkungen ein nahezu voll 
jtändiges Referat über alle aufgeftellten Wteinungen und Anfichten 
gegeben. Er hat fi) verpflichtet gefühlt, mit jedem jeiner Vorgänger, 
Berufenen wie Unberufenen, in fritiiche Auseinanderj egung einzutreten; 
er hat durchgehends, auch da wo er ſich zuitimmend verhält, Die Lite 
ratur in den Anmerkungen refapitulirt. Und darin, meinen wir, ift er zu 
weit gegangen. E3 wäre undankbar, wollten wir ihn einen Vorwurf daraus 
machen, daß er mit einer Hingebung fondergleichen das kleinſte kritische 
Stäubchen aufgehoben hat, wir erfennen im Gegentheil gern an, daß er 
feinen Nachfolgern damit viel Mühe und Arbeit erjpart hat. Die Frage ift 
nur, od das nicht auf etwas ſummariſcherem Wege aud) zu erreichen 
gewejen wäre (vgl. Dümmler, Oſtfränk. Reich 12, Vorwort ©. VI), 
ob nicht die Handlichkeit des Buches befjer gefahren wäre, wenn an 
Stelle des referirenden Verhaltens der Literatur gegenüber einfad) 
fnappe kritiſche Hinweiſe getreten wären, wenn Auseinanderſetzungen 
wie die mit Gfrörer und Hefele weggeblieben oder wenigſtens auf 
das denkbar fuappite Maß zufammengezogen wären, und endlich fo 
manchen herzlich” unbedeutenden Diljertationen und Programmen die 
Ehre einer Beſprechung und Widerlegung nicht erſt erwiefen wäre. 
Wir unfererjeit3 würden es jogar für gerechtfertigt gehalten haben, 
wenn Erzeugniffe von fo vollfommener wiſſenſchaftlicher Werthloſig⸗ 
feit wie Machatſchek's Geſchichte der Bijchdfe von Meißen ganz un» 
genannt geblieben wären, und wir meinen, was das Bud) auf foldyem 
Wege an Selbftändigfeit etwa eingebüßt hätte, würbe e8 an Über⸗ 
fichtlichfeit geiwonnen haben, vor allem würde dann aud) die Origina⸗ 
Iität der eigenen Leiftung des Df., die fid) jept im kritiſchen Geſtrüpp 





498 Riteraturbericht. 


zu übertragen. Wir können den Vf. bier nicht ganz don Harmo- 
niftit der Quellen freiſprechen. G. Buchholz, 


Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monu- 
mentis Germanise historicis recusi: Lamperti monachi Hersfeldensis 
opera recognovit O. Holder-Egger. Hannover u. Leipzig, Hahn. 1894. 
LXVII u. 4% ©. 


Unter den zahlreichen Gelehrten, die fich in den letzten Dezennien 
mit dem hervorragenden Geſchichtſchreiber des 12. Jahrhunderts 
Lambert — So pflegten wir ihn bisher zu nennen — beidäftigt 
haben, hat ſich feiner jo verdient gemadt, wie Holder-Egger durch 
jeine Unterfuchungen im Neuen Archiv und die vorliegende neue, erite 
Gejammtausgabe von Zambert’3 Werfen. Vor allem verdanken wir 9. die 
Entdedung und den Nachweis, daß und in der Vita Lull's, des Erz 
bifchof3 von Mainz und Gründerd von Hersfeld, ein Werk Lambert's ers 
halten ijt, defjen Entwurf von des Bf. eigener Hand wir in einem 
Maihinger Coder, und dejjen vollftändigere Ausführung wir in fpäteren 
Abſchriften, namentlich die ſonſt überall fehlenden fünf Schlußtapitel 
in einer Trierer Handſchrift des 13. Jahrhunderts, befiben. Hiedurch find 
ganz neue Anhalt3punfte für die Kritif Lambert's überhaupt gewonnen. 
Aber auch die Edition der Annalen ift durch umfafjende Heranziehung 
aller Hülfsmittel und durch eindringende Recenſion weſentlich ver 
bejlert worden. 

Namentlich Hat H. die Quelle Lambert’3 für den ganzen eriten Theil 
des Werkes bis zu den Lebzeiten des Autors, die verlorenen Annales 
Hersfeldenses, eingehend analyfirt, deren verfchiedene Necenfionen bezw. 
Hortießungen aus den daraus abgeleiteten Annalen beitimmt, und 
nachgewieſen, wie faft ausichließlich Lambert diefe eine Quelle benupt bat. 
Die Annales Weissenburgenses, eine jener abgeleiteten Annalen, bat 
H. in ihren forrefpondirenden Abfchnitten daneben geftellt und in 
ihrer felbjtändigen Yortfegung bi8 1147 neu edirt. Es find zum 
Theil recht diffizile quellenanalytiiche Unterfudjungen, um die es fi 
da handelt, und die Abgrenzung der verjchiedenen Recenſionen der 
Heröfelder Annalen läßt ſich nicht immer genau bejitimmen, aber Rei. 
bat bei eingehender Nachprüfung die Refultate H.'s in allem weient- 
lien zu bejtätigen gefunden. Nur halte ich die ſubſidiäre Benutzung 
von Regino's Chronik feitend Yambert’8 nicht für erweislich: die drei biß 
vier angeblichen Entlehnungen aus Regino, nur ſachlich nicht wörtlich 
entiprechend und dürftig wie fie jind, laflen fih m. E. mit mehr 





500 Riteraturberidtt. 


für ein Annalenwerk aus folder myſtiſchen Erleuchtung herzuleiten! 
Ich will damit nur dafür plaidiren, daß man Lambert nit von 
vornherein dieſelbe bewußte Gleichgültigleit gegen das hiſtoriſch 
Thatſächliche, die er in der Vita verräth, in den Annalen zuſchreiben 
darf; denn im übrigen ergibt die Kritik der letzteren ſelber ja genug 
Indizien für ſeine Ungenauigkeit und Unzuverläſſigkeit. Ich ſchreibe 
dieſe aber mehr ſeiner rhetoriſchen Neigung, ſeiner mangelhaften Kennt⸗ 
nis und ſeiner parteiiſchen Eingenommenheit als bewußter Entſtellung 
zu, während H. auf Grund feiner aus der Vita geſchöpften Anſchau⸗ 
ung geneigt ijt, legtered anzunehmen, aud) wo e8 nicht mit genügender 
Sicherheit zu erweilen iſt. 3. B. ſcheint e8 mir durchaus nicht er- 
weislich, daß Lambert den urkundlichen Wortlaut der fog. Securitates 
von Canoſſa gekannt und fomit deren Inhalt bewußt fäljchend wieder: 
gegeben babe; und daß er jenes Gottedgericht, das Papit Gregor dem 
Könige beim Abendniahl zu Canoſſa zugemuthet haben foll, frei nad 
Regino erfunden hätte, ericheint, abgejehen von der Unnachweislichkeit 
diefer Entlehnung, Schon darum unzutreffend, weil ähnliche Fabeleien 
auch bei anderen Beitgenofjen aufitoßen, die jomwohl von Regino wie 
von Lambert durhaus unabhängig find; Lambert gibt vielmehr in 
diejen Fällen, wie fo oft, untontrollirte Gerüchte, Anjichten, Nach— 
reden feiner Partei wieder und zeigt jich nicht fo berechnend in der 
Entjtellung der Thatjachen, wie H. durchweg annimmt. 

Man Sieht, es iſt mur eine geringe Nüance, um die Ref. von 
dem Urtheil H.'s abweichen zu müſſen meint, und in allem mwejentlichen 
halte ich die Lambert-Fragen durch die neue Ausgabe für vollgültig 
abgeichloffen. Dieſelbe it inhaltlid und formell als eine Mufler: 
leiftung zu betrachten E. B. 


Eine Wiener Brieffammlung zur Geſchichte des Deutichen Reiches und 
der öjterreichiichen Länder in der zweiten Hälfte de8 13. Jahrhunderts. Nach 
den Abſchriften von A. Etarzer herausg. von O. Redlich. Mit drei Tafeln. 
Wien, in Nomm. bei F. Tempsky. 189. (U. u. d. T.: Mittheilungen aus 
dem vatilanijchen Archive. 2. Band. Herausg. von der f. f. Alademie.; 


Im Mat 1892 ſtieß A. Starzer bei feinen Arbeiten für das Isti- 
tuto Austriaco in Nom auf den Cod. Ottobonianus 2115, der 
dem Inventar zufolge Variac (rermaniae saec. XVI enthalten jollte, 
in Wirflichfeit aber, wie eine von I. Redlich unternommene Unters 
juchung einzelner Stüde dieſer Handſchrift ergab, eine neue reich« 
baltige Duelle zur Geichichte der Zeit Rudolf's von Habsburg dar⸗ 





502 Literaturbericht. 


menge bezieht ſich auf die öſterreichiſchen Länder.“ Am meiften ift 
Wien berüdfichtigt. Schon daraus ergibt fi, daß „der Codex nicht 
bloß in Wien gefchrieben, fondern die Sammlung auch dort ent⸗ 
itanden ift“. Die meiften Stüde diefer Gruppe gehen auf Materialien 
zurüd, die der kgl. Protonotar Gottfried gefammelt hat. Der eigent- 
liche Bearbeiter diefer Sammlung war ein anderer Protonotar des⸗ 
felben Namens, der in den Dienften ded Herzogs Albrecht jtand und 
1295 geitorben iſt. 


Der Herausgeber unterfucht hierauf den zweiten Theil der Sanıms 
[ung und jein Verhältnis zu den anderen Brieffammlungen aus der 
Zeit Rudolf’, die befanntlidy auf eine Arbeit des kgl. Notar Andreas 
von Rode zurücgeführt werden. Won den 291 Nummern des zweiten 
Theild finden ſich 224 aud in anderen Sormularbüchern. 


Sowohl Gottfried al3 Andreas benüsten für ihre Sammlungen 
echte8 Material, und in diefem Umitand liegt der Hauptwerth der 
vorliegenden Sammlung. Was die Edition betrifft, find die einzelnen 
Stücke chronologijch geordnet; Beränderungen, welde die Sanımler 
an ihren Vorlagen gemadt, find durch furjiven Drud gekennzeichnet. 
Die Einleitung bringt endlich eine „vergleichende Tabelle der Briefe 
im Codex Ottobonianus 2115 mit der Ausgabe und den anderen 
Sormularbüdern“. Der Anhang enthält die Varianten zum zweiten 
Theil, Exordia, Salutationes etc. 


Die neue Sammlung bietet zunächſt für Lokal- und Provinzials 
geihichte, darin wieder für Öfterreihh und Böhmen viel neues 
Material. Aber auh auf die Reichsgeſchichte und die päpftliche 
Politik fällt vielfacd neues Licht (vgl. die Nummern 21. 22. 23. 24. 
30. 33. 36—40. 51. 79 u. f. w.), und es wäre unſere Pflicht, die 
Ergebniffe im Einzelnen herauszuheben und zu betrachten. Ta aber 
der Herausgeber ſelbſt dieſes Material unmittelbar bei der Neus 
bearbeitung der Regeiten Rudolf's und in der Gejchichte dieſes Königs, 
an der er arbeitet, verwerthen will, jo mag an diefer Stelle davon 
Umgang genommen werden. 

Die Ausgabe ald ſolche ift mit aller Sorgfalt gemadt. Die 
Abſchrift ift, wie ich mich an Ort und Stelle überzeugen Tonnte, 
ziemlich) genau und wurde überdie3 von Dr. Teige nochmals ſorgſam 
verglichen. Der Kommentar it vollfommen ausreichend. 


J. Loserth. 





504 Literaturbericht. 


erſcheint nicht unberechtigt; immerhin find die Pläne und Ziele und 
zu guter Letzt auch die Erfolge des habsburgiſchen Kaiſers doc uns 
gleich bedeutender als die der thätigften und hervorragenditen Reichs⸗ 
füriten. Bor inneren Reichdangelegenheiten ijt in dieſer Zeit viel 
weniger die Rede ald von ausmwärtiger Politik. 

In der Stellung ded Reich zu den öftliden Mächten, zu dem 
mit der Katholifenpartei fo tapfer ringenden tſchechiſch-huſitiſchen 
Böhmenkönig und zu dem magyarifhen Emporfümmling in Ungarn, 
der die zufammengefaßte Kraft feiner Nation jo fiegreih nad Weiten 
vorſchob, wie zu den ebenfalld auf moderner Örundlage ji auf- 
bauenden Staatenbildungen des Weſtens, zu Burgund und zu den 
Schweizern, deögleichen zu Frankreich, zum Papite, waren überall die 
Haudinterejien Habsburgs im Vordergrunde; noch viel wunderbarer 
als bei feinem Sohne Marimilian erjcheint bei Yriedrih IIL der 
Kontrait der beſchränkten Machtmittel und der meitaudgreifenden 
Aſpirationen. Seine Yage ift immer eine mit den größten Schwierig» 
teiten fämpfende, dad Morgen dem Heute abringende, oft geradezu 
erbärmliche, und doch welche zähe, widerjtandsfähige Lebenskraft, der 
andererfeit3 jeder Schimmer von Heroismus fehlt! 

Der Stoff iſt in zwei große Abtheilungen zerlegt. Die erite, 
1467— 1476, führt die Überfchrift: Die burgundifche Heirat, weniger 
weil diefe ihren hauptjächlihen Inhalt ausmacht, denn den grüßeren 
Theil desjelben bildet doch der Streit um die Krone Böhmen, als 
weil jie mit der Erreihung des vom Kaiſer Burgund gegenüber 
ausdauernd verfolgten Zieles ausklingt. Die zweite Wbtheilung, 
1477—1486: Das deutſche Neid) im Gegenſatze zu Ungarn Die 
römische Königswahl Marimilian’3 I. iſt erheblich kürzer und zeigt auch 
gegen Ende mehr eine überjichtliche Darjtellung. Beſſer charakteriſirt 
der Bf. den Inhalt und Standpunkt feined Buches in dem Neben» 
titel: Staifertjun und moderne Staatenbildungen im Often und Weſten 
des Reiches. Gründung der Großmacht des Haujes Habsburg. Die 
Fülle neuen Materials, das Hier zum eriten Mal in einer groß an⸗ 
gelegten, doch, wie jchon angedeutet iſt, alle Vorgänge bis in’ Ein- 
zelue verfolgenden Darſtellung verwerthet worden ift, ift außerordentlich 
groß und ebenjo außerordentlich zeritreut; was der Bf. felbit an 
archivaliſchem Stoffe ausgegraben hat, hat er während der Arbeit in 
drei Bänden der Fontes rerum Austriacarum (2, 42. 44. 46) vers 
öffentlicht. Schritt für Schritt belegt er Alle mit genauen Quellen⸗ 
nachweiſen; man wird fehr jelten finden, daß er Bedeutenderes über 





506 Literaturbericht. 


in dieſer Erwartung durchaus getäuſcht. Die reiche Literatur der 
letzten zwölf Jahre über den Humanismus iſt auch in ihren bedeutendſten 
Erſcheinungen nur ganz unzulänglich berückſichtigt worden. Ich finde 
nirgends, daß Eberhard Gothein's Buch „zur Kulturentwicklung Süd⸗ 
italiens“, 1886, das die Kenntnis der ſüditaliſchen und beſonders der 
neapolitaniſchen Renaiſſance jo ſehr gefördert hat, benutzt worden iſt, 
obgleich Gothein an mehr als einer Stelle gegen Voigt's Darſtellung 
Einſpruch erhebt; Denifle's „Geſchichte der Univerſitäten im Mittels 
alter“, 1885, bleibt trotz unmittelbarer Polemik gegen Voigt unerwähnt; 
dasfelbe gilt von Paulſen's „Geſchichte des gelehrten Unterricht“, 
1885, deren erjter Abfjchnitt dem Humanismus gewidmet ift und 
ſchon um ihrer eigenartigen Auffafjung von der kulturellen Bedeutung 
des Humanismus und um des lauten Widerſpruchs willen, den 
Paulſen's Betradhtungsweife gefunden hat, der Beachtung mürdig 
geweſen wäre. — Und vollends erit die jtattliche Zahl von Einzel- 
daritellungen und Ausgaben, mit denen und namentlich Stalien und 
Frankreich beichentt Hat — mie wenig ijt davon in der Neuauflage 
auch nur angeführt! Nur zwei Beifpiele: Gabrielli's Aufjag über die 
Briefe ded Cola di Rienzo vermigt man ebenjo wie deſſen Ausgabe 
de Epistolario di Cola di Rienzo, 1890; aber aud) Tadras' im 
Jahre 1886 erfchienene Ausgabe der Cancellaria Johannis Noviforensis 
ijt dem Herausgeber unbefannt geblieben ; die italienische wie die deutſche 
Veröffentlichung fteht in leicht zugänglichen Schriften gelehrter Gefell» 
jhaften. Die Aufzählung läßt fich leicht vermehren. Im Text ift gar 
manches jtehen geblieben, was bei aller Pietät für den Bf. doch befier 
getilgt worden wäre. Dazu zählen die vielen, allerdings durch die Ans 
ordnung de3 Stoffe verurjachten, Wiederholungen, die ſich aber bei ſorg⸗ 
fältigerer Durchſicht wohl hätten mindern lafjen, auch eine Nachprüfung 
der hronologifchen Angaben hätte ſich empfohlen; denn die Eigenthüm- 
lichkeit der Ylorentiner Sahresrechnung, das neue Jahr erjt mit dem 
25. März anzuheben, ijt nicht immer berüdjichtigt worden. Das 
ungünjtige Urtheil, dag Voigt über die italienischen Univerjitäten gefällt 
bat, iſt von der Einzelforjchung nicht bejtätigt worden; außer Denifle's 
Buch zeigen eine Reihe italienifcher Arbeiten, daß der Antbeil der 
Univerfitäten an den humanijtiichen Bejtrebungen viel bedeutender 
war als Voigt angenommen hat; bejonders gilt dies von Padua, Pavia 
und Florenz. Daß zwijchen der Univerfität zu Rom und dem 
studium generale an ber Kurie zu unterjcheiden fei, ift ſowohl 
Boigt ald 2. entgangen. 





508 Riteraturbericht. 


jtaatlihen Verwaltung und Umgeitaltung, welche über Böhmen während 
der acht Jahre nad) der Schlacht am Weißen Berg erging. Der 
Vorzug der meijten Arbeiten G.'s, nämlich eine weit auögreifende 
archivaliſche Forſchung, tritt bier in bejonderd ausgedehnten Maße 
hervor: feine Mittheilungen und Citate eröffnen einen überrajchenden 
Ausblick auf unbefannte Quellen und Thatjachen. Andrerſeits freilid) 
fehlen auch nicht die befannten Mängel. Ein methodiſch arbeitender 
Geſchichtſchreiber würde 3.3. die ungedrudten Alten über die kirch⸗ 
lihe Reaktion Ferdinand’3 II. in Böhmen nicht heranziehen, ehe er 
die im Anhang von Carafa's Germania sacra gedrudten Altenjtüde 
ex cancellaria regni Bohemiae jich angeeignet hätte: ©. Dingegen 
führt wohl diefe Schriftjtüde an, aber nicht als gedrudt, jondern wie 
er Sie in feinen Archiven gefunden bat, und mit Inhaltsangaben, 
welche gegen die Volljtändigfeit und Zuverläfiigleit feiner Auszüge 
viele Bedenten erregen. Es hängt die® mit der Eigenart G8 zus 
jammen, der eine feltene Kunft befaß, ausleinem Wuſt von Alten, 
gleihfam im Flug, wichtige Vorgänge zu fajjen und im Flug eine 
Anzahl darauf bezüglicher Korreipondenzen zu jfammeln, während die 
Geduld, die Duellen erjchöpfend zu bearbeiten, befonder8 auch in dem 
Sinn ſie zu bearbeiten, daß er ſich vor allen einen vollitändigen 
Überblict über die Ergebniffe des gedrudten Materiald verichaffte, ihm 
abging. Übrigens wird man bei Beurtheilung des vorliegenden Buches 
nicht vergefien, daß es ein opus postumum ijt, und jich folglich aud) 
nicht zu jehr daran jtoßen, wenn die Zujammenfafjung des Einzelnen 
zu größeren Abjchnitten jajt überall den Eindrud des Unfertigen madıt. 
An ehejten jcheint mir die im neunten Kapitel gegebene Entitehungss 
geihichte der „verneuerten Landedordnung” zujammenhängend und 
verhältnismäßig zuverläflig zu fein. Von hohem Intereſſe find aud) 
die bei der Behandlung der kirchlichen Angelegenheiten gebrachten 
Mittheilungen über den Gegenfaß zivifchen den Jeſuiten und andern 
Organen der Hierarchie, welcher bei der Ummandelung der Prager 
Univerjität hervortrat und in den Gegenwirfungen des Jeſuiten 
Yamormain und des Stapuziners Valeriano Magni feinen fchärfiten 
Ausdrud fand, — nur daß von diefem wie von vielen andern Theilen 
des Buches dem Lefer der Wunſch zurüdbleiben wird, es möchten die 
vom Bf. neu erſchloſſenen Gebiete geichichtlicher Kenntnis recht bald 
einen jorgfältigen Ausbau erfahren. 
Moriz Ritter. 





6510 Literaturbericht. 


der Akten hinausgehend, ſelbſtändige Vermuthungen aufſtellt. Die 
Art z. B., wie er ©. 588 ff. den Einfall, daß hinter den Kapuziner⸗ 
berichten über Wallenftein von 1628 zwar nicht als eigentlicher Autor, 
aber doch als Miturheber der Graf von Schwarzenberg itede, bes 
gründet, fcheint mir da gerade Gegentheil einer ernithaften Beweis⸗ 
führung zu fein. — Troß diefer Einwände betone ich indes nochmalß, 
daß das O.'ſche Werk für Seden, der den betreffenden Zeitraum 
bearbeiten will, von hohem Werthe ilt. Moriz Ritter. 


Trototolle und Relationen des brandenburgifchen Geheimen Rathes aus 
dev Zeit des Kurfürften Friedrich Wilhelm. Bon Archivar Dr. Otte 
Meinarbus, Privatdozent an der Univerfität Berlin. 2. und 3. Bd. (M. u. 
d. T.: Rublifationen aus den fgl. preußifhen Staatsardiven. 54. u. 55. Bd. 
CXLI, 684 bezw. 841 ©.) Leipzig, ©. Hirzel. 56 M.Y) 

Gelten hat ein Kollegium eine jo vieljeitige Thätigfeit entwidelt 
wie der brandenburgifhe Geheime Rath unter der Regierung des 
Großen Kurfürſten. Als einzige Eentralbehörde des eben erſt in der 
Entwidlung begriffenen Geſammtſtaates verfügte er über eine faft un- 
beſchränkte Kompetenz. Neben den wictigjten Fragen der äußeren 
Politik und der inneren, politifchen, finanziellen und Zuftizverwaltung 
gelangten, bei dem Mangel am filtrivenden, unteren Inſtanzen, die 
unbedeutenditen Kleinigkeiten unmittelbar vor fein Forum. ine 
beliebig herausgegriffene Tagedordnung enthält 3. B. folgende Punkte: 
Ständiſche Verhandlungen, Frankfurter Deputationdtag, Ixrenftierna, 
Verbrechen, Kontributionsreſte, Zehdenider Zieſe, Kriegsſchaden, Zoll 
zu Werben, Privilegien der Freienwalder Kietzer, Pferderequiſition, 
Durchmärſche, Oderberger Pfarrer, preußijche Angelegenheiten, Münz- 
verhandlungen u. |. w. Sn diefer Fülle von Verhandlungsſtoff liegt 
zum großen Theil der Werth der Protokolle ded Geheimen Rathes. 
Su Zukunft wird niemand, der fich mit irgend einem Kapitel brandens 
burgifher Geſchichte in dem betr. Zeitraum bejchäftigt, achtlos an 
ihnen vorübergehen dürfen. Allerdings find viele Gegenftände nur 
mit ein paar Stichworten protofollirt, fo daß die qualitative Neidy- 
haltigkeit des Materials hinter der quantitativen zurückſteht. Dennod) 
bat jich der Herausgeber entichlojjen, die Editionsgrundſätze des 
1. Bandes aud) in den beiden vorliegenden Bänden, weldhe die 
Zeit vom April 1643 bis Auguſt 1647 umfaſſen, beizubehalten. Alle 
Protofolle werden wörtlih und ohne Auslafjungen, die Relationen 


Y) Bol. bie Beiprehung von Bd. 1 9. 3. 66, 320. 





512 Literaturbericht. 


hunderts, wie andrerſeits die Unzulänglichkeit der bisher über ihn vor⸗ 
handenen Literatur. Dieſe Geſchichte kann im Zuſammenhang aber 
erſt dann geſchrieben werden, wenn die Alten feiner Thätigkeit voll⸗ 
jtändig vorliegen. Mit richtigem Takt hat M. deshalb der Ber 
ſuchung widerjtanden, fie bruchitüdweife in den Einleitungen zu den 
verfchiedenen Bänden zu geben. Die Einleitung am Anfang des 
2. Bandes, die fi ebenfo wie das Regiſter am Ende des 3. auf 
beide Bände erfiredt, enthält nur wenige Bemerkungen über die 
Organifation ded Geheimen Rathes und die Stellung feiner einzelnen 
Mitglieder. Sie fchließt fi) vielmehr eng an die Einleitung des 
1. Bandes an uud behandelt die Grundzüge der brandenburgifchen 
Politik in den lebten Sahren Georg Wilhelm's und in den eriten 
Friedrich Wilhelm's. Indem fi M. bemüht, die Geſchichtſchreibung 
dieſer Zeit ihrer ſtändiſchen Yärbung zu entlleiden, rüdt er Perſonen 
und Berhältnifje in ein ganz neues Licht, deſſen Strahlen mit jteigen- 
der Wärme auf den Grafen Adam von Schwarbenberg fallen, während 
die vielgepriejenen Anfänge des Großen Sturfürjten von Schatten nicht 
frei bleiben. Schwartzenberg iſt nad) ihm nicht mehr der böfe Dämon 
des ſchwächſten Hohenzollern, der von deilen großem, jugendlid 
genialen Sohne als „friedhäſſige Perfönlichkeit* richtig durchſchaut 
und glücklich befeitigt wird. Er ift vielmehr „der getreue Eckart” 
de3 furfürjtlichen Hauſes, der zielbewußte Vertreter einer wehrhaften 
Bolitif Brandenburgs, von der jein unerfahrener, ſtändiſch berathener, 
neuer junger Herr „im Anfang feiner Regierung aus jugendlichen 
Idealismus und aus mangelnder Kenntnis“ ablenkt, um, durch eigene 
Erfahrung gewißigt, bald zu ihr zurüdzufehren. Den Ausgangspuntt 
für dieſes Urtheil bildet die von M. energiſch betonte Auffaſſung, 
daß Schwargenberg als Staatsmann vor allen „ein grundfäßlicher 
Gegner ded Ständethums und ein Vorfänpfer der abjoluten Monarchie 
in Brandenburg=Preußen” gewejen fei. Was er zum Beweije dafür 
vorbringt, iſt fo überzeugend, daß wir ihm in diefem für die principielle 
Würdigung des Grafen fo wichtigen Punkte nur beipflichten können. 
Aud von Illoyalität Schwargenberg’® gegen feinen kurfürſtlichen 
Herrn, von Verdächtigung feiner Beziehungen zum Kaiſer oder gar 
von hochverrätheriihen Umtricben wird in Zukunft feine Rede mehr 
jein dürfen. 

Nicht ganz fo glüdlih und gelungen ſcheint mir Dagegen der von 
M. verfuchte Nachweis zu fein, daß die einzelnen Wtaßregeln der 
Schwargenberg’ihen Politik ſtets die richtigen waren und daß die 





614 Literaturbericht. 


Die Fragezeichen, die wir hinter einzelne der Michen Aus—⸗ 
führungen gejeßt haben, follen die allgemeine Werthſchätzung feiner 
Einleitung durchaus nicht herabjegen. Es ift anzuerfennen, daß er 
da8 Material zur Stüße feiner Anfiht mit Umſicht gefammelt und 
ſehr gejchidt verwerthet Hat. Sehr viele Einzelheiten treffen auch un⸗ 
bedingt zu, mit Recht wird der Gegenfap zwiſchen ftändifcher und 
antijtändifcher Auffaſſung der Politik hervorgehoben, die einzelnen 
Perſönlichkeiten werden vortrefflich charalterifirt. 

Bejonderd dankenswerth ilt auch die Beigabe eined 4. Kapitels, 
das ſich mit den wirthichaftlichen Zuftänden und Wandlungen in 
Land und Stadt befchäftigt. An ihm werden die Protofolle und 
Relationen außgebeutet, um die Verheerungen zu ſchildern, melde 
der Dreikigjährige Krieg in der Mark anrichtete. Wie gewaltig er 
unter der jtädtiichen Bevölferung aufgeräumt bat, ergibt ſich mit ers 
Ihredender, ſtatiſtiſcher Deutlichkeit aus der fehr ſorgſam gearbeiteten 
Städtetabelle, welche die Einleitung abjhlieft.  C. Spannagel. 


Corrispondenza tra L. A. Muratori e G. G. Leibniz conservata 
nella biblioteca di Hannover ed in altri istituti e pubblicata da 
Matteo Campori. Modena, G. F. Vincenzi. 1892. XLIH, 835 S. 


Die in der Geſchichte der Wiffenichaften wundervolle, leider nicht 
eben häufige Erjcheinung zweier durch gemeinfame Arbeit und durch die 
gleichen Aufgaben verbundener Gelehrter von dem Range Leibnigens 
und Muratori's hat mit Recht ſchon mehr als einmal die Aufmerk- 
famfeit der fpäteren Forſcher auf fich gezogen. Aber meder des 
Marcheſe Giufeppe Sampori!) kurzer Verſuch, nody Alfred Reumont'3?) 
geijtreicher Eſſah geben ein volllommen deutliches Bild von den Bes 
ziehungen der beiden Männer zu einander, von ihren gemeinfamen 
Arbeiten und von dem Konflikte, der fie entziweite. Auch die Biographie 
Muratori's von Gian-Francesco Soli-Muratori (1756) bietet für das 
Verhältnis Muratori’8 zu Leibni nicht viel mehr als die Leibnik- 
Biographie von Guhrauer. Denn dad Material, auf das fie fi 

1) Leibnitz e Muratori in Prose e Versi nella sollenne inaugurs- 
zione della statua a L. A. Muratori. Modena 1853. Da der Heine 
Aufjag in Deutichland unbelannt geblieben zu fein jcheint — auch Wegele, 
Hijtvriographie S. 642, nennt ihn nicht, was allerdings nichts beweift —, fo 
jei bier ausdrüdlich auf ihn verwiejen: er beruht auf urtundlidem Material 
und jelbjtändiger Forſchung. 

2) Allgem. Monatsihrift, März 1854. 





516 Riteraturberidt. 


von den päpitlichen Parteigängern, befonder8 von dem bo8haften 
Giuſto Fontanini angegriffen, nahm er überaus gerne den Beiltand 
Leibnigend gegen die läfternden römiſchen Federn an. So entitand 
in Leibnitend Kopf der Plan der Vindiciae Estenses, in denen er 
die Größe der Eſtes ermeilen und die Einwürfe der Gegner Punkt 
für Punkt widerlegen wollte Er will für das Alter des ruhmreichen 
Geſchlechts neue Beweije erbringen und den, allerdings irrigen, Gedanfen 
de3 von ihm verehrten und verdienten Bacdhini an den Zuſammenhang 
der älteren Eſtes mit den Vorfahren der großen Mathilde von Canoſſa 
erweilen. Aus dem geplanten Werte wurde zwar nicht, aber er führte 
die beiden Hofhiltoriographen von Braunjchweig und Modena zuerit 
zu häufiger Korrefpondenz und bald auch zu gemeinfamer Arbeit. Es 
war fein Wunder, daß e3 den jungen Staliener unwiderſtehlich lodte, 
feinen Namen mit dem des berühmten deutichen Philoſophen, den er 
al3 feinen Lehrer und Meijter zu bezeichnen nicht müde wird, ver: 
bunden zu jehen: ſchon zu Anfang des Jahres 1709 Hat er Leibnig, 
an den er zum eriten Mal am 28. September 1708 gefchrieben hatte, 
den Vorſchlag gemacht, die geplanten Vindiciae zu erweitern und die 
Arbeit fo zu theilen, daß Leibnig die Geſchichtedes Hauſes Eſte und der 
braunfchweigifchen Linie, er felbjt die des eſtenſiſchen Zweiges fchreiben 
fole; das Wert jolle dann unter beider Namen erjcheinen. Aud 
daraus wurde nicht, trogdem Wluratori immer wieder auf Ddiejen 
Vorſchlag zurüdlam ; Leibnig wid) aus: der Gedanke diefer gemeinfamen 
Unterfudung, der nicht feinem Kopf entiprungen war, mochte ihın 
nicht gefallen. Ihn zog ed jeßt, da er ſoeben die beiden legten Bände 
der Scriptores rerum Brunsvicensium vollendet hatte, übermädtig 
zu feinen Annalen; dort gedachte er die Geſchichte des Haufes Eite 
im YZufammenhang mit der des Haujes Braunfchweig zu behandeln. 
Schon hier liegt der Keim zu dem Stonflifte, der das Verhältnis 
der beiden der gleichen Aufgabe zugewandten Gelehrten jo empfindlich 
jtören follte. 

Mit den Gelehrten ijt es befanntlich ein eigen Ding; im Punkte 
des Ruhmes verjtehen fie feinen Spaß, und an der Größe und den 
Leitungen Anderer ich unbefangen zu erfreuen, wird ihnen zumeilen 
Schwerer ald anderen Sterbliden. Auch Leibnig, jo liebendwürdig er 
uns in diefen Briefen entgegentritt, war bier ſchwach. Wie fonnte er 
über die feindfelige Necenjion grollen, die der böfe Fontanini an 
jeinen legten Bänden der Scriptores in dem Venezianifchen Giornale 
de’ letterati d’Italia (Tom. XII. 1712 p. 388 sq.) verübt hatte: er, 





518 Literaturbericht. 


wiſſenſchaftlichen Charakter der beiden Gelehrten; während Mura⸗ 
tori ſich oft eigenſinnig auf ſeine nicht immer richtigen Anſichten 
verſteift, wird Leibnitz nicht müde, ihn mit neuen Argumenten zu 
überzeugen. 

Doch nicht dieſe ſtreitigen Punkte führten zu dem bedauerns⸗ 
werthen Konflikt. Immer wieder hatte Leibnitz die Publikation des 
Muratori'ſchen Werkes, deſſen Manuſkript bereits fertig geſtellt und 
ihm zur Begutachtung zugeſandt war, hinauszuſchieben gewußt, zuerſt 
aus dem Grunde, weil er dieſe Forſchungen als noch nicht ab» 
geſchloſſen erklärte, dann, weil ihre frühzeitige Publikation der eigenen, 
im Auftrage ſeines Fürſten unternommenen Arbeit das Beſte weg⸗ 
zunehmen drohte. Man verſteht Leibnitzens Bedenken, wie Muratori's 
ſteigendes Mißtrauen. Nicht zum erſten und nicht zum letzten Mal 
geſchah es, daß ein jüngerer Gelehrter ſich um die Früchte ſeiner 
eigenen Arbeit durch einen älteren und berühmteren Gelehrten bedroht 
glaubte. Unglücklicherweiſe fanden ſich Leute, welche dieſes natürliche 
Mißtrauen zu ſchüren wußten ; elende Klatfchereien und Verleumdungen 
der Engländer und der Modenejen in London führten endlid den 
Brud herbei. 

Man fennt die große Streitfrage um die Priorität der Erfindung 
der Integralrechnung zwifchen Newton und Leibnig. Ed war nicht 
nur eine Sache literarifcher Schulen, faft mehr noch ein Gegenitand 
nationaler Rivalität. Die Engländer ſchwuren auf ihren Newton und 
erflärten den Deutichen ſchlechthin für einen elenden PBlagiator. Der 
König Georg jelbit, in feinem Reiche unpopulär und umjomehr beitrebt, 
die Gunft feiner englifchen Unterthanen zu gewinnen, war feinem 
großen Hofhiltoriographen keineswegs günjtig gejinnt; er grollte ihm 
noch wegen ſeines Verjuches, in faiferliche Dienjte überzutreten. Der 
Hof urtheilte natürlid) wie der Herr, und die halbanglifirten Hannos 
veraner in London hatten es jehr eilig, in die engliſchen Schmähungen 
einzujtinmen. Der Graf v. Bothmer wie der Yaron d. Bernitorff, 
beide hannoverifche Minifter in London, fcheuten fi) nicht, bei dem 
modenejijchen Gejandten das Mißtrauen gegen Leibnig zu fchüren, 
und der modenefifche Gejandtichaftäfekretär, der Abt Giufeppe Riva, 
ſchrieb nun feinerjeit3 Brief über Brief an feinen gelehrten Freund 
nach Modena, in denen er ihn vor den arglijtigen Anſchlägen Leibnitzens 
warnte. Man bat in London offenbar Muratori gegen Leibnitz aus⸗ 
fpielen wollen; Newton jelbit bemühte jih, Muratori’8 Briefe an 
Niva in die Hände zu befommen, doch wohl um fie gegen feinen 





620 Literaturbericht. 


Politik erforderlich war, kann wohl bezweifelt werden, umſomehr da 
der Vf. vorzugsweiſe nach den ſchon mehrfach benutzten preußiſchen 
und franzöſiſchen Akten gearbeitet hat, während das Münchener 
Geheime Staatsarchiv ihm verſchloſſen geblieben iſt. Immerhin hat 
er noch manches Intereſſante gefunden, namentlich über die Beziehungen 
Baiernd zu Preußen und Rußland. Die baieriiche Regierung war 
damals, wo fie die begehrlihen Anſprüche des übermädtigen djter- 
reihifchen Bundesgenofjen noch mehr zu fürchten hatte als den fran« 
zöſiſchen Gegner, gern bereit, ſich der preußifchen Politik unterzuordnnen, 
ih von Preußen leiten und dafür befhügen zu laſſen. Da ihm diefer 
Schutz nit in der gewünſchten Weiſe gewährt wurde, iſt Baiern 
dann zunächſt in ein Schußverhältnis zu Rußland getreten. Der Bf. 
erläutert nicht nur die Politik der baieriichen Regierung, jondern zeigt 
au, welchen Widerſpruch fie bei den Ständen und bei der öffent: 
lihen Meinung in Bayern fand. Mit wachjender Energie ſprach ji 
das Land gegen dad Bündnis mit Oſterreich aus und forderte den 
Anſchluß an Frankreich, obgleich ed von den Franzoſen nicht weniger 
ausgebeutet wurde ald vorher von den Dfterreichern. 
Paul Goldschmidt. 


Das Deutihe Reich ein monardifcher Einheitsſtaat. Bon Albert 
v. Rupille. Berlin 1894. 294 ©. 

Nuville geht aus von dem Widerſpruch, der in dem Begriff eines 
Bundesſtaates liegt, und will diejen Begriff befeitigen. Entweder ijt 
ein fogenannter Bunbdesftaat ein Staat, d. h. die Enticheidung liegt 
bei der Negierung ded Geſammtſtaates. Oder er ijt ein Bund von 
Staaten, d. 5. im Fall des Zweifels liegt die Entjcheidung bei den 
einzelnen, und die gemeinjame Gewalt reiht nur fo weit, als die 
Verträge und der Wille der Einzelitaaten es geftatten. Abgeſehen 
davon, ob dieſe Kritif einwandfrei fei: gewinnt man wirkflid ein 
fruchtbarere8 Prinzip, wenn man mit R. ftatt Bundesitaat fagt Ein- 
heitsſtaat mit weitgehender Decentralifation? Nicht der Grad der 
Decentralijation unterfcheidet in eriter Linie den Einheititaat vom 
Bundesſtaat. Was und zunächſt veranlaßt, einen Staat nidht als 
Cinheitöftaat zu bezeichnen, ift die Form feiner Glieder. Wenn für 
die Theile nicht die Form von Provinzen, jondern die von Staaten 
überliefert oder gewählt ift, bejonderd wenn diefe Staaten Fürften« 
thümer und Königreihe find — jo widerftrebt es und, von einem 
Einheitöftaat zu ſprechen. Es ift das auch nicht bloß ein populäre 





622 Literaturbericht. 


einmal geltender Rechtsanſchauungen ift das nicht zu vereinen. Die 
Zeit von 1806 bis 1870 betrachtet er ferner rechtlich al8 Interregnum. 
„Das alte Deutiche Reich beitand, wie wir bewiejen haben, nod) 
immer zu Recht“ (S. 98). Das ift nicht beiwiejen, vielmehr ift der 
Bf. zu vecht künftlichen Auffafjungen gedrängt worden. Ebenſo er- 
geht es ihm bei den Vorgängen des Jahres 1870, welche den Nord 
deutfchen Bund zu den Deutichen Reich erweiterten und erhöhten. 
Er geräth hierbei auch mit feinem Grundjag in Widerjprud, daß man 
dad Weſen eines Staated in erjter Linie aus den Vorgängen, den 
Auffafiungen und Anfichten der Gründer des Staats feftitellen müſſe, 
nicht oder doch erjt in zweiter Linie aus der Verfaflung ſelbſt. So 
glaube ich jeine Anficht richtig zu verftehen, jedenfalld begebe ich mich 
danıit auf das Feld, auf dem er die Entſcheidung glaubt fuchen zu 
müjjen. Da iſt nun aber klar, daß weder König Ludwig von Baiern 
in feinen berühmten Zirkularſchreiben vom 4. Dezember 1870 von 
einem Einheitsſtaate jpricht, no daß Bismard und Delbrüd u. f. w. 
eine Erneuerung de3 alten Reichs oder gar — was R. doch fordern 
müßte — eine Anerkennung der Thatfache, daß das 1806 aufgelöite 
Reich noch beitehe, in's Werk zu ſetzen meinten. Wie künftlih und 
unhaltbar die Auffafjungen find, zu denen R. greift, mag der Satz 
©. 92 zeigen: „Einen Kurerzlanzler, dem diefe Pflicht (die Wahl zu 
leiten) obgelegen hätte, gab es nicht mehr, der König von Böhmen 
in der Perjon des Kaiſers von Djterreich batte im Prager Frieden 
auf jede Mitwirkung an der Neugejtaltung Deutſchlands Verzicht 
geleitet. So mußte dem Könige von Baiern als rechtmäßigem Nach— 
folger de3 Kurfürjten von Pfalzbaiern der erjte Rang unter den zu 
wählenden Fürjten eingeräumt werden.“ Baiern hat einfach als der 
anerfannt mädhtigite und deshalb al3 der geborene Worthalter der 
übrigen Fürſten die Aufforderung erlaffen. Die Bildung des Deutfchen 
Reichs ift 1870 unterjtüßt worden durch die Erinnerung an die lange 
gemeinfame Geſchichte, die unjer Volk in den Formen des heiligen 
römifhen Reichs durdjlebt hat, aber man hat 1870 weder daran 
gedacht, dad alte Reich zu erneuern, no hat man geglaubt, das 
thatſächlich noch beitehende wieder al3 folched anzuerkennen. — All⸗ 
zuſcharf macht fchartig, das iſt der Eindrud, mit dem ich die auf 
gründlichen Studien ruhende und durch Icharfe, wenn auch einjeitige 
Beleuchtung wichtiger Vorgänge fördernde Abhandlung aus der Hand 
lege. G. Kaufmann. 





524 Literaturbericht. 


und Akte der Diſtrikte, Sektionen und Klubs, ſowie den haupts 
ſtädtiſchen Journalismus bezieht. Drei weitere Bände ſtehen in 
Ausſicht. Band 3 und 4 follen ſich mit den „Monumenten, Sitten, 
Snititutionen‘, mit „Biographie und Memoiren“ beichäftigen. Band 5 
wird das allgemeine Regifter enthalten. Ergänzungen einer fo 
ungemein weitjchichtigen Sammlung und Heine Berichtigungen des 
Kommentard aufzufinden ift nicht ſchwer. Beiſpielshalber fei zu 
1, 68 Nr. 337 erwähnt, daß es ſich bei Vulpius nit um ein 
„Pſeudonym“, fondern um Goethe's Schwager handelt. An diejer 
Stelle wären aud K. E. Ölsner's „Bruchſtücke aud den Papieren 
eined Augenzeugen und unparteiiichen Beobachter der franzöfifchen 
Revolution“ (vgl. Deutſche Zeitfchrift für Geſchichtswiſſenſchaft 1890 
3, 100—127 und Uulard: La Societe des Jacobins 2, 100) zu 
erwähnen gemwejen. Wie gewinnreich andrerfeit3 der Kommentar des 
Herausgebers ijt, bemeifen u. a. 2, 497 und 512 die Notizen zur 
Biographie Röderer's und Maret’3, oder 2, 488 der Artifel über den 
Mercure de France. Die Arbeiten von Deſchiens, Hatin u. N. 
werden durch die von M. T., der ed aud) an Wiedergabe dharalte- 
riſtiſcher Holzſchnitte nicht fehlt, ganz in den Schatten geitellt. 
Alfred Stern. 


Recueil de documents relatifs & la Convocation des Etats 
generaux de 1789. Par Armand Brette. I. Paris, Imprimerie 
Nationale. MDCCCXCIV. CLIX, 534 ©. 


Als Theil der Collection de documents inedits sur l’histoire 
de France, die das Unterrichtäminijterium herausgeben läßt, wird 
eine Sammlung von Aftenitüden erjcheinen, welde ji auf die 
Berufung der Neihsitände von 1789 beziehen. Die äußere Anlage 
des 1. Bandes entſpricht ganz derjenigen de Recueil des actes du 
comite de salut public, publie par F. A. Aulard. Auch ijt der 
genannte ausgezeichnete Gelehrte mit der Beauffichtigung des Druckes 
der neuen Sammlung betraut. Ihr Bearbeiter, A. Brette, bat ji 
bereits durch Beiträge in der Beitihrift La Revolution Frangaise 
und in den Publikationen der Societe de l’Histoire de la Revolu- 
tivn francaise (le sermont du jeu de Paume) vortheilhaft befannt 
gemacht. Wie methodiſch und forgfältig er zu verfahren gedentt, 
erfieht man aus jeiner Einleitung. Sein Werk wird auf viel feiteren 
Grundlagen ruhen, als die in frage kommenden Bände der Archives 
parlementaires, die [don häufig angefochten worden find. Es wird 
die werthvollſte Vorbereitung einer vollitändigen Sammlung der 





626 Riteraturberidt. 


bat, doch immerhin dasjenige Land, welches als Hauptfundjtätte der 
Überrefte antifer Kunft anzufehen ift, zwar vom Norden nicht unberührt 
blieb, aber im Charakter feiner Kunſt der Antike am nädjiten ſteht; 
daß Dagegen Deutichland und die Niederlande, welche ihrerjeitö wieder 
ganz bedeutend von Stalien beeinflußt waren (Dürer, Rubens), immers 
bin die Eigenart der modernen Kunſt entfchiedener ansprägten. Diejen 
Unterſchied zwiſchen italienischer und deutſcher Kunjt fucht Wiehl in 
anſchaulich-phantaſievoller Weile und an treffenden Beifpielen darzu⸗ 
zulegen. Sein Bud) ift ausgeſprochener Maßen ebenfo jehr für den 
Künftler und SKunftfreund, wie für den Kunſthiſtoriker gejchrieben. 
Unfere Zeit ijt die Zeit der Mufeen und der Kunftblätterfammlungen. 
Das Mufeun aber entfernt den Kunſtgegenſtand aus der Umgebung, 
für die er urjprünglich gejchaffen war, beeinträdhtigt fo deflen Wir- 
fung. E83 gehört ein bedeutende Maß von Abjtraftiondvermügen 
dazu, um von dieſer falſchen Situation abzufehen; es gehört Phantafie 
und Empfindung dazu, um die urjprünglide Situation fid) zu ver- 
gegenwärtigen. Ähnlich verhäft ed fich mit den Sanımlungen der 
Kunjtblätter. Wie leicht wird unter diefen VBerhältniffen der Kunſt⸗ 
freund verleitet, den urfprünglicden Zwed der Kunſtwerke zu überjehen. 
Der Verfaſſer des vorliegenden Buches bejigt die Fähigkeiten, welche 
diefe Gefahr ausſchließen; er weiß jeine Leſer vertraut zu machen 
mit dem ganzen Zuftand, aus welchem die Kunſtwerke entiprangen, 
und der Umgebung, für melde jie beredynet waren. Er führt und 
ein in die mittelalterliche, deutihe Stadt mit ihren Thürmen und 
engen Straßen. Er zeigt uns die italienischen Verhältnifje, wo jtatt 
der bejcheidenen Bürgerwohnungen PBaläjte die Träger der Kunſt find, 
wo nicht die Kunſt für's Haus, jondern die Ausſchmückung des Äußern 
überwiegt, wo die Plajtit mehr monumentale Größe erzielt, während 
die deutjche in der Durchführung überlegen it. Er führt und vor 
dad Thor der deutichen Stadt, zeigt uns die Landſchaft mit ihren 
eigenen Weizen, gibt und eine lebendige Schilderung der anders⸗ 
gearteten italienischen Landjchaft und weiß im Zufammenhang damit 
die Unterjchiede deutfcher und italienischer Landjchaft3malerei ein- 
leuchtend darzulegen. Als fpezielle Beiſpiele zur Klarlegung feiner 
Auffaffung dienen dem Verfaſſer die Städte Regensburg und Verona, 
die Künſtler Fiefole und Fra Bartolommeo, Dürer's Kunft für's Haus, 
d. h. feine Holzjchnitte und Nupferitiche, Giovannı Bellini, Michels 
angelo, David Teniers und Adriaen Broumer, zum Schluß Peter 
Paul Rubens, in weldem das anziehende Bild eined Höhepunktes 





528 Riteraturbericht. 


Papftpalaftes zu Avignon und des Louvre in Paris begonnen waren, 
erblühte unter Karl IV., der ein Freund deutfcher Kunft war und 
deutfche Dichter, Maler, Bildhauer und Arditeften an feinen Hof 
308, die deutjche Kunſt hier mächtiger wie nur in irgend einem rein 
germanifhen Gaue. Der Raum verbietet ed mir, Einzelheiten zu 
berühren; nur den Gang der Unterfuhung des Bf. etwas näher dar» 
zulegen, fei mir geitattet. In umfidtiger und umfafjender Weiſe 
ſchildert N. die Vorausfegungen und Bedingungen, aus welchen das 
glänzende Kunftleben und Stunfttreiben der karoliniſchen Epoche ent⸗ 
fprang. Nach einem furzen Überblid über die äußere Gefchichte 
Böhmens während des 14. Jahrhunderts führt er die einzelnen 
Bevölferungselemente als Förderer der Kunjtthätigleit vor: die Mit— 
glieder des Königshaufes, die Bilchöfe des Landes, unter welchen 
einige zu den namhafteſten Perjönlichfeiten ihrer Zeit zählen, Die 
Welt: und Klojtergeiftlichkeit, den Adel und den Bürgeritand; ſodann 
legt er die jened Jahrhundert beherrſchenden Zunftfreundliden und 
funjtfeindlihen Strömungen und Ideen dar, wie da8 Aufblühen des 
Fronleichnamkultus, die Zunahme der Marien-Verehrung, die Ver- 
ehrung der Landespatrone, die wachſende Neigung zur Prachtentwick⸗ 
lung und NRepräfentation, die Errichtung der Univerfität u. dgl. m.; 
andrerjeit3 aber die fteigende Oppofition gegen die Reliquienverehrung 
und vor allem das Auffonmen de3 Huſitismus, der ja fchließlich die 
ſtolze Blüte brechen folltee Daß den fremdländiichen Einwirkungen 
beſonders jorgiam nachgegangen wird, ift nach dem oben Gejagten 
felbftveritändlich; aber hervorgehoben muß werden, daß der Bf. 
feineöiveg3 cinfeitig ijt, jondern dem Auf und Emporftreben des 
tihedhifchen Volkes durchaus gerecht wird und die nationalstichechifchen 
Künjtler und ihre Leiftungen gebührend in das Lidht ftellt. 

Dieſem allgemeineren Theil folgt die Schilderung des Bau⸗ 
betrieb und der Baudenkmäler. Die feitgeregelte Ordnung im Baus 
wejen, der Abſchluß der Verträge, die Baupolizei, die Beſchaffung 
der Materialien, die Organijation des Bauamtd und der Bauhütte, 
die wirthſchaftliche Stellung und Bezahlung der einzelnen Arbeiter» 
Hajfen und die Koſten des Bauwerks werden ausführlich beichrieben. 
Allerdings wird man die Empfindung nit zu unterdrüden vermögen, 
daß der Vf., der auch im übrigen eine etwas breite, fi in Wieder- 
holungen beivegende Darjtellungsweife nicht ganz bat überwinden 
fönnen, bier zu ausführlid) geworden iſt; in eine Geſchichte der 
bildenden Kunſt gehörten faum dieſe umjftändlichen und ermübdenden 





530 Riteraturberidht. 


und Idee“ Hat Kaulbach zu den führenden Geiftern nicht gehört, da 
er nur den bereitö in der Zeit liegenden Gedanken Ausdrud verlieh: 
Dagegen gewinnt da3 Bud; feine volle Beredtigung durd die liebevoll 
eingehende Urt, wie bier ein an Mühen und Arbeit, aber aud) an 
Erfolgen und an ftilem Glüd reiches Menſchenleben gefchildert wird. 
Durch eine ausgiebige und gejhmadvolle Vermwerthung des umfang 
reihen Briefnachlafied, durch die Einflehtung perfönlicher, auf Ernſt 
Förſter, Ludwig Speidel, Morig Carriere, Karl Stieler und Die 
Familie zurüdgehender Erinnerungen ift ed dem Vf., der fi in 
feinen Helden vollkommen eingelebt bat, ohne jedoch dieſem gegen 
über weder einen panegyriichen, noch einen kritiſchen Maßftab anzu= 
legen, durchaus gelungen, ein einheitliche8 Lebensbild, dem der Werth 
einer Selbitbiographie innewohnt, in gefälliger, leicht fließender Dar 
jtellung zu bieten. 

Wir durdjleben mit dem Meifter feine fchwere Jugendzeit, die 
er ald der Sohn eines fleinen Goldarbeiterd in Arolſen, dann in 
Mühlheim an der Ruhr verbradt, und können es ihm, den nad) 
des Vf. Ausſpruch „feine Spur romantiihen Weſens“ anbhaftete, 
wohl nachfühlen, wenn er in jpäterer Zeit, als er bereitö auf der 
Höhe jeines Ruhmes jtand, es bedauert, daß er nicht habe Bauer 
werden fünnen auf jener rothen Erde, deren jtählende Kraft er an 
ſich erprobt Hatte. Dann folgen die Jahre auf der Düfjeldorjer 
Akademie, wo er für den beiten und jelbitändigiten unter allen 
Schülern des Cornelius galt (S. 52 und 101 werden wichtige Aften= 
ftüde von Cornelius und dem Maler Kolbe zur Kenntnis der dortigen 
Kunjtzuftände mitgetheilt); 1826 die Ülberfiedlung nad Münden; 
endlich 1834 die fünjtleriihe That, die ihn mit einem Schlage über 
alle feine Genojjen emporhob und zur Berühmtheit machte: die Kom⸗ 
pofition der Hunnenjcdjladjt, deren Idee ihn, wie auf S. 287 nad): 
zulefen, vom Architekten Klenze eingegeben worden ift, und zwar 
in einer dem romantiſchen Gegenitande beſſer angepaßten maleriſchen 
Auffaſſung ald der monumentalen Geſtalt, die Naulbad) jelbit diejer 
Darftellung verlich. 

Sein zmweite® große® Werk: die Zeritörung Jeruſalems von 
1836, im folgenden Jahre der im Auftrage des Ntronprinzen Mar 
auögearbeitete Entwurf zu einem Cyklus weltgejchichtliher “Bilder, 
dann 1842 die Pläne für den Wandichmud des Treppenhaufes des 
Berliner Muſeums find bloße Anwendungen des in der Hunnen⸗ 
ſchlacht aufgeitellten, dem Zeitgeſchmack entiprechenden Princips, 





Notizen nnd Nadridten. 


Die Berren Verfaſſer erjuchen wir, Sonderabzüge ihrer in 
Seitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle 
berüdfichtigt wünfchen, uns freundlichft einzufenden. 

Die Redaktion. 


Allgemeines, 


In Meifina iſt das erfte Heft einer neuen Zeitichrift für alte Gefchichte 
erihienen: Rivista di storia antica e scienze affini, diretta dal 
Dr. Giac. Tropea, Messina, tipografia d’Amico 18%. Gie foll 
vierteljährlich in Heften von fünf Bogen erſcheinen; Preiß für Jahres⸗ 
abonnement 12 2., für die einzelne Nummer 4 8. Das 1. Heft enthält 
außer dem Programm einen Aufjag vom SHeraußgeber, ©. Tropea: 
l'’Etna e le sue eruzioni nelle principali fonti greche e romane, eine 
fiterarbiftoriihe Studie von G. E. Rizzo: Questioni Stesicoree, vita © 
scuola poetica, und einen verfaſſungsgeſchichtlichen Artikel von E. Cocchia: 
Del modo come il senato romano esercitava la funzione dell’ inter 
regno; daneben Miscellen, Recenjionen (u. a. von Beloch's Griechiſcher 
Beihhichte und von Ed. Meyer's Unterfuhungen zur Geſchichte der Sracchen), 
Zeitichriftenihau, Notizen zc. 


Die’Berlagsbuhhandlung von O. Regenhardt, Berlin, fordert zur Mite 
arbeiterihaft an einer Sammlung von Biographien hervorragender 
Männer auf bem Gebiet de8 Handels und ber Induftrie auf. 


In Marſeille (bei Domenc) ift die erfte Nummer einer neuen Zeit- 
fohrift für den Süden Frankreichs erjchienen, unter dem Titel: Revue de 
Provence. 

Bon einer neuen „©eographiihen LBertichrift”, herausgegeben von 
A. Hettner, iſt da8 1. Heft erichienen mit Artileln von U. Hettner, 





534 Notizen und Nachrichten. 


theater of positive ldw, — the sovereign is the commander of posi- 
tive law, and the government is the formulator and administrator of 
positive law). 


In einem Brogramm des Progymnaſiums in Malmedy (Ditern 1396, 
35 ©. 49) veröffentlicht 3. Baar: Studien über den geſchichtlichen Unter» 
richt an den höheren Lehranitalten ded Auslandes. Nähere Mittheilungen, 
die eine willlommene Überficht gewähren, werden über den Geſchichtsbetrieb 
iu Frankreich, Rußland und Nordamerika gemadt. Über Stalien und 
England, über die nur eine furze Notiz zum Schluß gegeben wird, jowie 
über unjere nordiichen Stammverwandten wäre eine ähnliche Überficht in 
einem „weiten Brogramm erwünjdt. 


Fr. Aly's Heiner Aufſatz „Über den Einbrucd des Materialismus in 
die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften“ (Preuß. Jahrbücher, Augujt 1895) jei hier 
erwähnt als ein Zeichen der gejunden Reaktion gegen die mechaniſch⸗-ato⸗ 
miftifche Betrachtungsweiſe, wie fie namentlich anf dem Gebiete der neueren 
Literaturgeſchichte leider ſtark um ſich gegriffen hat. 


Der als Nachfolger Seeley’3 an die Univerfität Cambridge für neuere 
Geſchichte berufene Lord Acton Hat eine Antrittövorlejung gehalten, an 
der in der englijhen Preſſe zum Theil jehr ſcharfe Kritik geübt worden ijt. 
Daß er al8 Muſter der Geſchichtſchreibung unferer Tage nebeneinander 
Kante, Mommfen und Treitichle Hinjtellt, wird allerdings auch einen deutichen 
Leſer etwas jeltfam anmuthen und läßt auf recht eflektiiche, vieljeitige 
Neigungen des neuen Professor regius ſchließen. 


Im Juniheft der Deutihen Rundſchau veröffentliht L. Stein einen 
Aufiag: Das Princip der Entwicklung in der Geiſtesgeſchichte; einleitende 
Gedanken zu einer (demnädjt zu veröffentlichenden) Geſchichte der Philoſophie 
im Zeitalter der Renaiſſance. Berjajjer faßt feine Grundanſchauung jelbjt 
in die Formel zufammen: Die immanent teleologiſche Entwidlung ift das 
tragende Princip der Geiitesgeichichte. 


Alte Geſchichte. 

über bie Ergebnifje der neueren Ausgrabungen in Ägypten orientirt 
ein Ejjai von E. Amelineau in der Revue des deux mondes vom 
15. Juli: Les fouilles r6centes en Egypte. ®Bgl. auch in der Gazette 
des beaux arts, Juli 1895: Correspondance d’Egypte; le nouveau 
tresor de Dahchour von Al. Bayet (mit Abbildungen) und einen Auf⸗ 
fa von G. Steindorff im Auguftdeft der Deutihen Rundſchau: Bier- 
zehn Jahre ägyptiiher Ausgrabungen (bei den Pyramiden von Memphis, 
im Faijum und EI Amarna.. 


Die Revue d’Assyriologie 3, 3 bringt den von J. Heuzay dem 
franzöfiihen Lnterrichtöminifterium erftatteten Bericht über bie legten 





5836 Notizen und Nachrichten. 


Aus den Etudes Religieuses März und Juni 1895 notiren wir einen 
Artikel von X. Durand: La semaine chez les peuples bibliques. 


In Mykene Hat man fürzlih mit neuen Ausgrabungen begonnen. 
Zehn Gräber find geöffnet, in denen man Bronzefchwerter, Schmudjachen 
u. ſ. mw. gefunden hat. 


In Delphi iſt neuerdings außer weniger bedeutendeu Skulpturen zc. 
aud ein großer Geſammtfund von 6700 mittelalterlidhen, meiſt griedhifchen, 
fietlifden und venezianifhen Münzen aus der Zeit vor 1400 n. Ehr. ent⸗ 
dedt worden. 


Bei den Ausgrabungen auf der Akropolis von Athen ijt eine Injchrift 
gefunden, die einen Theil der Rechnungen für da8 Standbild der 
Athene des Phidias enthält. Die AuffichtSbeamten, denen die Auss 
führung dieſes Werkes unterftellt war, befunden auf der Inſchrift, daß tie 
von den Schapmeijtern die Summe von 100 Talenten erhalten Haben, und 
fie geben an, was jie davon für den Anlauf von Gold und Elfenbein für 
die Statue verausgabt haben. Aus diejen Angaben ift zugleich der Martts 
preig des Goldes in jener Zeit (ca. 438 v. Chr.) zu erichließen. 


Im Jahrbuch des kaiſerl. deutihen Archäologiſchen Inſtituts 10, 2 
beginnt Ehr. Belger mit der Veröffentlihung von „Mykeniſchen Studien“ 
(1. Über die Burg und Gräber von Mykene, in Ergänzung zu feinem 
9. 3. 71, 363 erwähnten Programm). 


Der Schwerpunft des Budres von B. Sauer: Grundfragen der 
Homer-Kritif (Reipzig, Hirzel. 1895. 321 ©.) ruht in den tertkritiichen 
Abjchnitten, während gerade die Hiftoriihen Theile, die Behandlung des 
„hiſtoriſchen Kerns“ des Epos und einzelne jfahkritifhe Erörterungen in 
dem ſonſt treitlichen Buche leider recht verfehlt jind. (E83 mag daher genügen, 
wenn ich bier auf meine ausführlihde Beſprechung in den „Preußiſchen 
Jahrbüchern“ verweiſe. Erhardt. 


Über mykeniſche und homeriſche Kultur handelt ein Artikel von 
M. Hoernes in der Äſterr.Ungar. Revue 18, 1: Griechenlands ältejte 
Kulturftufen und ihre nordiſchen Beziehungen. Zur homeriſchen Archäologie 
notiren wir ferner einen Artikel aus der Ztichr. f. die öfterr. Gymnaſien 
46, 3: Der homeriſche Bogen, eine naturwifjenichaftliche Unterfudung von 
St. Kellner, und einen Artikel von W. Reichel in den Archäolog.⸗ 
Epigraph. Mitt. aus Literr.:Ungarn 18, 1: Die Orfotäyre im homerijchen 
Megaron. 

Aus den Ardäolog.-Epigraph. Mittheilungen 18, 1 notiren wir nod 
Überjichten über „Alterthümer aus Niederöjterreih”“ von %. Ladek und 
über die „Antilenjammlung im erzbiihöflihden Seminare zu Udine“ von 
J. Banko und B. Sticotti (Skulpturen und Inſchriften, endlich „Antike 
Injchriften aus Bulgarien” (meijt griehifch, 37 Nummern) von V. Dobrustn. 





688 Notizen und Nachrichten. 


ſowohl den römijhen Cäſarismus, als vielmehr die analoge Entwicklungs⸗ 
reihe bei den Griechen biß zur Monardie Alexander's des Großen und 
jeiner Nachfolger in’8 Auge faßt. — Aus Nr. 9 u. 10 berjelben Zeitichrift 
verweilen wir noch auf einen Artikel von &. Meyer: Ulte und neue 
Spraden in Kleinafien, in dem Verfaſſer über die verfchiedenartigen Sprach⸗ 
jtämme in Kleinafien, Ureinwohner, indogermanijche und ſemitiſche Stämmte, 
betanntli ein jehr ſchwieriges und verwideltes Thema, trefflich orientirt. 


Sn der Revue des Universit6s du Midi, die jeit kurzem als neue 
Eerie der Annales de la Facultt des lettres de Bordeaux erſcheint, 
veröffentliht &. Radet eine längere, fich vielfach mit dem in diejer Zeit: 
Ächrift Bd. 74 erjchienenen Aufſatz von Kaerſt berührende Abhandlung: Ta 
deification d’Alexandre (I, Nr. 2, Bordeaur 1895). 


In Sicilien find bei der altgriediihen Kolonie Megara Hyblaea und 
in ber Nähe von Syrakus bei Cajtelucio auf dem Berge Grimili größere 
präbtiftorifhe Funde aus der Steinzeit, an lepterem Orte in 
Verbindung mit einer Nefropole, gemadt worden. Aus Syrakus wird aud) 
von der Auffindung von Gräbern aus der frühgriediihen Zeit, dem 8. 
und 7. Jahrhundert v. Ehr., berichtet. 


Bein Anlegen einer neuen Straße in Rom ift man in der Nähe des 
Stolofjeums auf bauliche Rejte, Moſaik und Mauerwerk, geſtoßen, die von 
Ranciani als Fundamente der Titu3-Thermen, die man bisher am 
jüdmweitlihen Abhang des Esquilin annahnı, erklärt werden. Weitere Nach— 
grabungen feinen die Annahme zu bejtätigen. 


Wie jegt erjt nachträglich befannt wird, ijt bei den Ausgrabungen in 
Bosco reale ivgl. unjere Notiz 74, 343 und einen Beriht von A. Mau 
in den Mitth. des faijerl. deutſchen Archäol. Anjtituts, Röm. Abth. 9, 4) 
auh ein großer Silberihag, Prunkgefäße mit herrlichen TVarftellungen in 
Hochrelief, ähnlih wie beim Hildesheimer Silberfund, zum Vorſchein 
gekommen. Ter vom Bejiger des Grundjtüdes zunächſt verheimlidhte Fund 
iſt von Rothſchild in Paris für eine halbe Million erworben und den 
Sammlungen des Louvre ald Gejchenf überwiejen. 


Am Rheinischen Mujeum 50, 2 kritifirt ein Artikel von B. Krumb- 
holz: Zu den Ajiyriala des Ktejiad, die von uns 73, 160 erwähnte Ab— 
handlung von J. Maruuart. Es folgt ein Artifel von M. Ihm: Tie 
Epigramme ded Damaſus, in dem Berfafler eingehend diefe chriftlichen 
Stilübungen auf die Märtyrer behandelt. Wir erwähnen gleichzeitig, daß 
als erited Volumen der Anthologiae latinae supplementa jet aud eine 
Ausgabe der Epigranıme des Damajus von demjelben Verfaſſer erſchienen 
it: Damasi epigrammata. Accedunt Pseudodamasiana aliaque 
ad Damasiana illustranda idonea, recensuit M. Ihm. Leipzig, Teubner. 
1895. 145 S. Bu jedem Etüd jind umfängliche Adnotationes hinzugefügt: 





540 Notizen und Nachrichten. 


über da8 Anfapyıxov ygauuareiov, vgl. die Notiz S. 355). — M. Schanz: 
Sueton's Pratum (Rekonſtruktion dieſes Wertes in Abweihung von Neiffer- 
jheid; es handelte nah Schanz jyftematifh nur von Natur, Menih und 
Zeit, und ein zweites, von Reifferjcheid damit konfundirtes encyklopädiſches 
Wert „Roma“ ift ganz davon zu fcheiden). — Endlih A. Behr: ‚Der 
amphilochiſche Krieg und die Kerkyraeiihen Optimaten (neue Behandlung 
einer von Köhler im Hermes 26 veröffentlihten Inſchriſt). — Aus den 
Miscellen erwähnen wir außer der von Mommfen noch die von %. Blaß: 
Xorotiavoi — Xosotiavoi (erftered war als volläthümlidhe Umwandlung für 
Christianoi bis in's 4. Jahrhundert in Gebrauch) und Bemerkungen zur 
Tlok. AInv. des Nriftoteles ven B. Keil und V. G. Thompſon. 


Aus den Neuen Sahrbüchern für Philologie, 1895, H. 3, notiren wir 
Artifel von E.U. Wagner: Zu Diodor’3 drittem und eritem Buche (über 
die Quellen Diodor's, namentlich Agathardides); von C. Krauth die Forte 
jegung der Unterfuhungen über „Berjhollene Länder des Alterthums“ 
(die Dftgrenze Skythiens und die Bölferreihe im Oſten von Skythien nad 
Herodot); einen Heinen Artifel von DO. Bingel: Zur Geſchichte der griedhifchen 
Heilfunde (Herod. III, 131 über Demokedes) und endlih von A. Wilms: 
Die Beit des eriten Sklavenkrieges (Feititelung der Chronologie von 
144—132 v. CHr.; der Anfang des Strieges ift nicht vor 141 zu jegen). — 
Aus Heft 4 der Jahrbücher ijt nur ein Artikel von F. Suſemihl zu 
erwähnen: Die Lebenszeit des Andronikos von Rhodos (ca. 125—50 
v. Chr.; Angeinanderjegung mit dem Artilel von Gerike in der neuen Aus⸗ 
gabe von Pauly's Realencyflopädie). 


Die Revue des études greques 29 (8, 1) enthält Artikel von R. 
Darejte: Une pretendue loi de Solon {vgl. die Notiz ©. 163); von 
M. Holleaur: Sur une inscription de Thebes (ſchon von Lolling im 
Corp. inser. Graec. septentr. Wr. 2419 publizirt, jegt im Mujeum zu 
Theben; eine Lilte von Schenkungen zur Herjtellung der Stadt nad dem 
Zahre 316 von den durd Alexander d. Gr. erlittenen Schäden); von P. 
Zannery: JLinscription astronomique de Keskinto (auf Rhodos, 
publizirt von Hiller von Gaertringen unter den griechiſchen Inſelinſchriften): 
von G. Schlumberger: Poids de verre etalons monetaires d'origine 
byzantine; von Th. Reinacd: Inscriptions d’Amasie et d’autres lieux 
35 Nummern aus Slleinafien;; und endlih den Schluß der Abhandlung 
von P. Sirard: De l’expression des masques dans les drames 
d’Eschrvle. 


Sn der Revue archeol. 26, 3 ‚Mai, Juni 1895‘ behandelt 2. Dimier: 
La polychromie dans la sculpture antique im Gegenfaß zu den Übers 
treibungen von Gollignon. Wir notiren aus demjelben Heft noch Artikel 
von P. Tannery: Sur les subdivisions de l’'heure dans l'antiquite 


nd 


und von S. Reinach: Les déesses nues dans l’art oriental et dans 





642 Notizen und Nachrichten. 


An den Atti della R. Accad. delle scienze di Torino 30, 7 handelt 
€. $errero: Di un’ iscrizione di Aosta (Debication der incolae Salassi 
an Augujtus aus dem Jahre 23:22 v. Ehr.. 


Ein interefiante® Thema behandelt in interefianter Darftellung bie 
fleine Schrift von Ettore Ciccotti: Donne e politica negli ultimi anni 
della repubblica romana (Mailand, Selbitverlag; 48 S.). Nad einer all« 
gemeinen Einleitung, in der ein liberblid über die Stellung der Frauen in 
Rom in älterer Zeit gegeben wird, bejpricht Berf. die Entwidelung polis 
tiihen Einfluſſes bes weiblichen Geſchlechtes in ben lebten Zeiten der 
Nepublif und führt endli eine Reihe einzelner ;srauentypen aus dieſer 
Zeit vor (Wlodia, Calpurnia, Servilia, Scribonta, Borcia, Yulvia, Cleopatra, 
Ictavia, Livia). 


In der Beilage der Münchener Allg. Ztg. vom 2. Juli ijt eine 
Münchener Univerfitätsredte von U. v. Bechmann abgedrndt: Die 
Tendenzgefeßgebung des Kaiſers Auguſtus. Verf. leugnet den Nutzen diefer 
Wejepgebung, der Ehegejepe zc., zur Reformirung der gejellihaftlichen 
Schäden jener Zeit, unter offenbarem Hinblid auf die Gegenwart, jo daß 
der Vortrag jelbft den Charakter eines Tendenzvortrages erhält. 


Am Julihefte der Deutſchen Rundſchau findet jid ein Aufjag von F. 
Mar Müller: Die wahre Geihichte des Celſus, in dem die Bedeutung 
diefer Streitjchrift des Celſus über den Auyos aA, Irs, die wir nur aus der 
Gegenſchrift des Origines kennen, für das Verjtändnis der Anfünge des 
Chriſtenthums in feinen Berührungen mit der Philoſophie erörtert wird. 


Im Hiſtoriſchen Jahrbuch 16, 2 veröffentliht 3. Stiglmayr den 
Anfang einer Abhandlung: Der Neuplatoniter Proklus als Borlage des 
iogen. Tionyfius Nreopagita in ber Lehre vom Übel. Die angezogenen 
Stellen zeigen in der That die vollfommenfte Übereinftimmung des Dionyfius 
mit der Schrift des Proflus de malorum subsistentia. 


In Kairo Hat Dr. Karl Schmidt, der im Herbit v. 38. als Stipendiat 
nach Ägypten gegangen ift, aus der Bibliothek des Kloſters Achmim eine 
altchrijtlihe Schrift in koptiſcher Sprache entdedt, die ji al8 ein Dialog 
zwijchen Jeſus und den Jüngern über die fleifchlihe Auferitehung daritellt 
nah Schmidt wahrſcheinlich aus der eriten Hälfte des 2. Jahrhunderts 
n. Chr. jtammend: vgl. darüber die Sigungsberichte der Berl. Alad. der 
Wiſſenſch. Nr. 31). 

Auf die Abercius-Injchrift (vgl. unjere Notiz 73, 1625 kommt %. €. 
Gonybeare in einem Artikel in der Classical Review 9, 6 (Quli 1895) 
jurüd: Harnack on the inscription of Abercius. Er publizirt eine 
armenijche Überfepung der Inſchriſt und verhält fich den Zweiflern an dem 
hrijtlihen Charakter der Inſchrift gegenüber jehr rejervirt. — Wir notiren 
aus demjelben Heft der Classical Review einen Artikel von ®. Beterfon: 





544 Notizen und Nachrichten. 


eriten Jahrhunderten n. Chr. jtammender Skulpturen, bie auf ben Mithrag« 
dienſt Bezug haben, entdedt, dazu noch namentlih ein ſchöner Altar, deſſen 
vier Seitenflächen von plaſtiſchen Figuren bededt find, auf der Borberjeite drei, 
auf den andern Seiten je zwei. — In der Nähe des HeiligtHums find noch 
die Fundamente von zwei andern Gebäuden freigelegt, deren eines mit einer 
Statue der Nemeſis und mehreren Heinen Altären gleihfall3 ein Heiligthum 
geweſen zu jein fcheint. 


Bei Hohenheim in Rheinheſſen jind in dem dort freigelegten fränfifchen 
Gräberfelde eine Menge von Waffen und Schmudjtüden, jeltene Formen 
von Gewandſpangen 2c. gefunden. Audh ein bei Sprendlingen auf 
gebedtes, fräntifches Gräberfeld Hat reiche Ausbeute an Waffen, Schmuck⸗ 
jtüden und Geräthen ergeben. — Bei weiteren Ausgrabungen am römijchen 
Kaftell bei Kannſtadt find Brudjtüde einer jog. Jupiter-Säule und die 
Fundamente des Prätoriums gefunden. 


Die Ausgrabungen des römischen Standlager8 von Novaeſium jind 
jetzt abgeichlojjen ; die zahlreihen Fundſtücke find ins Rheinische Brovinzials 
muſeum nad Bonn gebradt. 


Bei Uttendorf in Iheröfterreich ijt ein großes Gräberfeld aus prä« 
biftorifcher Zeit gefunden, und zwar fand ſich einmal ein grüßerer Brands 
hügel, auf dem offenbar die Leihen verbrannt wurden, und daneben eine 
Reihe von Heineren Hügeln ohne Brandipuren, in denen dann die Aſche 
der VBerbrannten beigejeßt wurde. 


Eine Reihe von Fund- und Ausgrabnngsberichten bringt da8 Jahrbud) 
der Geſellſch. für lothringiſche Geſch. u. Alterthumskunde 6 :1894): L’enceinte 
prehistorique de Tinery von E. Baulus. — Excursion archeologique 
au Herapel von E. Huber (vgl. dazu die Anzeige- eines Sonderabdruds 
aus den Menıoires de la societe nationale des Antiquaires de France 53, 
1894: Antiquites du Mont Heraple von 8. Mar:®erly u. &. de la Noc). — 
Die ſog. Römerftraße in der Oberfürfterei St. Avold von A. Hinrichs. — 
Eine prähiftoriihe Wohnſtätte und eine römijhe trua von 9. vd. Hammer- 
ftein. — Wusgrabungen und Funde bei Saarburg i. L. von Wich⸗ 
mann. — Der römiſche Meilenjteinjbei Saarburg und Römiſcher Grabfund 
in Sablon (bei Meg) von J. B. Kenne. 


Bei Wieſen in Hannover iſt das VBorbandenjein eines großen 
Urnenfriedhofes aus vordrijtlicher, germanifcher Zeit feſtgeſtellt, der noch 
feiner ſyſtematiſchen Aufgrabung barrt. 

Bei Paſing in Bayern iſt ein after Reihengräberfriedhof aufgededt 
mit Waffen und Geräthen aus dem 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr. 

über Fouilles d'un cimetiere Belgo-Romain à Vesqueville prös 


Saint-Hubert beridtet G. Cumont in den Annules de la societ6 
d’archcol. de Bruxelles 9, 1. — Sn der Revue archeologique 26, 2 





546 Notizen und Nachrichten. 


Aus den Neuen Heidelberger Jahrbüchern 5, 1 notiren wir nod einen 
Artikel von 8. Zangemeifter: Zur germanifhen Mythologie (germantiche 
Götter auf römischen Infchriften) und einen populären Vortrag besjelben 
Verfaſſers, den er hier mit gelehrten Anmerkungen verfehen bat: Der ober⸗ 
germanijch-rhätiiche Limes. In demielben Heft findet fid) noch ein Nachtrag 
„Bu ben Heeren ber Bürgerfriege” von U, v. Domaszewski (vgl. die 
Notiz 74, 161) und ein Xrtilel von F. Oblenihlager: Der Name 
„Pal“ als Bezeichnung der römiſchen Brenzlinie (diefelbe Frage behandelt 
auch Zangemeiſter in dem eben erwähnten Bortrage; beide erflären ſich 
gegen den Zuſammenhang von Pfal in diefem Gebraud mit Pallifade und 
bringen da8 Wort vielmehr mit vallum, Wall, Erhöhung, zufammen). 


Sn der Btichr. des Hiltor. Vereins für Schwaben und Neuburg Bd. 21 
gibt 3. Schufter eine „Beichreibung der Römerjtraße von Augsburg nadı 
Türkheim und Wörishofen“. — Im Globus 67, 22 behandelt &. Banca= 
lari in ortiegung feiner hausgeſchichtlichen Studien: Thüringiſche 
Haustypen. 

Unter Notes and Documents tn der Engl. Hist. Review 39 (Juli 
1895) veröffentliht H. Anscombe einen Artilel: The paschal canon 
attributed to Anatolius of Laodicea (tft erſt 457 entworfen. Eben 
bort folgt eine Miscelle von $. 9. Round: Henry I at Burne (sc. 
Weitburne). 


Die Revue des Questions Histor. 115 (Juli 1895) enthält einen 
Auffag von P. Allard: Le clerg& chretien au milieu du IV sitcle 
(über die joziale und politiihe Stellung ber Biſchöfe und des Klerus übers 
haupt und über die Anfänge des Höfterlihen Lebens). Aus bderfelben Zeit 
fohrift notiren wir eine fkirhenredhtlihde Studie von U. d'April: Les 
eglises autonomes et autoc&phales (451—1885). 


Sn ben Etudes Religieuses, Juni und Juli 1895, veröffentlicht 
A. Lapdtre die Fortſetzung feiner Studien zur Geſchichte Papft 
Johann's VIIL und feiner Beziehungen zu Karl dem Kahlen: Etudes 
d’histoire pontificale. I. L’Eıinpire, l'Italie et le pouvoir temporel des 
papes au temps de Jean VII (la royaute sous Charles le Chauve 
und l’empire sous Charles le Chauve). IH. Gaule et Germanie. 


Sn der Revue des deux Mondes vom 1. Juli 1895 veröffentlicht 
E. M. de Vogüe einen Artikel: Le moyen-Age. Po£tes et philologues 
(über die Arbeiten von Gaſton Paris). 


Am neuen Heft der Quidde’fhen Zeitjchrift 12, 1 ift der Schluß der 
Abhandlung von ®. Sidel abgedrudt: Die Verträge ber Päpfte mit den 
Karolingern und das neue Kaiſerthum (vgl. die Notiz 74, 542). Berfafler 
behandelt hier namentlid die Erneuerung des Kaiſerthums durch Karl ben 
Großen und die Rüdwirkung diejer neuen Würde auf die Stellung des 





548 Notizen und Nachrichten. 


wortung diefer Frage gegen Michael. Endlih macht ebendort 8. Eubel 
eingehende kritifche Bemerkungen zum Provinciale in Zangl’8 „päpftlidhen 
FKanzleiordnungen”. 


Sn den Württemberg. Vierteljahrsheften 4, 1/2 veröffentlicht 8. Weller 
eine Miscelle: Zur Kriegägeihichte der Empörung des Königs Heinrich 
gegen Kaiſer Friedrich IL. 


Die Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederöſterreich 29, 1—4 
enthalten eine quellenfritiide Studie von K. Uhlirz: Die Continuatio 
Vindobonensis, ein Beitrag zur Quellentunde der Geſchichte Wiens (an 
da3 bis 1267 reichende, in Klofjterneuburg entftandene Annalenwert ſchließt 
fih eine wahrſcheinlich ebendort, jedenfalls nicht in Wien geichriebene, aus 
mehreren ungleihartigen Stüden bejtehende Fortſetzung). 


Die Analectes pour servir à l’histoire eccles. de la Belgique 25, 3 
enthalten die Fortſetzung der Documents relatifs & l’abbaye Norbertine 
de Heylissem von Reujens (Nr. 34—110, 1187—1238). 


In den Bulletins de la commission roy. d’histoire de Belgique 
5, 2 veröffentliht 9. Birenne: Note sur un manuscrit de l’abbaye de 
Saint-Pierre de Gand (aud) als Sonderabdrud audgegeben, Brüſſel 18%. 
49 ©. Genaue Beichreibung einer jetzt im fgl. Archiv zu Brüffel auf» 
bewahrten Handſchrift, die die Annales Blandinienses, einen werthvollen 
Liber traditionum vom 7. bis 12. Jahrhundert und vereinzelte, bis in’s 
14. Jahrhundert reihende Stüde enthält. Eine Anzahl von Bullen und 
andern Urkunden aus dem 9.—13. Jahrhundert werden im Tert und Ans 
Bang abgedrudt). 


Sn der Revue de l’orient latin 3, 1 veröffentlicht Yrau B. de Khi- 
tromwo: Pelerinage en Palestine de l’abbesse Euphrosine, princesse 
de Polotsk (1173; in franzöfifher Überjegung nad dem Schluß der 
ruffiihen Vita der heiligen Euphrofine). Ebendort publizirt 3. Dela⸗ 
ville le Roulr: Inventaire de piece de terre sainte de l’ordre de 
’Hopital und zwar zunädjt: Inventaire des chartes de Syrie (in 
373 Nummern von 1107—1287). 


Am Archivio storico per le province Napoletane 20,1 publizirt 
und kommentirt G. Guerrieri: Un diploma del primo Goffredo conte 
di Lecei (Schenfung3urftunde aus Dezember 1082). 


In den Studi Storici 4, 1 veröflentliht A. Erivellucci einen Beir 
trag zur Gejdichte der Anfänge des Franziskanerordens: La penitenza 
di frate Elia. 


Aus dem Bullettino dell’ istituto storico ital. Nr. 15 notiren wir 
eine Bublifation von A. Gaudenzi: Un secondo testo dell’ assedio 
d’Ancona di Buoncampagno Veröffentlichung des Terte® nad dem 





560 Notizen und Nachrichten. 


Bürtler, Baternofterer, Glajer, Maler, Bildhauer, Maurer, Steinmegen unb 
dergl. Dabei Hat U. fi nicht darauf beſchränkt, die Nachrichten über die 
genofjenfchaftlihe Organifation und die politiſche Stellung des Handwerks 
zu notiren, ſondern auch die über gewerbliche Erzeugnijfe und über einzelne 
Handwerker und Künftler erwähnt. Wan erfährt alfo 3. B. aud), wie die 
Wiener Bürger diefe und jene Kirhe mit den Erzeugnilien ded Wiener 
Kunſtfleißes auszufhmüden ſich beftrebten. Die Yublikation umfaßt 
128 Folioſeiten. Das dem Separatabdrud beigegebene Regijter bezieht 
fi) auf die ganze zweite Hälfte des 16. Bandes. G. v. Below. 


Karl Heldmann jtellt in jeiner fehr fleißigen und forgfältigen „Ge⸗ 
ihichte der Deutfhordensballei Hejjen nebit Beiträgen zur Gejchichte 
der ländlihen Rechtsverhältnifie in den Commenden Marburg und Sciffen- 
berg, I. Theil, bis 1360* (Sonderabdrud aus der Ztichr. des Vereins für 
Heſſiſche Geſchichte, N. F., Bd. 20; Kafjel 1894, 2. Döll; 191 S. nebft einer 
Unzahl Tabellen) zunädjt die Entftehung der Ballei, ihre Berfajlung, Er⸗ 
werbungen, Rechte (beſonders auc gegenüber den Landesherrihaften) und 
Zhätigfeit dar. Als den Höhepuntt der Ballei bezeichnet er, von der 
äußeren politiſchen wie von der innern Seite des eigentlihen Ordenslebens 
betrachtet, die Sahre 1280—90. ©. 86, Unm. 3, weijt er auf einen inter- 
ejjanten Beitrag zur Geſchichte des römiſchen Recht? in Deutjchland hin. 
— Weiter unterſucht Heldmann jpeciell die landwirthichaftliden Berhältnijie: 
Hörigkeit und Pacht, Gutspreiſe und Vertheilung des Grundbefiged. In dem 
Abſchnitt zur Geſchichte der Hörigkeit geht er auf die fuldiichen Traditionss 
bücher zurüd. Bei der Pacht unterjcheidet er als Hauptarten die einfache 
Padıt und die Landſiedelleihe. Die legtere ertlärt er ald „das gemeinjame 
Produkt von Grundhörigfeit und Prekarie, erwadien auf dem Boden der 
Rodungen“. Die Zeitformen find jämmtlid) bei ihr vertreten. Sehr be— 
ftimmt erflärt fi Heldmann in Übereinjtimmung mit dem Ref. (9. 3. 63, 308) 
gegen Lamprecht's Behauptung, day die Hojgerichte (und überhaupt die 
Hörigkeit) durch das Pachtweſen zerſetzt worden ſeien. „Nichts ijt irriger 
als das... . Das Gegentheil entſpricht der Wahrheit: mit den freien 
Pachten wurde den Hofdingen gerade eine auägebreitetere Wirkſamkeit zu⸗ 
gewiejen.“ Die jpecielle Darjtellung der landwirthſchaftlichen Berhältnifie 
ift au (unter dem Titel: „Beiträge zur Gejhichte der ländlihen Rechts⸗ 
verhältnijje in den Teutihordenscommenden Marburg und Schiffenberg“) 
al8 Marburger Dolktordijjertation von 1894 erichienen. G. v. Below. 


Für die Betrachtung der Entwidlung der Landeshoheit im nördlichen 
Deutichland, jpeziell der Staatsjteuern, ijt ein neuer Beitrag von Werth, den 
D. Mertlinghaus in einer Unterfuhung über die Bedeverfaſſung 
der Markt Brandenburg in den Forihungen zur Brandenburg. und 
Preuß. Geſchichte 8, S. 59 fi. darbietet. In zwei Abjchnitten wird der 
Berlauf bis zum 14. Jahrhundert geführt; ala der wichtigſte Moment tritt 





552 Notizen und Nachrichten. 


madjer legt darin jeine Gründe vor, aus denen die Ausſöhnung möglich 
fei, die ihm für feine Kreuzzugspläne unentbehrliche Borausfegung iſt. Die 
Datirung de3 nicht vollftändig und nicht ohne Fehler überlieferten Stüds 
ift Schwierig; die übrigen Stüde find aus der Mitte der dreißiger Jahres 
Doh hat der Berfafier ganz ähnliche Zdeen ſchon viel früher entwidelt- 
Da ber Berziht auf das Reich vortommt, möchte id es eher dem Sabre 
1334 zuweijen, ald den Jahren 1335—1336, wie die Herausgeber. S. 


Ebenda ©. 99 beginnt eine breit angelegte Biographie des bretoniichen 
Dichter? Jehan Meſchinot, die aus feinen Werken vor Allem die Satiren 
gegen Ludwig XI. behandeln wird. Sie jtammt aus der Feder von Arthur 
de la Borberie. 


Sin den Melanges d’arch6ologie et d’histoire 15, 103 veröffentlicht 
U. Coulon aus einer vatilanifchen Handidrift ein Fragment d’une 
chronique du regne de Louis XI. vermuthlich aus der Feder eines 
burgundiijhen Hofbeamten, in dem die genauen Schilderungen der 
Krönung in Reims und des Einzug3 in Paris den weitaus größten Raum 
einnehmen. 


Das Juliheft der Revue des questions historiques bringt einen 
Aufſatz: Premiere guerre entre le protectionnisme et le libre-&change 
von E. de la Ronciere, der die Bemühungen Frankreichs nad) dem 100 jährigen 
Kriege um Wiederbelebung des Handeld ſchildert. Hauptgegenſtand der 
ſehr lebendigen Tarftelung ijt der Kanıpf, den der feinen geraden und 
frummen Weg der Bolitif und des Krieges verſchmähende Ludwig XI. in 
nothwendig proteftioniftifcher Weife gegen den Widerjtand jeiner Kaufleute 
zur Bejeitigung des Zwiſchenhandels mit den Jtalienern und Nieder 
ländern führte. 


‘m Archivio storico Napoletano 20, 72 beginnt %. Cerajoli mit 
der Herausgabe vatitanifher Aktenjtüde für Die Beziehungen zwiſchen 
Urban V. und der Königin Johanna LI von Neapel. 


Ein Söldnerführer unter Karl VIL, Jean de la Rode, beilen Ber: 
fönfichteit innerhalb einer Gruppe gleichnamiger Herren erit feitgejtellt 
werden mußte, wird in Revue des questions historiques 58, 41 von 
Simon dargeftellt. Wegen feiner Tüchtigfeit hat ihn der König zum 
Senefhall von Poitou gemadt. Später, ala er dur jeinen Freund La 
Tremoille in Konjpirationen und den Würgerfrieg der jogen. feinen 
Praguerie Hineingerietd, wurde er abgejegt und entging wohl nur durch 
jeinen Tod (1440, jchärjerer Bejtrafung. 

Berliner annalijtijhde Aufzeihnungen, wahrideinlih aus 
dem Jahre 1434 jtammend und zumeiſt die Jahre 1369—1434 behandelnd, 
bat Wild. Meyer aufgefunden und veröffentlicht jie in den Nachrichten 
der Wöttinger Gejellihajt 1895, 3 mit jorgfältigem Kommentar. 


Notizen und Nachrichten. 653 


Eine Zufammenftellung der Oberlaujiger auf Univerjitäten 
während ſdes Mittclalter® und bis zum Sabre 1550 gibt H. Knothe im 
N.⸗Lauſitz. Mag. 71, 133. 


Zum Theil aus ungedrudten Materialien gibt 9. Witte unter dem 
Titel „Zur Geſchichte der Burgundertriege” in der Ziſchr. f. d. Geld. 
db. Oberrheing Bd. 10 eine ausführlide Abhandlung über die Ereignifie 
feit dem Sommer 1475 (nad) der Aufhebung der Neufier Belagerung) bis 
zu der entfchiedenen Offenfive Karl's gegen die Schweizer Eidgenoſſenſchaft. 


Bene Bücher: Nehme, Das Lübeder Oberjtadtbud. (Hannover, 
Helwing. M. 8) — Nirrnheim, Das Handlungsbuh Vickos von 
Helderjen. (Hamburg, Bob. M. 6.) — Zille, Die bäuerl. Wirthichafts- 
verfaffung des Vintſchgaues, vornehmlidy in der zweiten Hälfte des Mittel- 
alterd. (Insbruck, Wagner.) — vd. Ballinger, Das Berfahren gegen 
die landſchädlichen Leute in Süddeutichland. (Insbruck, Wagner.) — 
Joachimſohn, Die humaniſtiſche Geſchichtſchreibung in Deutſchland. 
J. Die Anfänge. Sigismund Meiſterlin. (Bonn, Hanſtein. M. 10.) — 
Ortvay, Geſch. der Stadt Preßburg. Deutſche Ausg. Bd. 1—3. (Preß⸗ 
burg, Stampfel. 1892/%.) — Vogelſtein u. Rieger, Geſch. der Juden 
in Rom. HD. (1420—1870). (Berlin, Mayer & Müller.) — Pollock 
and Maitland, The history of English law before the time of 
Edward I. 2 voll. (Canterbury, University Press.) — F. v. Löher, 
Das Kanarierbud. Geſch. u. Gefittung der Germanen auf den kanariſchen 
Inſeln. (Wünden, Schweiger. M. 8.) 


Reformation und Gegenreformation (1500 —1648). 


Mittheilungen über Beziehungen der FZugger zum Humanismus macht 
€. Fink in der Ztſchr. d. hift. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 21 (1894). Anton 
Fugger jtand mit Erasmus in freundfchaftlicher Verbindung (ein Brief von 
ihm an Erasmus von 1530 wird abgedrudt). Vorwiegend handelt der 
Aufſatz über etliche jchlefiihe Humanijten, deren fih Anton und fein Sohn 
Markus Fugger vielfah angenommen Haben, den Poeten Georg dv. Logau, 
Unton Baus und den Juriſten Nikolaus v. Neusner. 


D. Vogt referirt in der Zeitfchrift für Kirchengefchichte 16, 1 tiber drei 
Briefe Bugenhagen’s (von 1523 und 1524) an Spalatin, die 1891 in 
den Mitt. d. Inſtituts f. öſterr. Geſchichtsforſchung 12 von R. Thommen 
veröffentlicht worden find. 


Im Anzeiger für Schweizer Geſch. 1895, 2 weiſt W. Ochsli auf 
Grund der betreffenden Briefe nach, daß die jpätere Behauptung Tſchudi's, 
ber erite Drud jeiner Rhaetia 1537 fei gegen feinen ®illen von Gleveau 
veranlaßt worden, nicht wahrheitsgemäß geweſen ift. 


554 Notizen und Nachrichten. 


In den Nahrihten der Geſellſch. d. Wiflenih. zu Göttingen 1895, 1 
bejchreibt und beipriht W. Meyer eine in Böttingen befindlihde Nahichrift 
der Pojtile Melanchthon's von 1555/56 und vergleicht biejelbe mit 
Pezel’3 Drud. Die Göttinger Handichrift läßt einen ſehr guten Einblid in 
Melanchthon's Lehrthätigkeit thun und wäre, wie Meyer ausführt, befonders 
geeignet, als Grundlage für weitere Forſchung gedrudt zu werden. 


Intereflantes Material zur Geſchichte der Univerfität Frankfurt a/D. 
veröffentliht E. Friedlaender in den Forihungen zur Brandenb.-Preuß. 
Geſch. 8, 1, und zwar einmal 14 Erlafje des eriten Rektor Wimpina an 
die Studirenden (Anſchläge am jchwarzen Brett) von 1506 und fodann eine 
Verordnung vom 14. September 1542 über die Reform der Univerfität nad 
einer Bilitation dur kurfürſtliche Delegirte. 


Sn einem interefjanten Auffage behandelt K. Haebler in der Ztſchr. 
d. hilt. Ver. f. Schwaben und Neuburg 21 (1894) auf Grund bisher unbes 
fannter Urkunden die Frage, wie die Weljer in den Befig von Benezuela 
gelommen find, und namentlih die dort vorhergehende Regentichaft der 
Ehinger (1528—1530). Aus diejer Zeit werden eine Reihe von Aktenſtücken 
aus dem Britiih Mufeum und dem Dresdener Archiv abgedrudt. 


Die Augsburger Chronik des Clemens Sender, die kürzlih durch 
die Hiſtoriſche Kommijjion in Münden veröffentliht worden ift, wird durch 
W. Vogt in der Ztidhr. d. hiſt. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 21 aus 
führli bejprodhen und ihre Bedeutung für die Geſchicht Augsburgs in 
der Reformationszeit gewürdigt. 


Aus Enoch Widmann's Handichriftliher Chronik der Stadt Hof 
veröffentliht Chrijtian Meyer in der Beitichrift für Kirchengeſchichte 16, 1 
das Stüd, welches den Wiedertäufer Nikolaus Storch unb deſſen Anhänger 
betrifit. 


Die Nachrichten über die Schügengejellihaften und Schügenfeite Aug 8⸗ 
burgs im 15. und 16. Jahrhundert ftelt Radlfofer in einem Aufſatze 
in der Btichr. d. bift. Ver. f. Schwaben und Neuburg 21 zujammen. Am 
Schluſſe desjelben veröffentlicht er einige darauf bezügliche Urkunden und 
Nachrichten. 


Im Arc. f. Heil. Geſch. u. Alterthumsk. N. 5. 2, H.1 gibt &. Winde 
haus neue Beiträge zur Geichichte der Kirche und Schule in Friedberg, 
eine Ergänzung zu jeinem früheren Auffage und zugleich eine Berichtigung 
verjchiedener Behauptungen Grein's (vgl. H. 3. 73, 857). 

Die Nachrichten über die Familie des polnifhen NReformatord Joh. 
vd. Yasco vereinigt Céeſar Pascal in einem nocd nicht abgeſchloſſenen 
Aufjage des Bullet. du protestantisme francais (1895 9.5 u. 6). Er 
behandelt bisher Johann Andreas und den politiih vielfach thätigen 
Hieronymus Lasco. 





656 Notizen und Nachrichten. 


zu Thorn vom Jahre 1645 (vgl. die Notiz in H. 3. 74, 552). Die 
Erzählung ijt ausführlich und genau, aber e8 ſcheint fait, ald ob fie dur 
den unerguidlihen Verlauf des Geſprächs an Kraft und Tiefe etwas ein⸗ 
gebüßt habe. 


An der Altpreuß. Monatsſchrift Bd. 32 H. 3 u. 4 erhebt 8. Loh⸗ 
meyer in augführlicher, im allgemeinen recht anerfennender Beiprehung 
der von Breyjig herausgegebenen oftpreußijhen Ständeverband» 
lungen (vgl. H. 3. 74, 101) Einjprud gegen dejjen Auffaliung von dem 
abjoluten, antijtändiichen Charafter der älteren Ordensregierung. Sein 
weiterer Einwurf, daB Breyfig für Oftpreußen und für Deutichland über- 
haupt die principielle Bedeutung des jürjtlidejtändiihen Gegenjages für 
das 16. und beginnende 17. Jahrhundert übertreibe, daß man nicht ohne 
weiterd die deutjche Entwidlung mit der franzöfiichen vergleichen dürfe, 
berührt eine wichtige, allgemeinerer Behandlung werthe Trage. 


Neue Büder: Lavisse et Rambaud, Histoire generale. V. 
Les guerres de Religion. 1559—1648. (Paris, Colin; Leipzig, Brods 
baus. fr. 12) — Villari, Machiavelli. II. 2.ed. (Milano, Hoepli., — 
Bothein, Loyola. (Halle, Niemeyer. M. 15.) — Correspond. de 
Granvelle. XI. ‚Brüjiel, Hayez., — Wiebe, Zur Geſchichte der Preis 
revolution im 16. und 17. Jahrhundert. (Leipzig, Dunder & Humblot, 
M. 9.) — B. Loewe, Tie Organijation und Verwaltung der Wallen⸗ 
ftein’jhen Heere. (Freiburg u. Leipzig, Mohr. M. 2.) — Die böhm. 
Landtagsverhandlungen und Landtagsbeſchlüſſe. VIII 1592—1594. (Prag, 
Verlag d. kgl. böhmiſchen Landesausſchuſſes. — Archiv Cesky. XIL 
1503—1511. (Prag, Bursik & Kohout.; — Strud, Das Bündnis 
Wilhelm's von Weimar mit Gujtad Adolf. ‘Straljund, Regierungsbud: 
druderei.; — Knipſchar, Kurfürſt Rhilipp Chriſtoph von Trier und jeine 
Beziehungen zu Frankreich. (Marburg, Elwert) — R. Schmidt, Ein 
Kalviniſt als kaiſerl. Feldmarihal im Treibigjähr. Kriege (Holzappel). 
(Berlin, Fußinger. M. 3.) — Svenska riksrädets protokoll. VIL 
1637 —1639. (Stockholm, Norstedt.' 


1648—1789. 


Zn den Forſchungen zur brand. u. preuß. Geſch. 8, 1 ‚1895 tbeilt 
Hirſch adıt bieher unbelannte Briefe der Kurfürſtin Yuije Genriette) 
an den Cherpräfidenten Otto v. Schwerin mit und gibt im Anichluß daran 
eine Reihe tertlritiicher Bemerkungen zu den früher von Orlich veröffent» 
lichten Briefen der Nurfürjtin, dejjen Datirungsverſuche aud) vielfach bes 
richtigt werden. 


Einen ſehr Ichrreihen Beitrag zur Geſchichte der Provinzial- und Lokal⸗ 
verwaltung unter Crommell in der parlamentlofen Zeit von Sanuar 16565 





658 Notizen und Nachrichten. 


Sn den Mittheil. d. Inſtituts f. öjterreih. Geſchichtsforſch. 16, 3 vers 
öffentliht M. Lehmann, um feine Thefe von der Priorität der preußtichen 
Rüftungen gegenüber den öjterreihiichen im Sabre 1756 zu erhärten, mehrere 
Ültenftüde Wiener Provenienz. Wir notiren noch au8 den Forſch. zur 
brand. u. preuß. Geſch. 8, 1 zwei Heinere, gegen Lehmann fi richtende 
Aufjäge von DO. Herrmann und H. Prutz und aus den Mitth. aus der 
hiftor. Literatur 23, 3 eine eindringende, zufammenfaflende Beiprehung des 
ganzen Streited burh E. Berner, der fid) ebenfalls durch Lehmann nicht 
überzeugt fühlt. — Unter den wenigen Stimmen, welde ji für Lehmann 
erhoben Haben, befindet fi eine kurze Beſprechung von Onno Klopp, was 
freilich nicht Wunder nehmen kann. (Oſterreich. Literaturblatt 1895 4, 12.) 
Er triumphirt, daß Lehmann die Schlußfolgerungen, die er ſchon 1860 aus 
der Apologie de ma conduite politique gezogen, wieder aufnimmt; er 
gibt Lehmann in allem Recht, nur für einen Punkt ift er andrer Meinung: 
Friedrich's Verhalten gegenüber Sadjjen ſei nit „in dem Geiſt feines 
Jahrhunderts“ zu verftehen; ſchon Fleury habe den König einen mal- 
honn&te homme et un fourbe genannt, und aud) |päterhin babe es an 
ähnlichen Urtheilen von kompetenter Seite nicht gefehlt. 


Im Suli-Auguithefte der Revue histor. bringt R. Waddington den 
Schluß feined von uns ©. 376 dieſes Bandes notirten Aufjapes über bie 
Allianzen von 1756. Er nennt bier den Berjailler Vertrag ein Meifterftüd 
der öfterreihiihen Diplomatie, aber ein Unglüd für Frankreich. 

Den Antheil des Sekretär Weſtphalen an den Feldzügen des Herzogs 
Yerdinand von Braunſchweig unterjudt Hand Donalies in den Forid. 
3. brandenb.spreuß. Geſch. 8, 1 und gibt darin eine ſummariſche Daritellung 
der Feldzüge auf dem wejtlihen Schauplage des Giebenjährigen Krieges. 
Insbeſondere charatterifirt er die Verhältniſſe im deutſchen Hauptquartier 
und die eigenthümliche Stellung, die jih Wejtphalen, uriprünglich der Privat 
jefretär de3 Herzogs, dann thatſächlich fein Generalftabschef, zu verichaffen 
gewußt Hatte. In feinen ſachlichen Rejultaten und feinen Urtheilen berührt 
fih der Verfaſſer fait jtet8 mit Emil Daniels, der feine bereits früher 
notirtte Monographie über Herzog Ferdinand fortgejegt und nahezu 
vollendet hat. (Preuß. Sahrb. 79, 80.) Bor Tonalicd? hat Daniels die 
genauen Scladjtbefchreibungen und namentlih die Stärkeberechnungen 
voraus, an llberjichtlichteit jteht aber feine zu ausführliche Erzählung 
der fnappen Darſtellung von Donalies weit nad. — Neben dieſen Auf- 
fügen über den Siebenjährigen Krieg jei nody erwähnt Schmitt, Ulm und 
fein Militär 1757 (Würtemb. Bierteljahrsichr. für Landesgeſch. 4, 1). 

Im Juli-Auguſt-Heft der Revue historique findet fi die Einleitung 
zu einem größeren Werke Les Francais au Canada von R. de Kerallain; 
das Werk ſoll, nachdem einzelne Theile in der Revue historique abgedrudt 
fein werben, felbjtändig erſcheinen. Die Einleitung bietet einen Überblid 
über die bisherige Literatur zur Geſchichte Canadas im vorigen Jahrhundert. 





660 Notizen und Nachrichten. 


du cosmopolitisme litt6raire. (Paris, Hachette.) — Der zweite Schlefifche 
Krieg. Herausg. vom Großen Generalftabe. I. II. (Berlin, Mittler. M. 15 
u. M. 11.) — Scriptores rer. Silesiacarum XV. Das Kriegdgericht wegen 
der Fapitulation von Breslau 1758. (Breslau, Mar & Komp.) — De 
Larividöre, Catherine le Grand. (Paris, Le Sondier. Fr. 8.50.) — 
Rae, Life of Adam Smith. (London, Macmillan.) 


Nexuere Geſchichte feit 1789. 


Eine hübſche Studie ift der Aufjag von Kayfer Über Anardarjis 
Cloots, den „Spreder des Menſchengeſchlechts“, der in der etwas roſa⸗ 
farbigen Beleudtung des Verfaſſers mehr wie ein Opfer des franzöfifchen 
Chauvinismus, als feiner eigenen revolutionären Ausfchreitungen ericheint. 
(Preuß. Jahrb. März 1895.) 


In einer Reimann zum B5Ojährigen Doktorjubiläum gemwidmeten 
Heinen Schrift „Sranzöfifhe Staatsgefangene in fhlefifhen 
Heltungen“ (Breslau, Niſchkowsky, 1895) behandelt 3. Krebs, nad 
den Alten des Geh. Staatsarchivs und des Ardivs des Kriegäminifteriums 
in Berlin, jehr eingehend den Aufenthalt von Lafayerte, Zatour-Maubourg 
und Bureau de Puzy in Neiße und Glatz (1794). 


Die Wegnahme von Kunjtwerten, Handſchriften und Büchern: in Belgien 
und Stalien durd die Franzoſen jhildert Müntz in einer Reihe von 
Artikeln mit großer Unbefangenheit und Gründlichkeit. (Les annexions 
de collections d’art ou de biblioth&ques, principalement pendant la 
revolution frangaise in der Revue d’hist. dipl. 1895.) 


Vortrefilih ift ein Aufiag von A. Sorel über die legten Jahre des 
General Hode, deſſen Berhalten in der Vendée, Pläne gegen Irland, 
Wirkſamkeit am Rhein, Verhältnis zum Fructidor-Staatäftreih. Sorel nennt 
Hode le plus completement et le plus foncierement francais parmi 
tous les heros de la Revolution, im Gegenjag zu dem esprit tout 
romain et tout cesarien Bonaparte's, und weiſt nad), daß die außer: 
ordentlihe Volksthümlichkeit Hoce’3 in Frankreich auf der Hoffnung bes 
ruhte, dur ihn die drei Dinge zuſammen verwirklicht zu fehen, die ich 
gegenjeitig vernichtet haben: „die Freiheit, die Republik und die Rhein 
grenze“. Das Unfertige, Unbejtinmie in dem Charakter und den Zielen 
von Hohe wird von S. beſonders anjhaulich vergegenwärtigt. (Les vues 
de Hoche in der Revue de Paris, 15. Juli und 1. Augujt 1896.) 


Die dur den Streit Böhtlingk's und Obſer's neuerdings wieder bes 
lebte Frage nad) den Urhebern des Raftatter Gefandtenmordes bat 
9. Hüffer, unter Heranziehung einiges bisher unbekannten Materlal8 aus 
Wien, einer gründlichen und umſichtigen Prüfung unterzogen, indem er 
durch ſcharfe Unterjheidung zwiihen dem Attentat auf die Geſandſchafts⸗ 





562 Notizen und Nachrichten. 


Graf Gerard de Eontades hat unter dem Titel Emigres et Chouans 
(Baris, Didier, 1895) fünf theilweife früher im Correspondant erfchienene 
Abhandlungen vereinigt: 1. Die Geſchichte des Chevalier de Hauſſey (vgl. 
9. 3- 75,183). 2. Armand de Chatenubriand, ein Better des Dichters, der als 
Mitglied der „Agentur von Yerſey“ im Jahre 1809 gefangen und erjchofien 
wurde. 3. „Ein Ehouan in London“ (Collin de la Eonrie, Vertreter der 
bretonifden Armee). 4. Les gentilshommes pottes de l’armee !de 
Conde, die fogen. Akademie von Steinftadt im Breißgau. 5. Puisaye 
et d’Avaray, die Intriguen zur Verdrängung Avaray's aus dem BBer- 
trauen Zudwig’® XVII. wobei aud der Graf Artoiß eine Rolle jpielte. 
Ahnlichen Inhalts find die Erzählungen zur Geſchichte der 
Chouans von E. Daudet, welde gleichfalls die Agentur von Yerſey 
und deren erbitterten Kampf gegen Napoleon (von 1807 bis 1809 wurden 
außer Chateaubriand noh 25 Chouans hingerichtet), die romantijchen 
Schickſale des Chevalier de la HayesSaint-Hilaire (erichoffen 1806), und die 
Entdedung und Unterdrüdung einer royaliftiihen Verſchwörung zu Bor 
deaur (1804) behandeln. (Bgl. Revue de Paris, 1. Dez. 1894 und 1. Juli 
1895; Revue hist. 1895, Mai-Quni.) 


Die bisher vermißten Immediatſchreiben Napoleon's an Cau—⸗ 
laincourt während deſſen Gejandtihaft in Rußland haben fi, abfchrift- 
lich aber in zweifello® authentiicher @eftalt, in den Papieren von La 
Ferronays vorgefunden. Vandal, der jie in ber Revue bleue 
(Nr. 13—16) veröffentliht und ihre Bedeutung mit Recht jehr body an⸗ 
ihlägt, findet darin im Wefentlihen eine Bejtätigung der in feinem-großen 
Werke vorgetragenen Anſchauungen, namentlid auch iiber Napoleon's aufs 
richtige Abneigung gegen den Krieg von 1809. ıDie vom 2. Februar 1808 
bi8 zum 10. April 1809 reichenden Schreiben beleuchten neben den oriens 
taliihen Plänen der beiden Katjer in höchſt charakterijtiicher Weiſe die 
Smtervention Napoleon’8 in Spanien (31. März: je ne suis pour rien 
dans les affaires d’Erpagne) und bie Vorgeſchichte des Krieges mit Diter 
reich, das Napoleon dur eine Trennung in drei Theile oder durch Ent⸗ 
wafinung unſchädlich zu machen vorjchlägt. Übrigens find die Briefe mehr 
Inftruftionen darüber, wie die napoleoniiche Politif in Petersburg dargeftellt 
werden jollte, als wie jie wirklich war. 


Aus der Fortſetzung feiner Studien zur Geſchichte Napoleon’8 und 
Alexander's I.veröffentliht Bandal eine Unterfuhung über die Spionage 
Tihernyihemw’3 in Paris vor Ausbruh des Krieges "von 1812. 
(Revue%deß@Paris, 1. Januar 1895.) 


Nah den Tagebüchern eines Advokaten und Profeſſors an der Unis 
verfität Perpignan, Namens Zafume , fchildert der Abbe Torreilles die 
Bandlungen in den] Befinnungen ‚der flerilalen !und royaliftiigen Bars 
teien Frankreichs, namentlih in ‚ber Beurtheilung Napoleons, von 1800 
bis 1809. inter den zahlreichen bemerfenswerthen Notizen heben jwir 





564 Notizen und Nachrichten. 


Napoleon’3 Erichlaffung, jeinem zu jpäten Angriff am 16. wird wiederholt, 
die Dualität des preufiichen Heeres wird überſchätzt und das Verhältnis 
zwifhen Blüher und Wellington nicht richtig dargeitellt; in®befondere tft 
dem Verfaſſer da8 Verſprechen Wellington’s, zu Hüffe zu kommen, un« 
befannt, infolgedejjen ſich die Preußen erft definitiv zur Schlacht entjchlofien. 


Die von dem Generallieutenant Delort im Jahre 1820 nieder» 
geichriebene Relation über die Schlacht von Belle-Alliance betrifft Haupt: 
fählih die großen Kavalleriefämpfe, an denen er ald Kommandeur einer 
Divifion des Milhaud'ſchen Corps Theil nahm. Dem unzeitigen Berbraud) 
der Netterei, für den er ausſchließlich Ney verantwortlid) macht, bezeichnet 
er als eine Haupturfadye der Niederlage. (Revue hebdom., 10. Aug. 1895. 


Über „Die Einihiffung Napoleon's in Rochefort“ bringt 
die Nouvelle Kevue retrosp. Relationen von Augenzeugen, eines Beamten 
und eines Offizierd von ber Bemannung des „Epervier“, des Schiffs, auf 
dem Napoleon zum Belleropbon hinüberfuhr. (Juniheft.) 


In der Revue de Paris (15. April 1895) werden in franzöſiſcher 
Üiberfegung eine Anzahl Briefe des Papites Leo XIII. aus den Jahren 
1829,31 veröffentlicht, die der 20 jährige Student aus Rom an jeinen Vater 
und feinen Bruder jchrieb. Sie enthalten vornehmlid) Nachrichten über die 
Wahlen der Päpfte Pius’ VIII. und Gregor's XIV. und über die Rarteien, 
die fi im Konklave gegenüberftanden. 


Sn den Annales de l'Ecole libre des sciences politiques 10, 3 
beginnt F. Barojz eine Studie über die polnijhe Revolution von 
1830:31. Der vorliegende, bis Anfang 1831 reichende Abſchnitt jchildert 
die Vorbereitung der Revolution, die Unfähigkeit de Gouverneurs, des 
Sropfürften Konjtantin, der fie unjchwer in Keime eritiden konnte, Die 
Ausbreitung des Aufitandes und die Parteien, die fid unter den Polen 
bildeten. Der Diktator Ehlopidi wird geſchildert als ein der Revolution 
eigentlich durdaus abgeneigter Mann. Da er von der Injurgirung Lit— 
tauens und Rutheniens und als alter Napoleonijher Soldat von einer 
Volksbewaffnung nichts wiſſen wollte, jo bildete jich bald eine jtarfe Oppo⸗ 
jttionspartei gegen ihn. 

In den Fortgang jeiner Beröffentlihungen über Montalembert 
‚dgl. H. 3. ©. 379 dieſes Bandes) berichtet Lecanuet über defien Reife 
durch Deutfhland in den Jahren 1833 und 1834 und madıt aus 
Tagebüchern und Briefen an Lamennais intereiiante Wittheilungen über den 
Aufenthalt in Bonn (wo ihm A. W. v. Schlegel trop vain et trop francais 
erſchien), in Weſtfalen (la Bretagne germanique), Berlin bei Savigny, 
Radowig) u. ſ. w. Am längjten verweilte Montalembert in Münden im 
Verfehr mit Baader, Görres und Klemens Brentano. Tas Ergebnis jeiner 
Reife faßte er in dem Urtheile zujanınıen, daß certainement l’histoire 
telle quelle est enseignee et ecrite en France est bien au-dessous 





566 Notizen und Nachrichten. 


juhungen über die Anziehungskraft u. f. w., und bie Revue de Paris 
(15. Juni und 15. Juli): Notes de voyage en Belgique et en Hollande, 
Aufzeihnungen, die neben kritiſchen Betrachtungen über Gemälde und 
Bauten auch feine Bemerkungen über Kulturgefchichte und Charakter ber 
Belgier und Holländer enthalten. 


QZeue Bäder: [Kovalevsky, 1 dispacci degli ambasciatori 
Veneti alla ’corte di Francia durante la rivoluzione. I. (Torino, 
Bocca.) — Montegut, Le mar6chal Davout. :Paris, Hachette. 
fr. 3.50. — Gießener Studien. VII. Lohr, 1. Die ſchleswig-holſteiniſche 
Stage. 2. Der Kampf bei Edernförde. (Gießen, Rider: — Schweizer, 
Geſchichte der !ichweizerifchen Neutralität. III. (Schlußband.: yrauenfeld, 
Huber. M. 7.20. — 8. Bogel, Die driite franzöfiige Republik big 
179. Deutiche Verlagsanftalt, Stuttgart. M. 7.50. 


Bermifdtes. 


Die Hijtorifhe Kommijjion bei der fgl. bayer. Alademie 
der Wiſſenſchaften verjendet den Bericht über ihre 36. Plenarverfammlung 
in der Pfingitwode am 7. und 8. Juni 1895. 

Seit der letten Plenarverfammlung, Mai 1894, jind folgende Publi⸗ 
fationen durch die Kommiffion erfolgt: 

1. Allgemeine deutſche Biographie. Bd. 37, Lieferung 2 und 3. Bd. 38. 
Bd. 39, Lieferung 1. 2. 3. 

2. Chroniken der beutihen Städte. Bd. 23: Bd. 4 der Chroniken der 
Stadt Augsburg. 

3. Briefe und Ulten zur Gejchichte bed Dreipigjährigen Kriegs. Bd. 6. 

Die Hanjerecefie werden mit dem nädjten, dem 8., Band abichliepen, 
defien Trud demnädjt beginnt. 

Bon den Chroniken der deutihen Etädte ijt der 24. Band im Druck 
begriffen. Er wird Auszüge aus den Stadtbüchern von Soejt und die von 
dem Briejter Johann von Waſſenberch verfapte Chronik von Duisburg in 
den Jahren 1474— 1517 enthalten, beides von Ardivar Dr. Jlgen in Münjter 
bearbeitet, welcher auch eine Geſchichte ber Berfajlung von Soeſt hinzu—⸗ 
fügen wird. 

Die Jahrbücher des Deutihen Reichs unter Otto II. und Otto III. Hofit 
Dr. Uhlirz im Laufe des Jahres 1896 drudjertig zu jtellen. 

Bon der Geſchichte der Wiſſenſchaften in Deutſchland ijt die von 
Profeflor Landsberg übernommene Vollendung von Stinging’8 Geſchichte 
der Rechtswiſſenſchaft big zum Ende ded 18. Jahrhunderts vorgerüdt, und 
wird dieſe fertige Hälfte demnächſt veröffentlicht werben. 

Bon ben Reichstagsakten der älteren Serie find der 10. und 11. Band 
noch in Vorbereitung begriffen; von denen ber jüngeren Serie ijt der 2. im 
Drud begriffen. 





568 Notizen und Nachrichten. 


complectantur, additis et veterum testimoniis et eruditorum argumen- 
tis. (Löſungen für legtere Aufgabe lateiniſch, für eritere auch deutſch.) 


Preisausfchreiben der Societa storica lombarda in Mailand: Storia 
della ragioneria italiana nel medio evo e nell' eta moderna. Abs 
lieferungstermin 30. Juni 1896. Preis 1200 Lire. 


Am 3. Juni iſt in Sigmaringen ber verdiente Direktor des dortigen 
fürjtlihen Muſeums und der Bibliothek, Hofrat Dr. v. Lehner, im Alter 
von 70 Jahren gejtorben. 


Am 22. Juli ift in Berlin im faft vollendeten 82. Lebensjahr Rudolf 
v. Gneiſt geitorben (geb. zu Berlin 13. Auguft 1813), Wie als Polititer 
und Juriſt, jo Bat er auch als Hijtoriler die fruchtbarſte Wirkſamkeit ent» 
faltet; jein Ruhm als Meijter auf dem Gebiet der engliſchen Rechts- und 
Berjajiungsgefhichte ift in England wie in Deutichland gleidy anerkannt. 
(Nachruf von E. Loening in der Beilage zur Allgem. Zeitung vom 6. und 
T. Aug.‘ 

Über G. Hirſchfeld veröffentlicht die Altpreuß. Monatsſchrift 32, 3,4 
einen Nefrolog von 9. Prug und ein Berzeihnis jeiner Arbeiten von 
M. Lehnerdt. Nachträglid erwähnen wir auch noch den in ber Altpreuß. 
Monatsſchrift Bd. 31 erfhienenen eingehenden Nekrolog Lohmeyer's für 
Toeppen. — Ein umfangreiher Nekrolog für 8. Hartfelder findet 
fi in Burſian's Jahresberichten 23. 

Bon Arndt und Weiland gibt E. Dünmmler) Nekrologe im, Neuen 
Ardiv 20, 3 (unter Nachrichten). 

Einen Netrolog von John Robert Seelen veröfjentliht T.R. Tanner 
in der Engl. Histor. Review 39 (Juli 1895;. 


Das Auguftheft der Deutihen Rundidau enthält einen Artikel von 
U. dv. Miastomsti: Wilhelm Rojder. 


Eine Gedädhtnisrede, die G. Cohn in der fgl. Gejellich. der Wiſſen⸗ 
fhaften zu Göttingen auf ©. Hanjjen gehalten hat, ijt außer in den 
Nachrichten ber Bejellihaft auch als Sonberichrift herausgegeben (Leipzig, 
Dunder & Humblot. 24 ©). Wan kann nicht jagen, daB es eine eigentlich 
tiefgründige Darftellung von dem Wirken und der Bedeutung deö Mannes 
tft; eigenthümlich berührt das Hereinziehen politiich-agrariiher Fragen der 
Gegenwart in bie Rede. 


Un die 


geehrten Leſer der Hiſtoriſchen Beitfchrift! 


Es wird den Leſern unferer Heitichrift zur Befriedi- 
gung gereichen, zu erfahren, daß Heinrich v. Treitſchke 
fich bereit erflärt hat, die Leitung der Biftorifchen Zeit: 
ſchrift in Gemeinfhaft mit dem bisherigen Redakteur zu 
übernehmen. 


Redaktion und Berlagshandlung 


der 


„Hiſtariſchen Beitfchriff“.